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Das Fenster
Sie saß am Fenster und schaute hinaus auf die Welt. Betrachtete durch die schmutzige Scheibe das Draußen und konnte die Schönheit dahinter erkennen mit solch intensiven Farben, dass diese selbst durch die dicke Staubschicht drangen. Der blaue Himmel mit den dahinschwebenden Vögeln, das grüne Gras, hohe dunkle Tannen, kornblumenblaue Blumen und roter Mohn, Sträucher mit orangen Beeren und gelben Zitronenfaltern. Durch den Dreck leuchteten ihr die Strahlen entgegen. Die Sonne schien und fast konnte sie Wärme auf ihrem Gesicht spüren. Fast, denn das Glas war dick. Die Sonnenstrahlen zerbrachen an der Scheibe und teilten sich in einem kleinen Regenbogen auf ihren gekreuzten Beinen auf. Dies waren die einzigen Farben, die es in ihren Raum gab. Erstaunt blickte sie auf das Leuchten herab und strich mit ihren Fingern darüber, als ob sie das Bunt spüren oder einfangen könne. Aber es passierte nichts. Die Farben waren unwirklich und würden mit dem Sinken der Sonne wieder verschwinden. Traurig wandte sie dem Fenster den Rücken zu und betrachtete ihr Zimmer. Sie hatte alles was man zum Leben brauchte. Ein Bett, einen Tisch mit einem Stuhl, eine kleine Küche und ein noch kleineres Bad. Außerdem Bücher, Papier, Bleistifte und Nahrung. Sie konnte sich eigentlich nicht beklagen. Es fehlte ihr nur an Farbe. Alles in ihrem Reich war schwarz oder weiß oder eine Mischung aus beidem. Mit der Zeit hatte sie sich Namen für die zahlreichen Graustufen ausgedacht, doch das konnte sie auch nicht lebendiger werden lassen.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier lebte. Sie glaubte, dass sie schon ihr ganzes Leben hier gewesen war und es keine Zeit vor diesem Raum gab. Jedoch war Zeit ein schwer zu fassender Begriff an einem Ort wie diesem. Es gab keine Uhren und keinen Kalender und die Tage zu zählen erwies sich als sinnlos. So hatte sie auch kein Alter. Die Zeit hätte genauso gut still stehen können. Es veränderte sich nichts. Jeder Tag war gleich, es gab keinen Wandel und sie tat auch jeden Tag dasselbe. Bis vor kurzem hatte sie das Ganze auch noch nicht hinterfragt und sich keine Gedanken darüber gemacht, warum sie hier war. Dies war nun einmal ihr Leben gewesen und sie hatten keinen Grund gehabt, damit nicht zufrieden zu sein. Bis sie die Welt hinter dem Fenster entdeckte.
Sie wusste auch schon vor diesem Tag, dass es das Fenster gab, denn es wurde Tag und Nacht in ihrem Reich. Jedoch war es von schweren Vorhängen verdeckt gewesen, die zwar eine Veränderung des Lichtes zu bemerken ließen, jedoch die Schönheit hinter dem Glas ausschlossen. All die Zeit war sie nie auf den Gedanken gekommen, den dicken Stoff beiseite zu ziehen. Dabei war es so simpel. Ein einfacher Ruck und die neue Welt hinter der Scheibe hatte sich ihr offenbart. Sie war erstarrt mit dem Vorhang in der Hand und konnte sich vor Faszination kaum rühren. Erstaunen und Freude übermannte sie. Farben, Bewegung und Leben in Form von Pflanzen, Sonnenschein und Tieren!
Seit jenem Tag saß sie die meiste Zeit auf der Fensterbank und schaute hinaus. Blickte auf das, was vor ihren Augen lag, direkt vor ihr und doch außerhalb ihrer Reichweite. Zu gerne wäre sie hinaus, aber es gab keine Tür und ihr Reich kam ihr immer mehr wie ein Gefängnis vor. Sie war drin und wollte in die Farbenpracht und das Leben.
Immer mehr Fragen drängten sich ihr auf. Was hatte sie noch alles als selbstverständlich hingenommen? Was gab es dort draußen alles? Warum war sie hier drin und konnte nicht hinaus? Sie durchdachte alles immer und immer wieder, aber fand keine Lösung, fand keinen Sinn. Es war zum Verrücktwerden! Ihre Gedanken kreisten nur noch um das Fenster und die Außenwelt und das was sein könnte. Sie wollte hinaus in die bunte, lebende, sich veränderte Welt! Aber sie war hier drin gefangen! Ein beklemmendes Gefühl überkam sie von Tag zu Tag immer stärker. Enge und Hilflosigkeit, Trauer und Wut. Sie war erst entzückt gewesen über ihre Entdeckung, aber nun ärgerte es sie. Vor dieser war sie zufrieden gewesen. Alles hatte eine Ordnung gehabt und war gut gewesen. Es war kein schlechtes Leben gewesen. Nicht erfüllt von dieser unstillbaren Sehnsucht, die sie jetzt zu zerreißen drohte. Sie wurde wahnsinnig vor Verzweiflung, wenn sie hinaus sah. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Und so kam der Tag, an dem sie vor Unruhe nicht mehr schlafen konnte, nicht mal mehr sitzen konnte und unruhig in ihrem Raum auf und ab lief. Stundenlang hin und her. Sie raufte sich die Haare, während die Farben in ihr graues Reich drangen. Sie ertrug es nicht mehr. Und so ergriff sie die schweren dunkelgrauen Vorhänge und zog sie zu. Entschlossen, die grellen Farben aus ihrem Leben auszuschließen.
Und da vergaß sie. Vergaß, alles was geschehen war, was hinter dem Vorhang lag und was hätte sein können. Sie vergaß die Welt.