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Das fremde Mädchen
Die Mutter kitzelte zärtlich Robin wach. Er streckte sich und staunte, dass er nicht wie gewohnt in seinem Bett, sondern auf dem Rücksitz des Autos lag. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und erinnerte sich: Sein Zuhause, das er kannte, gab es nicht mehr. Als Mutter und Sohn aus dem Wagen stiegen, blies ihnen ein eiskalter Wind entgegen. Sie gingen auf ein Haus zu. An einem der Fenster hing ein Kunststoffweihnachtsmann. Darunter standen Rentiere aus Drahtgeflecht. Plastiksterne verzierten der Weg bis vor die Tür, wo Tante Sophie auf sie wartete.
“Hallo kleine Schwester”, begrüßte sie Robins Mama und umarmte sie lange. Sie beugte sich anschließend zu Robin und drückte ihn liebevoll. Im ganzen Haus duftete es nach Zimt. Der Weihnachtsbaum stand schon festlich geschmückt, nur seine Spitze nicht. Sophie zeigte Robin sein zukünftiges Zimmer. Er schaute aus dem Fenster. Schneeflocken tanzten mit dem Wind. Seine Mutter trat ein.
“Ich muss wieder fahren. Du weißt, es gibt noch vieles zu erledigen.”
Das wusste Robin. Er begleitete sie traurig zum Wagen.
“Ich werde so schnell es geht zurückkommen”, versprach sie, bevor sie losfuhr.
Obwohl Mamas Auto schon lange nicht mehr zu sehen war, blieb er noch am Straßenrand stehen. Sophie kam und legte ihre Hand auf seine Schulter.
“Lass uns reingehen”, sagte sie sanft. Sie führte ihn durch die verschneite Landschaft, vorbei an den Sternenblumen, die jetzt leuchteten. Auch die Rentiere und ihre Schlitten strahlten mit bunten Lichtern, sogar die Leiter des Weihnachtsmannes.
Robin lag schlaflos im fremden Bett. Er dachte an sein Zuhause, dort wo das laute Piepen eines Feuermelders ihn geweckt hatte. Es roch so stark nach Verbranntem, dass es einem die Luft wegnahm. Mama brachte ihn schnell aus der Wohnung durch den qualmenden Flur nach draußen. Dabei rief sie laut: “Feuer!”
Frau Klein kam schreiend im Nachthemd dazu. Sie drückte ihren kleinen Hund an sich und stotterte beim hinauslaufen. “Oh Gott! Oh Gott!” Ihr Ehemann, ein sehr unfreundlicher Herr, überholte sie alle und rannte in Unterwäsche aus dem Haus. Gleich darauf holte eine liebe Bekannte Robin ab. Erst viel später kam seine Mutter. Weil ihr Zuhause jetzt unbewohnbar war, mussten sie zu Tante Sophie fahren.
Robin konnte immer noch nicht einschlafen. Er verspürte plötzlich großen Durst. Er schlich ganz leise zur Küche an Sophies Schlafzimmer vorbei. Im Wohnzimmer war der Weihnachtsbaum noch beleuchtet und davor stand ein fremdes Mädchen.
“Wer bist du?”, fragte Robin.
Sie schaute ihn erstaunt an und schrie:
“Du kannst mich sehen? Du kannst mich wirklich sehen?”
“Und auch hören, wenn du es genau wissen willst”, unterbrach er sie.
“Oh… Entschuldigung”, sagte sie viel leiser.
“Wer bist du?”, fragte er noch einmal.
Sie antwortete zögernd:
“Ich glaube, ich bin ein Engel.”
“Und wo sind deine Flügel? Ich sehe keine.”
Sofort zischte sie ihn an:
“Ich sagte auch, ich GLAUBE ein Engel zu sein!”
“Was machst du hier?”, wollte er wissen.
“Ich muss etwas erledigen und du wirst mir dabei helfen”, entschied sie.
Robin zweifelte einen Engel vor sich zu haben. Sie verhielt sich eher wie eine Zicke, aber das behielt er lieber für sich.
“Gut, ich helfe dir”, entschloss er sich.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war er überzeugt, alles nur geträumt zu haben. Tante Sophie war nett. Mama hatte am Abend angerufen, leider hatte sie noch keine Wohnung gefunden.
In der nächsten Nacht bekam Robin wieder großen Durst. Das fremde Mädchen erwartete ihn schon. Sie hielt zornig ihre Arme gekreuzt und tippelte ungeduldig mit den Zehen des rechten Fußes auf den Boden.
“Weiß du, was morgen ist?”, schnauzte sie ihn an.
Robin antwortete unsicher:
“Heiligabend?”
Sie legte ihre Hände auf die Hüfte und tippelte noch schneller mit ihrem Fuß.
“Und… Hast du was vergessen?”
Robin ahnte, was jetzt kam, sie würde gleich vor Wut platzen… Nein, sie war bestimmt kein Engel.
Plötzlich weinte sie:
“Du hattest es versprochen. Du wolltest mir helfen. Ohne dich schaffe ich es nicht!”
Tante Sophie kam herein und sagte auf dem Weg zur Küche:
“ Hattest du auch Durst? Ich habe wohl zu würzig gekocht.”
Das fremde Mädchen war verschwunden.
Am nächsten Tag wusste Robin, was er zu tun hatte. Mit Tante Sophies Erlaubnis ging er auf den Dachboden, so wie das fremde Mädchen es wünschte, oder besser gesagt, befohlen hatte! Es war ziemlich duster aber das Engelchen oder was es auch immer war, hatte an alles gedacht. Sie hatte ihm beim ersten Treffen alles genau erklärt und er musste es auswendig lernen, weil sie sicher gehen wollte, dass er nichts vergaß.
“Also, die Treppe hoch, nach rechts greifen, die Schnur ziehen und…”
Licht! So, wie sie es ihm beschrieben hatte. Was er dann entdeckte war aufregend. Ein Raum voller Geheimnisse. Eine alte Truhe fiel ihm auf. Doch in seinen Gedanken schallten die Wörter des angeblichen Engels: “Lass dich auf keinen Fall ablenken, du musst es finden!” Aber er musste zuerst diese Truhe öffnen, sicher war sie mit großen Schätzen gefüllt. Als er sich davor hinkniete, hörte er ein Geräusch über sich. Ein Rabe war auf der Dachluke gelandet und beobachtete ihn. Robin wandte sich wieder zur Truhe und wollte sie öffnen. Doch der Vogel fing an mit dem Schnabel auf die Scheibe zu klopfen.
Robin ahnte, wer dahinter steckte und rief:
“Ein Rabe als Engelsbote… wäre da nicht eher eine Taube angebracht?”
Der Vogel krächzte fürchterlich und flatterte wild mit seinen Flügeln.
“Ist ja schon gut!”, meckerte Robin.
Er entfernte sich widerwillig von der Truhe und das Federtier beruhigte sich wieder.
“Also, gerade aus bis zur alten Nähmaschine und dann Richtung Puppenhaus.” Von dort aus müsste er dann die Wandgemälde auf dem Boden entdecken. Er sah die Bilder, schob sie beiseite und fand es endlich: Ein verstaubtes Geschenk in der Größe eines Schuhkartons.
Tante Sophie rief:
“Deine Mutter ist am Telefon!”
Er freute sich und wollte schnell nach unten, doch der Rabe krächzte aufgeregt. Robin hätte fast das Geschenk vergessen. Er nahm es mit und der Vogel flog davon.
“Hallo Mama!”, sprach er in den Hörer.
Die Stimme seiner Mutter klang aufgeregt.
“Schatz, es hat geklappt! Wir haben eine neue Wohnung. Heute Abend bin ich da und werde dir alles genau erzählen.”
Als Mama kam, war es Zeit für die Bescherung. Robin gab Tante Sophie das geheimnisvolle Geschenk. Sie bedankte sich und öffnete es sorgfältig, ohne das Papier zu beschädigen. Sie brauchte ewig dafür. Robin wollte unbedingt wissen, was darin verborgen war, denn das Engelchen, wenn es überhaupt eines war, hatte es ihm nicht verraten wollen. Zuerst fand Sophie einen Brief. Sie las ihn und weinte plötzlich. Nicht mal Mama konnte sie beruhigen. Tante Sophie, in Tränen aufgelöst, reichte Mama den Brief und auch sie musste weinen.
Robin fühlte sich hintergangen. Das fremde Mädchen war gar kein Engel. Engel bringen keine Menschen zum Weinen. Er war wütend!
Tante Sophie fragte Robin:
“Kind! Wo hast du das her?”
“Vom Dachboden”, antwortete er mit furchtbar schlechtem Gewissen.
Sie umarmte ihn und schluchzte:
“Ich bin so glücklich!”
Robin verstand die Welt nicht mehr.
Tante Sophie nahm noch etwas aus dem Karton. Sie entfernte vorsichtig das Seidenpapier rundherum und zum Vorschein kam eine Engelsfigur. Tante Sophie stellte sie auf die Spitze des Tannenbaums.
Auch Robin durfte den Brief lesen:
Frohe Weihnachten Mama!
Es tut mir leid, dass die Tannenbaumspitze zerbrochen ist. Ich hoffe
einen guten Ersatz gebastelt zu haben.
Ich hab dich so lieb.
Deine Sarah.
Tante Sophie und Mama erklärten Robin, dass Sarah seine Kusine war. Sie starb leider vor sehr vielen Jahren. Sie erzählten viele Geschichten über Sarah, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Er wachte wieder durstig auf. Das fremde Mädchen wartete vor dem Tannenbaum. Es strahlte ihn glücklich an und sagte:
“Schau mal!”
Es drehte sich um und Robin sah ihre Flügel, echte Flügel!
Es flog um ihn herum und freute sich:
“Ich bin ein Engel! Ein richtiger Engel!”
“Ja, das bist du wirklich”, bestätigte Robin.
Er wollte ihm tausend Fragen stellen aber der Engel sagte nur:
“Dank deiner Hilfe bin ich fertig mit meiner Aufgabe. Ich muss jetzt gehen, huch… ich meinte fliegen!” und lachte.
“Warte! Wie ist dein Name?”... rief er ihm nach.
“ Sarah!” war die Antwort, bevor der Engel verschwand.
© Angelina de Satura