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Das Floß 2 (neue Version)
Der Staub hatte sich gelegt und Morin starrte ungläubig zum Ufer hinüber. Die beiden Männer, die ihn stützten, wagten nicht, etwas zu sagen.
„Bring mir mein Fernrohr, Helmer“, flüsterte der Floßmeister, „und einen Hocker.“
Sämtliche Passagiere und Mannschaften waren zur dem Ufer zugewandten Seite des Floßes geeilt und begafften die breite Schneise der Verwüstung, die der Steinschlag hinterlassen hatte. Helmer überreichte Morin das Glas und beobachtete Makula, die Anführerin der Preiskämpfer, die mit ansehen musste, wie die wenigen Überlebenden ihrer Truppe sich zusammen mit den Männern des Floßmeisters zwischen den Felsbrocken hindurch zum Ufer schleppten.
„Makula wird Ärger machen.“
„Und? Was kann die schwarze Schlampe schon ausrichten?“ zischte Morin, ohne das Fernrohr abzusetzen. „Ihre Leute haben freiwillig mitgemacht, oder? Waren scharf auf die Belohnung, diese Tiere.“
Er hielt Helmer das Glas hin. „Ich habe ganze fünf gezählt, die sich alle kaum auf den Beinen halten können.“
„Ja sicher, aber …“
„Aber was?“ unterbrach ihn Morin. Er fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf. Für den Schlag, den ihm der Hundling verpasst hatte, würde diese Missgeburt büßen. „Vergiss Makula. Du machst dich sofort auf den Weg zum Owan-ko und suchst Phagen auf. Erzähl ihm, was diese verfluchten Teufel uns angetan haben. Er liebte Voor wie einen Bruder und wird es kaum erwarten können, seinen Tod zu rächen.“
Helmer hatte da so seine Zweifel und gab zu bedenken, dass es nicht schaden könne, Phagen als zusätzlichen Anreiz einen Beutel Gold zu versprechen.
„Meinetwegen. Hauptsache, er bringt mir die Drei, damit ich ihnen die Köpfe abschneiden kann.“ Der Floßmeister sah Helmer in die Augen. „Würdest du mir verraten, warum du noch nicht in einem Boot sitzt und dich auf den Weg machst?“
Die drei Flüchtlinge hatten unter einem Felsvorsprung Schutz vor dem Regen gesucht. Seit ihrer Flucht waren zwei Tage vergangen.
Ab und zu sah Tom durch sein Glas.
„Und?“ wollte der Hundling wissen.
„Nichts. Zwei Schiffe haben am Ufer festgemacht. Kleine Dreimaster, ich kann niemanden an Bord sehen.“
Roona hatte sich in ihren Umhang gewickelt und blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel.
„Morin wird nicht aufgeben. Er wird seinen Bruder rächen wollen.“
„Ja.“ Tom öffnete seine Truhe und legte das Fernglas hinein. Sein Blick fiel auf den kleinen Lederbeutel, in dem sich eine Handvoll Asche der Untoten befand, die er nach jener denkwürdigen Nacht eingesammelt hatte. Für einen Moment meinte er den verblüffenden Duft wahrzunehmen, den die Kreaturen verströmt hatten, bevor sie verbrannt worden waren.
„Was tun wir also?“
Roona strich dem Hundling über den Kopf. „Angst?“
„Nicht im Geringsten. Aber meine Sippe ist immer noch auf dem Floß. Ich könnte mir vorstellen …“ Er beendete den Satz nicht, aber Tom und Roona konnten sich denken, was Tyras durch den Kopf ging.
„Wenn der Regen aufhört, gehen wir weiter. Bis zum nächsten Ort ist es nicht mehr weit“, sagte Tom. „Von dort aus bis zum nächsten Hafen ist es eine Tagesreise. Wir haben also genügend Zeit, uns etwas zu überlegen. Ich denke, es bleibt uns nichts anderes übrig, als Morin zuvorzukommen.“
„Ihn zu töten?“ Roona sah ins Leere.
„Ja.“
„Gut.“
Gegen Mittag hörte es auf zu regnen. Tom und Roona trugen die Truhe zwischen sich, und Tyras lief voraus. Der Weg verbreiterte sich und bald waren das Tal und der träge dahinfließende Strom nicht mehr zu sehen. Es ging stetig bergab, bis schließlich die ersten Häuser und Hütten zu sehen waren. An einer Pilgerherberge erstand Tom einen Esel und etwas Wegzehrung.
„Was ist eigentlich noch alles in dieser Kiste?“, wollte der Hundling wissen, als er Tom dabei half, die Truhe auf dem Rücken des Esels festzuzurren.
„Neugierige Hundlinge.“
„Verstehe.“
„Persönlicher Kram, Erinnerungen, alles Mögliche. Mein Vater hat sie angefertigt.“
Tyras strich mit seiner behaarten Hand über die Schnitzereien und eisernen Beschläge. „An meinen Vater kann ich mich nicht mehr erinnern. Er starb, als ich noch gesäugt wurde.“
„Das tut mir leid“, sagte Roona.
„Ach, was soll’s. Ist lange her. Los, lasst uns weitergehen. In einer Stunde geht die Sonne unter. Heute Nacht will ich in einem anständigen Bett schlafen, verdammt.“
Als Helmer die Hänge des Owan-ko vor sich aufragen sah, hätte er am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht. Phagens Versteck lag an einem Seitenarm des Stroms, unweit des verrotteten Sumpfgebietes, wo die Untoten vor einigen Jahren zum ersten Mal aufgetaucht waren.
Er machte sein Boot fest und sah hinüber zu den in den Felsen gegrabenen Treppenstufen, die zu Phagens Haus führten. Hoffentlich ist der verdammte Kerl zu Hause, dachte Helmer und begann den Aufstieg.
Über das schmutzige Gesicht der Alten, die auf sein Klopfen öffnete, glitt ein Lächeln.
„Sieh mal an. Der Kelmer.“
„Helmer, wenn’s recht ist. Ist dein Herr zu Hause?“
„Sicher. Komm rein. Warst ja lange nicht hier.“
„Helmer?“ Hinter der Alten erschien der Hausherr. „Ist gut, Mari, verschwinde jetzt.“
Die Alte schlurfte davon. Phagen musterte den Besucher, drehte sich wortlos um und öffnete eine Tür.
„Komm.“
Phagens Gegenwart hatte Helmer immer ein Unbehagen eingeflößt, das er nicht in Worte fassen konnte. Es war die Aura einer giftigen Wasserschlange, die den hageren Mann umgab. Eine gewisse Ausdünstung, die jeden, der ihm gegenüberstand, an Flucht denken ließ. Er schien niemals zu blinzeln, was sich allerdings nicht mit Sicherheit behaupten ließ, denn seinem Blick standzuhalten gelang den meisten nur für wenige Sekunden. Es hieß, er habe jahrelang in den Diensten des eisernen Mannes gestanden. Er war ein Meister des Tötens; seine Skrupellosigkeit und Grausamkeit wurden nur noch von seiner Gier nach Reichtum übertroffen.
„Ich nehme mal an, mein alter Freund Morin steckt hinter deinem Besuch. Schließ die Tür und setz dich.“
Helmer räusperte sich und schilderte Phagen, was geschehen war. Dass Morins Bruder Voor und vier weitere Männer von den drei Passagieren erschlagen worden waren. Er berichtete von der Felslawine, den vielen Toten und Morins Wut.
„Voor ist tot?“ Phagen grinste. „Er war ein Trottel, aber ich mochte ihn. Und jetzt will Morin die Köpfe der Drei. Er möchte sie schnell, und möglichst umsonst.“
„Nein, nein, beileibe nicht“, erwiderte Helmer. „Du wirst auf deine Kosten kommen, glaub mir. Und er will sie lebend.“
„Drei Ziele, drei Beutel Gold.“
„Sicher, sicher. Du kennst Morin.“
„Ja, ich kenne Morin. Nur zu gut. Richte ihm aus, wenn er vor hat, mich irgendwie übers Ohr zu hauen …“ Phagen brach ab und erhob sich. Die Aussicht auf das Gold stimmte ihn großzügig. Er bot Helmer einen Becher Wein an. Als dieser zögerte, lächelte Phagen.
„Keine Angst. Was hätte ich wohl davon, dich zu vergiften.“
Aus einer Ecke des Raumes war ein Geräusch zu hören. Helmers Augen wanderten zu einem Stuhl, auf dem ein mit einem Stück Stoff verhüllter Kasten lag. Phagen durchquerte das Zimmer und entfernte das Tuch.
„Weißt du, was das ist?“
Helmer trat näher. Er erkannte einen Käfig, in dem ein unscheinbarer Vogel hockte, der einen penetranten Geruch verströmte. Am Hinterkopf besaß er eine kahle, mit Stacheln besetzte Stelle.
„Keine Ahnung, ein Huhn?“
„Ein Rodakvogel, Idiot. Das Gift dieses einen Tieres reicht aus, um hunderte … Ach was soll’s. Trink aus und geh mir aus den Augen. Sag Morin, dass er das Gold bereit halten soll.“
Als Helmer die engen Treppen des Owan-ko hinter sich gelassen hatte und den vertrauten Geruch des Flusses wahrnahm, atmete er erleichtert auf. Er stieg in das Boot und warf einen letzten Blick hinauf zum Haus des Mörders. Dann senkte er die Riemen ins Wasser machte sich auf den Rückweg.
„Nichts“, sagte Tom, als er die fragenden Gesichter seiner Gefährten sah. „Ich kann es mir nicht erklären. Womöglich hat Morin beschlossen den Kanal an den Feldern zu nehmen. Immerhin hat er einen Tag verloren und versucht, ihn durch diese Abkürzung wettzumachen. Um diese Zeit führt der Kanal genügend Wasser.“
Seit einer Woche hatte sich Tom Tag für Tag zum Hafen aufgemacht, um nach dem Floß Ausschau zu halten. Sie hatten in einem Gasthof Quartier bezogen, dessen Besitzer ein Bruder des Hafenmeisters war. Dieser wiederum hatte Morin in keiner guten Erinnerung und war nur zu gern bereit, ihnen bei der Suche behilflich zu sein. Doch das Floß schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
„Vergiss das Unwetter vor vier Tagen nicht“, sagte Roona. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Schiff oder ein Floß vom Blitz getroffen worden ist.“
„Deine Hand“, bemerkte der Hundling. Hastig zog Roona den linken Ärmel ihrer Jacke herunter und steckte ihre Hand in die Hosentasche. Für einen Augenblich waren ihre elfenbeinfarbenen Fingerknochen zu sehen gewesen. Die Falten über ihrer Nasenwurzel wurden tiefer. Sie seufzte. „Danke, Tyras. Ich muss mir angewöhnen, wieder Handschuhe zu tragen.“
Die Sonne stand senkrecht über dem großen Platz, der um diese Zeit fast menschenleer war. Hin und wieder schwankte eine Sänfte vorbei, rollten vereinzelte Droschken über das holprige Kopfsteinpflaster und verschwanden in einer der Seitengassen. An einem halben Dutzend Marktständen boten Händler Getreide, Essig, Honig, Laternen, Messer und andere Waren an. Erst am späten Nachmittag, wenn der Platz im Schatten lag, würde er sich in einen Ameisenhaufen verwandeln.
Tom, Roona und der Hundling waren die einzigen, die an den wuchtigen Holztischen vor dem Gasthof Platz genommen hatten. Der Wirt hatte mehrere Streifen Segeltuch über die Tische gespannt, die er in regelmäßigen Abständen mit Wasser übergießen ließ, so dass es sich aushalten ließ.
„Seht ihr den dürren Kerl dort?“ sagte Tyras. „In dem Torbogen?“
„Und?“
„Seit einer halben Stunde steht er da und beobachtet uns. Seht ihr? Er macht sich nicht mal die Mühe, wegzusehen. Sieht aus wie frisch vom Galgen geschnitten.“
„Das bildest du dir ein“, sagte Roona. „Du leidest allmählich an Verfolgungswahn, mein Lieber.“
Ein kleiner Trupp Totenfänger, der drei gefesselte Kreaturen mit sich führte, überquerte den Platz. Den Toten hatte man Stofffetzen um Schädel und Hände gewickelt. Wieder fiel Tom die Behutsamkeit auf, mit der die Fänger die bedauernswerten Wesen, die wie Betrunkene vorwärts wankten, behandelten. Er blickte Roona kurz an, doch sie zeigte keine Regung. Die Ketten klirrten leise. Einige der Menschen vor den Ständen bekreuzigten sich. Als der Trupp verschwunden war, blieb ein schwacher Duft nach Rosen zurück.
Tom war aufgefallen, dass der Hagere, auf den der Hundling aufmerksam geworden war, keinen Blick für die seltsame Prozession übrig gehabt hatte, sondern ohne Unterlass zu ihnen her sah. Für einen Moment wurde seine Aufmerksamkeit jedoch durch zwei betrunkene Frauen abgelenkt, die kreischend aufeinander einschlugen; als er wieder zu dem Torbogen sah, war der Mann verschwunden. Eine halbe Stunde später hatte er ihn vergessen.
Gegen Mitternacht, als Tom und Roona sich in ihren Zimmern zur Ruhe begeben hatten, verließ Tyras den Gasthof und begab sich zu der Stelle, an welcher der Unbekannte gestanden hatte. Ein Großteil der Feuerkörbe und Fackeln war erloschen, und der Platz lag, vom spärlichen Schein der Sterne abgesehen, in völliger Finsternis da. Der Hundling, dessen Geruchssinn dem eines Jagdhundes in Nichts nachstand, hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Im Laufe des Tages waren nicht wenige Menschen hier vorbei gelaufen, doch nur einer hatte längere Zeit an dieser Stelle ausgeharrt und sein Instinkt ließ ihn nicht eine Sekunde zögern. Er folgte der Spur bis zu einer Seitengasse, in der etliche Droschken und Leiterwagen abgestellt waren.
Vor einem kleinen, einstöckigen Haus endete die Fährte. Aus dem gegenüberliegenden Gebäude waren die fröhlichen Geräusche einer Festgesellschaft zu hören. Einige Fenster waren dort hell erleuchtet und der Hundling verbarg sich im Schatten einer Kutsche.
Nach und nach erloschen die Lichter und es wurde ruhig. Tyras huschte hinüber und versuchte, durch die Ritzen der Fensterläden zu schauen. Zu sehen war nichts, doch er glaubte Stimmen zu hören.
Eine Frau und ein Mann.
Fest presste er sein Ohr an das morsche Holz.
„Was wären wir nur ohne dich.“ Roona sah Tyras lächelnd an, worauf dieser sich zufrieden zurücklehnte. Draußen auf dem Korridor waren die Schritte des Wirts zu hören, der zu dieser Jahreszeit den Kamin im Schankraum bereits vor Sonnenaufgang befeuerte.
„Nicht wahr, Tom?“
„So ist es, in der Tat. Und du bist sicher, du hast dich nicht verhört?“
Der Hundling fasste an sein rechtes Ohr.
„Siehst du das? Damit höre ich sogar …“
„Schon gut.“ Tom sah aus dem Fenster auf den Marktplatz, wo man in Kürze damit beginnen würde, die ersten Stände aufzubauen. Kutschen ratterten über das Kopfsteinpflaster. „Was tun wir also? Bleiben wir und versuchen, diesem Phagen zuvorzukommen oder machen wir uns auf die Suche nach Morin? Es spricht doch einiges dafür, dass der Mordauftrag hinfällig wird, wenn der Floßmeister…“
Die Tür flog auf und zwei Gestalten betraten das Zimmer.
„Es empfiehlt sich immer, Türen abzuschließen, Herrschaften. Um diese Zeit treibt sich so manch einer mit bösen Absichten herum.“ Die Stimme des hageren Mannes klang, als habe sich in seiner Kehle eine Anzahl Würmer festgesetzt, und er lange Zeit versäumt, sich zu räuspern. Die Frau an seiner Seite kicherte. Sie schien ihre besten Jahre lange hinter sich zu haben, war fett und heruntergekommen; doch die schwere Armbrust, welche sie in den Händen hielt, zitterte genau so wenig wie die des Mannes.
Roonas Augen wanderten zum Bett, auf dem ihre Waffen lagen. Tyras knurrte, sein Nackenfell sträubte sich.
„Ich habe schon gehört – ihr seid schnell. Aber ich empfehle euch dringend, jede Bewegung für’s Erste zu vermeiden. Ihr fragt euch jetzt bestimmt, warum wir euch zu so früher Stunde aufsuchen.“ Wieder gluckste die Alte auf eine Weise, die Tom vermuten ließ, sie sei schwachsinnig.
„Ich frage mich“, sagte der Hundling, „wie du zu solch einer bezaubernden und anmutigen Gefährtin gekommen bist.“
Das Gesicht der Frau zeigte keine Regung, als sie den Abzug ihrer Waffe betätigte. Ein kurzes Sirren war zu hören. Der Bolzen durchdrang Tyras‘ rechte Schulter dicht unterhalb des Schlüsselbeins. Er starrte verblüfft auf die struppigen Federn, und noch bevor der Schmerz einsetzte, hatte die Alte ihre Armbrust wieder gespannt.
„Ja ja, so ist meine Mari. Ein Kompliment weiß sie zu würdigen.“
Tyras atmete heftig. Speichel tropfte aus seinem Maul, aber er gab keinen Ton von sich. Voller Wut sah er Mari an. Dann schlossen sich seine Augen und er verlor für Sekunden das Bewusstsein.
„Du“, sagte der Mann und zeigte auf Tom. „Hilf ihm hoch, und“, fügte er hinzu, als er sah, dass Tom Anstalten machte, den Bolzen herauszuziehen, „lass das Ding gefälligst stecken.“
Nachdem er ihnen die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte, befahl er den Dreien, voraus zu gehen. Im Schankraum lagen der Wirt und eine seiner Töchter mit durchschnittenen Kehlen. Phagen würdigte sie keines Blickes.
Vor dem Gasthof wartete eine von großen Mauleseln gezogene Kutsche auf die Gefangenen. Der Mann auf dem Kutschbock beugte sich hinunter und flüsterte Phagen etwas zu, worauf dieser ihm ins Gesicht schlug.
„Gierig bin ich selbst, du Wicht“, sagte Phagen und lachte. „Fahr schon los.“
Sie ließen die Stadt hinter sich; gegen Mittag erreichten sie die hoch gelegenen Weideflächen des Nomos, eines Ausläufers der roten Berge. Unter ihnen erstreckte sich bis zum Horizont das große Wird-Delta, auf dem Tom und Roona eine Woche unterwegs gewesen waren, bevor sie Morins Floß betreten hatten. Das filigrane Muster aus Flüssen, Kanälen, Bächen und Strömen glänzte in der Sonne. Auf einem der winzigen Punkte, die dort unten treiben, wartet vielleicht Morin auf uns, dachte Tom.
Er hatte versucht, Phagen in den letzten Stunden einige Worte zu entlocken, doch der Mann hatte auf seine Fragen nicht reagiert und ihn nur angesehen. Einmal hatte er sich vorgebeugt und Roonas Ärmel hochgezogen. Beim Anblick ihrer mit blauen Stoffstreifen umwundenen Knochen wanderten seine Augenbrauen nach oben. Er nickte unmerklich und ließ seine Finger langsam über das Tuch und schließlich in den Spalt zwischen Elle und Speiche wandern.
„Schade um das schöne Kind“, flüsterte er und sah seine Begleiterin an. Mari verdrehte die Augen und fasste ihre Armbrust fester.
Die vier Maulesel brauchten eine Pause; Phagen befahl dem Kutscher, im Schatten eines Baumes zu halten. Das Gelände senkte sich an dieser Stelle etwas ab bis zu einem steilen, felsigen Abhang, der nur einen Steinwurf von der Straße entfernt lag. Hier, den Abgrund im Rücken, mussten die Gefangenen sich, von der aufmerksamen Alten bewacht, dicht nebeneinander auf den Boden setzen. Mari schien Selbstgespräche zu führen. Hin und wieder nickte sie, kicherte und summte vor sich hin, jedoch ohne die drei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Phagen und der Kutscher standen etwas abseits und waren in ein Gespräch vertieft.
Toms Gedanken wanderten zu seiner Truhe, Roona dachte an ihren Vater, der ihre Rückkehr erwartete, und der Hundling brütete über der Art und Weise, wie er sich bei der alten Vettel für ihren Schuss angemessen würde bedanken können. Seine Schmerzen hatten, obwohl der Bolzen noch in seiner Schulter steckte, etwas nachgelassen. Ununterbrochen hatten seine Krallen während der Fahrt an dem Strick, mit dem seine Handgelenke zusammengebunden waren, geschabt.
Sein Herz schlug schneller, als er spürte, dass sich die Fesseln lösten.
„Was glaubst du, wer du bist? Was meinst du mit ‚angemessener Bezahlung‘, du Stück Dreck? Etwa für deine erbärmliche Kutsche oder die elenden Maultiere, die drauf und dran sind, zusammenzubrechen?“
Der Kutscher wagte nicht, in Phagens Augen zu sehen. Langsam begann er zu glauben, dass es ein Fehler gewesen war, mehr zu fordern.
Phagen verlor die Geduld. Er holte aus und versetzte dem Mann eine solche Ohrfeige, dass er taumelte.
„Du hast einfach gedacht, man kann es ja mal versuchen; hab ich recht?“
Ein zweiter Schlag folgte. Der Kutscher stolperte und stürzte zu Boden.
Es war nur ein winziger Moment der Ablenkung. Mari sah hinüber zu Phagen und dem Kutscher. Ihr Herr schlug den Tölpel nieder; sie quittierte es mit einem Grinsen, wendete sich wieder um und blickte in die gelben Augen des Hundlings. Bevor sie einen Ton von sich geben konnte, legten sich seine Hände um ihren Hals. Ihr Genick brach leise wie fauliges Holz. Die Armbrust fiel zu Boden.
Der Kutscher rappelte sich auf und rannte zur Straße. Anscheinend wollte der gierige Idiot mitsamt der Kutsche fliehen. Phagen fasste in seinen Rock und zog ein kurzes Blasrohr hervor, an dem ein mit Stacheln besetztes Futteral befestigt war.
Der Flüchtende hatte die Kutsche fast erreicht, als er einen schmerzhaften Stich im Genick verspürte. Augenblicklich versagten seine Beine ihren Dienst. Sein Hals schwoll an. Er versuchte zu schreien. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Phagen kannte die Wirkung der Stacheln des Rodakvogels nur zu gut. In wenigen Sekunden würde der Mann tot sein.
Er sah hinüber zu den Gefangenen.
Im gleichen Moment, als der Bolzen die Luft durchschnitt und in Phagens Brustkorb einschlug, verfluchte sich Tom. Nun würde der Meuchelmörder ihnen nicht verraten können, wo Morin zu finden war. Sie hatten großes Glück gehabt, doch die Suche würde weitergehen müssen.
Sie zerrten die leblosen Körper an den Rand des Abhangs und warfen sie hinab. Als sie hinunter schauten, sahen sie Phagen und den Kutscher mit verdrehten Gliedern auf einem Vorsprung zwischen mannshohen Felsblöcken liegen.
Tyras spie in die Tiefe.
„Kommt“, sagte Roona und wandte sich zur Kutsche. „Du möchtest doch bestimmt deine Truhe holen, Tom.“
„Unbedingt.“
Das Laub der Bäume hatte begonnen, sich zu färben, als sie endlich auf eine Spur Morins stießen. Vor einer Gaststätte glaubte der Hundling, dessen Schulter nahezu verheilt war, Helmer, einen engen Vertrauten des Floßmeisters, zu erkennen. Er war zu Fuß unterwegs, in Begleitung einiger Männer, die Äxte, Sägen und anderes Werkzeug mit sich führten.
Sie nahmen die Verfolgung auf, verloren ihn jedoch im dichten Gedränge einer Anlegestelle wieder aus den Augen. Der Zufall kam ihnen zu Hilfe, als sie die Männer gegen Mittag des gleichen Tages an Bord eines Dreieimasters entdeckten, der gerade ablegte. Der Name des Schiffes war ‚Grey Aunt‘.
Es war das Schleppschiff von Morins Floß.
Vom Hafenmeister erfuhr Tom, dass das Floß seit Tagen flussaufwärts am anderen Ufer vor Anker lag. Sie mieteten eine Jolle, die sie mitsamt dem Lastesel einen Kilometer oberhalb ihres Ziels an Land setzte.
„In einer Stunde geht die Sonne unter“, gab der Hundling zu bedenken. Tom setzte sein Glas ab und hielt es Tyras hin.
„Hier, sieh’s dir an. Die Schäden sind groß. Morin wird noch eine Weile hier festsitzen. Wir haben also Zeit genug.“
Eine beträchtliche Anzahl der Hütten auf dem Floß sowie eine der Remisen waren anscheinend einem Sturm zum Opfer gefallen. Die Reperaturarbeiten waren in vollem Gange. Tyras erkannte einige seiner Sippe, die ebenso wie andere Passagiere dabei halfen, den großen Wagenschuppen wieder aufzurichten.
„Da – ich sehe Morin.“
„Gib her.“
Der Floßmeister stand neben einem der Poller und sah zum Himmel. Ein kleiner untersetzter Mann redete auf ihn ein. Er gestikulierte und breitete mehrmals seine Arme aus wie jemand, der sich für etwas entschuldigt. Morin fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf. Dann schlug er dem Kleinen ins Gesicht.
„Aha“, sagte Tom. „Womöglich hat er gerade erfahren, dass sein sauberer Plan gescheitert ist.“
„Viel mehr wird er in diesem Leben nicht erfahren“, sagte Roona. Sie legte dem Hundling, der sich neben ihr ins Gras gekauert hatte, die Hand auf den Kopf. „Stimmt’s mein Freund?“ Tyras, der seine Scheu vor ihrem skelettierten Arm lange verloren hatte, grunzte zustimmend, und rückte noch näher an sie heran.
„Heute Nacht“, sagte Tom.
Morin starrte ins Kerzenlicht. Erst der verfluchte Sturm – und jetzt auch noch das. Phagen war gescheitert! Unglaublich. Eine Motte umkreiste die Kerze und warf zitternde Schatten auf die Wände der Hütte, bevor sie mit einem leisen Knistern in die Flamme stürzte.
Er erhob sich und trat hinaus in die Nacht. Das Hämmern und Sägen der Handwerker schallte über das Wasser. Ein paar Schritte entfernt saß Helmer reglos vor einem heruntergebrannten Feuer.
„Was glaubst du – sind die morgen fertig?“
Keine Antwort.
Der Kerl war doch wahrhaftig eingeschlafen. Als er ihn mit der Fußspitze anstieß, kippte Helmer langsam nach vorn in die Glut. Schlagartig war der Floßmeister hellwach und drehte sich einmal um sich selbst. Der Gestank von Helmers Haaren, die Feuer gefangen hatten, stieg ihm in die Nase. Er öffnete den Mund, doch bevor er schreien konnte, legte sich eine nasse Hand auf seine Lippen. Es war, als drückte ihm jemand ein Bündel dünner Äste auf den Mund. Gleichzeitig spürte er die Spitze eines Dolches im Rücken. Die verfluchte Schlampe mit dem Knochenarm!
Wie in einem Fiebertraum sträubte sich sein Bewusstsein gegen etwas, dass gleichermaßen schrecklich wie unvermeidlich war. Ihm wurde übel, als der Hundling vor ihn hintrat. Das nasse Fell der Kreatur verströmte einen intensiven Geruch. Dann lockerte sich der Griff der Frau, er wurde nach vorn gestoßen und vernahm ein Zischen. Noch bevor Morin klar war, woher dieses Geräusch kam, drang Toms Klinge in seinen Hals ein. Der Hieb war mit solcher Kraft geführt worden, dass der Kopf des Floßmeisters für Sekunden an seinem angestammten Platz verharrte, bevor sein Körper erschlaffte. Tyras gab dem rollenden Schädel einen Tritt, der ihn ins Wasser beförderte.