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Das Festmahl
Die Hexe wanderte Pilze sammelnd durch den Wald, als sie von einem Schwarm Krähen aufgehalten wurde.
„Alterchen! Wir haben die Brotkrummen der Kinder gefressen!“, krähte einer der Vögel.
„Welche Brotkrummen, welche Kinder?“, fragte die Hexe zerstreut, während sie sich nach einem Steinpilz bückte.
„Irgendwelche Kinder! Aber feist sehen sie aus! Schmackhaft!“ Die Alte sah zu den Krähen hoch. „Ach tatsächlich? Kinderbraten käme mir eigentlich recht gelegen. Das Treffen des Hexenzirkels wird nächstes Mal in unserem schönen Wäldchen stattfinden. Da sollte man auch standesgemäß speisen. Meint ihr nicht, Krähen?“
Heiseres Schreien erfüllte die Luft, die Äste wippten unter dem Gewicht der Vögel auf und ab.
„Aber nur gegen eine Belohnung!“, kreischte die Krähe welche die Verhandlungen führte. „Belohnung? Dafür, dass ihr die Krummen gefressen habt?“
„Ja, das haben wir nur für dich getan! Wir können die Kinder auch noch heraus leiten aus dem Wald, wenn du nicht bereit bist zu zahlen!“.
„Schon gut, schon gut. Was wünscht ihr euch gute Krähen?“ fragte die Hexe mit liebenswürdiger Stimme.
Rascheln in den Baumkronen, die Vögel berieten sich. Eine der Krähen löste sich von der Schar und landete auf einem Ast, in Augenhöhe der Hexe.
„Einen ganzen Laib Brot wollen wir“, krächzte die Krähe.
„Innen flaumig!“, schrie ein Vogel von weit oben hinunter.
„Außen knusprig!“ kreischte einer, der nah an ihrem Ohr vorbei rauschte.
„Und groß genug für uns alle soll er sein!“, krähte der Vogel der ihr gegenüber saß.
Diese Vögel wünschten sich immer nur Brot. Die Hexe selber fand Brot in seiner reinen Form etwas langweilig. Aber umso mehr freute sie sich, dass diese nützlichen und hilfsbereiten Tiere so leicht zu entlohnen waren. Mit einer unauffälligen Bewegung ihrer linken Hand und einem leisen Murmeln, zauberte sie einen Brotlaib in Größe eines Männertorsos aus ihrem Mantel.
„Lasst es euch schmecken! Wenn ihr euch auch noch der Aufgabe annehmt, meinen Schwestern die frohe Kunde zu bringen, sollt ihr noch weitere Belohnungen bekommen.“
Mit diesen Worten schritt sie von dannen und die Krähen stürzten sich auf den Laib.
In ihrer Hütte angekommen machte sie sich sogleich an die Vorbereitungen. Die einfache Bleibe aus Stein musste zu Kuchen und Gebäck werden, zu Zucker und Keksen. Denn die Hexe wusste natürlich, dass, so wie Krähen am liebsten Brot, Kinder am liebsten Süßes aßen. Als alles an seinem Platz war und sie sich selbst in eine liebreizende, alte Großmutter verwandelte hatte, wartete sie, geduldig wie eine Spinne in ihrem Netz. Einige Tage vergingen bis sich Hänsel und Gretel in ihren Teil des Waldes verliefen. Die Krähen waren eine nach der anderen zur Hexe zurück geflattert um ihr die Menüwünsche ihrer Mithexen vorzutragen. Manche bevorzugten mageres Fleisch, andere Buben vor Mädchen, wieder andere hatten in der Zwischenzeit beschlossen auf Kinderfleisch zu verzichten. Meist aus gesundheitlichen Gründen. Die letzte Krähe brachte ihr die Mitteilung, dass eine ihrer Schwestern leider verhindert sei, aber er die Kinder nicht allzu weit ihres Häuschens erspäht hatte, als er am Weg zu ihr war. Hocherfreut machte die Hexe einen kleinen Hüpfer.
„Endlich sind sie da! Wenn ich dich, liebe Krähe, in einen kleinen, weißen, lieblich singenden Vogel verwandeln darf, um sie hierher zu locken, bekommst du das schmackhafteste Brot, welches du jemals verspeist hast. Was meinst du?“
Da ließ sich die Krähe nicht zwei mal bitten und war -zack- ein kleiner weißer Vogel und flog geschwind zu den Kindern. Als Hänsel und Gretel begannen sich am köstlichen Häuschen der Hexe gütlich zu tun, stellte diese ihnen eine Frage, die sie sich nun schon seit Tagen überlegt hatte.
„Knusper, knusper, knäuschen,
wer knuspert da an meinem Häuschen?“
„Der Wind, der Wind,
das himmlische Kind.“
antworteten die Kinder unisono und aßen nun noch genussvoller von ihrem Haus. Die Hexe fand die Antwort schrecklich frech und fragte sich, ob Menschenkinder wohl immer unausstehlicher würden, behielt aber ihre freundliche Fassade und bat die Kinder zu einem Festmahl ins Haus. Am nächsten Tag steckte sie Hänsel in den Käfig und ließ Gretel die unangenehmsten Hausarbeiten verrichten. Nachdem es so viele unterschiedliche Wünsche gab, was den Kinderbraten betraf, beschloss sie den Jungen schön dick werden zu lassen und das Mädchen den Hexen, als mageres Fleisch anzubieten. Noch dazu fand sie es recht angenehm, sich nun nicht mehr selber ums Putzen kümmern zu müssen.
So vergingen viele Wochen und der Tag des Hexenzirkels rückte immer näher. Der Junge war zwar nicht fett geworden, aber sie musste nun wohl das Beste aus diesen zwei kleinen Gerippen machen. Sie wollte die Kinder einen ganzen Tag und eine ganze Nacht bei sanfter Hitze gar braten. Jede Stunde sollten sie mit ihrem eigenen Fett übergossen werden. Morgen würden diesen zwei Quälgeistern das Fleisch bei der zartesten Berührung von den Knochen fallen. Servieren wollte sie dazu rotes Ranunkelkraut und blauen Hexwegerich, pochierte Pfefferlingsknödel und delikates Calicarpenmus. Der Hexe lief das Wasser im Mund zusammen.
"Gretel! Kriech mal in den Ofen hinein. Ist er schon warm genug um etwas darin zu backen?" rief sie dem Mädchen zu. Sie wusste, dass es ein plumper Versuch war das Mädchen in den Ofen zu locken, doch ein Mahl für den Hexenzirkel vorzubereiten, war an sehr strenge planetarische, meteorologische und kulinarische Regeln gebunden, so dass die Hexe schrecklich viel auf einmal zu tun hatte und ihr keine bessere List einfiel. Gretel stellte sich fürchterlich dumm an, aber die Hellste war sie ja noch nie gewesen. Also ließ die Hexe von ihrer Planetenkarte ab und zeigte dem Mädchen was sie von ihr wollte. Mit dem Oberkörper im Ofen, fühlte sie plötzlich einen Stoß von hinten und rutschte mit dem ganzen Körper hinein. Die Hitze war unvorstellbar. Ihre Haare begannen zu brennen, auch ihre Nägel und die Wimpern. Die Flammen fraßen sich langsam ins Fleisch der Alten, sie schrie aus Leibeskräften und drückte sich so weit sie konnte von den Flammen weg. Sie war jedoch zu groß für den kleinen Kinderofen und die Flammen begannen nun an ihren Schuhen und ihren Zehen zu lecken. Vor Schmerzen und vor Hitze, fiel sie in eine gnädige Ohnmacht, aus der sie nicht mehr erwachen sollte.
Am nächsten Tag kamen ihre Hexenschwestern, in freudiger Erwartung auf einen zarten Kinderbraten und fruchtbaren Gesprächen, bei dem kleinen Häuschen an. Als ihre Freundin nirgendwo aufzufinden war, suchten sie im Wald und auf den Lichtungen, in der Luft und tief in der Erde. Sie suchten unter der Rinde der Bäume und in den Strömungen des Baches, in den Bauten des Dachses und in den Wohnhöhlen des Spechtes. Keinen Zentimeter ließen die besorgten Hexen aus. Doch im Ofen, im Ofen suchte keine.