Das fremde Land
Henning stieg entschlossenen Schrittes aus der Maschine. Für diesen Tag hatte er sich seine beste Kleidung herausgesucht. Nicht nur die Fahrt über, die letzten Tage wurden ständig mit den gleichen Gedanken umkreist. Was würde ihm an diesem neuen Ort erwarten? Wie würde er an diesem Ort aufgenommen werden? Waren die Menschen hier freundlich zu ihm gesinnt? Vor allem letzteres hoffte Henning inständig, schließlich hing vieles nun davon ab und so mischte sich nun beim Heraussteigen neben der zuvor dominierenden Neugier nun auch eine beachtliche Portion an Zweifeln in seine Gefühlswelt. Henning gab sein Bestes, um diese Unsicherheit zu verbergen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sich so mit der Zeit immer mehr Schweißflecken ansammelten. Das weiße Hemd, das einzige was er besaß und was er gerade heute anhatte, tat sein Übriges. Am liebsten wäre Henning noch einmal schnell umgekehrt und hätte sein Hemd gewechselt. Er wollte unter keinen Umständen einen falschen Eindruck auf die Menschen erwecken, die ihm nun begegnen sollten. Während sich die gleichen Gedanken immer schneller um seinen Kopf kreisten, ging er geraden Schrittes hinein in die neue Welt.
Ohrenbetäubender Lärm, ein penetranter Geruch, tausende Farben, die um ihn rumschwirrten und dazwischen immer wieder diese Nebelschwaden, die Aufzogen und den genauen Blick verhinderten - Hennings Sinne explodierten scheinbar und schwammen zu einem einzigen festen Bild zusammen. Henning fand sich in einer Welt wieder, die ihm zutiefst surrealistisch vorkam. An diesem Ort schienen die gängigen Gesetze nicht zu funktionieren. Jegliche Normen, wie er sie aus seiner vorigen Welt kannte, hatten hier kein Gewicht mehr.
Und dann waren da noch die Menschen. Als Henning eintraf wurde er sofort von ihnen umzingelt. Waren es nur einige oder hunderte? Er konnte es nicht sagen. Henning konnte nicht mehr klar denken. Die Menschen, die ihm am nächsten standen kamen direkt auf ihn zu und streckten ihre Arme aus, als würden sie ihn anbetteln. Henning fuhr herum, versuchte sich irgendwie aus ihren Greifarmen zu lösen. Das hatte er sich hier sichtlich anders vorgestellt. In seiner Panik kam er ins straucheln. Panisch versuchte er um sich zu greifen und sich irgendwo festzuklammern. Doch er konnte nichts finden. Stattdessen trat er auf irgendeinen Fuß und konnte das nun Unvermeidliche nicht mehr abwenden. Henning fiel rückwärts gegen einen Tisch, den jemand dort aufgestellt hatte. Henning knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Für eine kurze Zeit war er bewusstlos. Erst als er wieder zu sich kam, sah er das Unheil, welches er angerichtet hatte. Mit ihm war nämlich auch der Tisch umgefallen und sämtliche Gegenstände, welche auf dem Tisch standen, waren auf ihn gestürzt. Da war diese große Schüssel mit irgendeiner undefinierbaren Flüssigkeit. Diese Flüssigkeit war vollständig auf Henning gekippt. Klitschnass versuchte sich Henning irgendwie zu orientieren. Die Menschen hatten sich wieder um Henning versammelt. Diesmal waren es alle. Sie vergewisserten sich, dass es ihm gut ging. Henning japste nach Luft, um zu zeigen, dass er diesen Sturz, abgesehen von einem großen Schrecken und einem ruinierten Hemd, unbeschadet überstanden hatte.
Doch das was dann kam, damit hätte Henning nie im Leben gerechnet. Fast schon erbost blickte er sich nun um. Denn die Leute, die ihn eben noch umzingelt haben, schwirrten jetzt wieder durch den Raum und brachen in schallendes Gelächter aus. Dieses lauthalse Lachen war nun überall zu hören und überragte dabei sogar den üblichen Lärm, welcher bis dahin diesen Ort erfüllte. Henning fühlte sich betrogen. Wie konnten diese Menschen, die er davor so nie gesehen hatte und die ihn anscheinend nicht gut kannten, so über ihn lustig machen? Henning war nun endgültig enttäuscht von diesem Ort. Allem Anschein nach durfte man an diesem neuen Ort nicht auf Gerechtigkeit hoffen. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass er gestürzt war. Er wurde förmlich von der Menschenmasse gegen den Tisch gepresst. Dennoch wurde er durch dieses Gelächter nun abgestraft. Henning konnte es nicht fassen. Er ging an den Menschen vorbei zu einer Stelle, wo er ungestört sich hinsetzen konnte. Hier versuchte er sich zu sammeln und beobachte das weitere Treiben der Einheimischen. Sie vollzogen irgendeine Art von Riten zu diesem schallenden Lärm, welchen man aber keineswegs als Musik oder Vergleichbares hätte kennzeichnen können. Henning konnte sich keinen Reim darauf machen, was hier vor sich ging. Er konnte keinerlei Struktur oder Logik in diesem wirren Netz feststellen.
Schließlich war es dann irgendwann vorbei. Als Henning müde im Bett lag, hielten in die Eindrücke von diesem Tag wach. Es war schon sehr spät, doch plötzlich vibrierte sein Handy. Es war Tina, eine Freundin, die er aus seiner Heimat kannte. Es machte ihn glücklich, dass er wieder auf etwas Altbekanntes stoß und brachte ihm zum lächeln. Dann öffnete er die Nachricht, darin stand: " Hey Henning. Vielen Dank, dass du zu meiner Geburtstagsfeier noch gekommen bist. Es hat mich sehr gefreut. Hoffe dir geht es nach deinem Sturz gut. Liebe Grüße Tina!" Noch während Henning das Handy in der Hand hielt, schlief er schließlich ein.