Das Fenster
Regen donnerte auf das Dach, unter welches ich mich mit Mühe hatte retten können, bevor das Gewitter mich und meine Kleidung völlig durchtränkt hatte.
Ich wagte einen Blick gen Himmel und ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Pechschwarze Wolken bedeckten das, was bis vor einigen Minuten noch eine sternenklare Nacht gewesen war. Jetzt war das einzige Licht dort Oben das Blitzen, welches die Wolken und in der Ferne auch die Luft durchschnitt.
Und ich, ich stand unter einem Dach, welches mich noch so gerade eben vor dem schlimmsten bewahrte. Um mich herum leuchteten die Straßenlaternen, die bei jedem Blitzen leicht zu flackern begannen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es nicht allzu viel brauchte um ihnen gänzlich den Rest zu geben.
Während mein ganzes Flehen an den Gott ging, der dieses Unwetter zu verantworten hatte, blieb mir derweil genügend Zeit meinen Gedanken eine Beschäftigung zu suchen, die etwas Abwechslung reicher war als: "Schau mal so viel Wasser" und "Huch, wieder ein Blitz". Versteht mich an dieser Stelle bitte nicht falsch, es war ein grandioses Schauspiel, das sich da vor meinen Augen abspielte, aber wenn dieses Schauspiel einen daran hindert trocken und unbeschadet das eigene Heim zu erreichen, auf das man sich schon den ganzen Tag lang gefreut hatte, so wird man ihm doch schnell überdrüssig. Wäre ich im Trockenem, im richtigen Trockenem, so hätte ich mir schon längst eine heiße Schokolade gemacht, mich in eine Decke gewickelt und dem Spektakel zugeschaut. So aber suchte ich etwas das mich davon ablenkte und außer der Hauswand und den Fenstern war da nichts, das nicht hinter einen Vorhang aus Regen ins Unerkennbare transformiert worden war.
Die Hauswand also... nein, lieber doch die Fenster, eine Hauswand gibt nicht so viel her. ich ertappte mich dabei, wie in mir ein gewisses Unbehagen aufkam, so dreist einfach in den privaten Lebensraum anderer Menschen zu spähen. Aber allzu lang hielt es mich nicht auf, irgendetwas musste ja schließlich meiner Unterhaltung dienen.
Also gut, was hatten wir da: Vorhänge, Vorhänge, Rollladen, Vorh... ach das war doch nicht möglich. Keiner da, der mir einen Einblick in sein Privatleben geben wollte? Keine Familie beim Abendessen? Kein älteres Ehepaar das stillschweigend vor dem blau flimmernden Fernseher saß? Oder, Gott bewahre, etwa jemand der mit einer Tasse Kakao in einer Decke gewickelt vor dem Fenster saß? Nein, alle hatten die Fenster verschlossen. Womit sollte ich mich nun ablenken?
Aha! Doch, da war etwas! Kurz bevor das Dach aufhörte den Regen, der nebenbei immer lauter und aufdringlicher wurde, abzuwehren. Da entdeckte ich das in Dunkelheit getauchte Fenster, welches allerdings doch ein Paar Lichter beherbergen musste, denn ein rötliches Wabern und Flackern zeigte mir schemenhafte Umrisse einer Einrichtung und offenbarte die Tatsache, dass es tatsächlich nicht durch Vorhänge oder Rollladen sein Innerstes vor mir versteckte.
Da ließ also jemand zu, dass man ihn beobachtete, warum sonst sollte er seine Fenster nicht verdecken?
Halbwegs unauffällig schaute ich mich um, ob es tatsächlich niemanden gab, der mich beobachtete. Als da immer noch niemand war der aus dem Fenster schaute ging ich langsam auf das rot schimmernde Fenster zu. Erst im Nachhinein bemerke ich, welch starker Bann mich da gefasst hatte. Natürlich, ich hatte Beschäftigungsmangel, aber kaum hatte ich das Fenster entdeckt, so verwendete ich nicht einen Gedanken mehr an das Gewitter.
Ich stand nun vor dem Fenster und wagte einen ersten Blick in das Innere. Die Aussicht war im ersten Moment eher ermüdend. Kaum mehr als eine Ahnung zeichnete sich vor meinen Augen ab. Die undeutlichen Silhouetten einiger Skulpturen oder vielleicht auch Puppen meinte ich in den roten Schatten erkennen zu können. Ich ging näher heran, so nah, dass meine Nase beinahe schon die Scheibe berührte. Kondenswasser setzte sich da ab, wo mein warmer Atem das Fenster streifte.
Ja, es mussten Puppen sein, die da in der Wohnung standen. War es ein Mädchenzimmer, oder das Heim einer alten Sammlerin? Und woher kam das rötliche Flackern her? Waren da... Ah, doch Kerzen, da mussten Kerzen sein. Versteckt hinter irgendwelchen Tüchern oder etwas dergleichen. Auf jeden Fall war es gedämpft und die ursprüngliche Quelle war nicht direkt auszumachen.
Kerzen und Puppen... ich konnte nicht darum herum den Versuch zu wagen einen Blick auf ihre Gesichter zu erhaschen.
Ich strengte meine Augen an, immer weiter um immer tiefer in die Finsternis zu blicken. Dann endlich konnte ich es erkennen. Weiße Gesichter die aus der Dunkelheit heraus funkelten und mir ihr bleiches Antlitz offenbarten. Und... waren da etwa Gesichtszüge zu erkennen? Rote Lippen, ein breites Lächeln, passend zu dem Kerzenschein. Und ihre Augen... Ich stockte. Ihre Augen waren ausnahmslos auf mich gerichtet.
Ein kalter Hauch glitt mir über den Rücken. Meine Härchen am Nacken und an den Armen stellten sich auf, da war etwas fernab des Sturms, das mir einen tiefen Schauer in die Knochen jagte.
Ich begann zu zittern. Mein Atem wurde flacher je länger ich den Blickkontakt aufrecht erhielt. Mein Herz schlug immer schneller, je länger ich in die so leblosen Augen sah.
Sie ihrerseits blieben regungslos, natürlich, es waren ja auch nur Puppen. Warum überfiel mich überhaupt eine derartige Angst? Ich sollte meine Gedanken wohl besser wieder auf den Regen richten, der jagte mir wenigstens keine Gespenster durch den Kopf...
Langsam drehte ich mich um und hielt dabei bis zum Schluss ein Auge auf das Fenster gerichtet. Dann trat ich einige Schritte zu Seite und löste mich vollends von dem eigentlich so fesselnden Anblick.
Dann war ich wieder allein mit dem Regen und der Regen allein mit mir. Prasselnd und platschend, gießend und gurgelnd. Blätter die von Bäumen gerissen wurden, Zweige, die gegen Fenster klatschten. Allerdings hatte eine Neuerung stattgefunden. Es war ein Gefühl in meinem Nacken, ein Kribbeln im Augenwinkel, das sich immer wieder meiner Aufmerksamkeit bemächtigte und mich daran hinderte, das Gewitter in seiner ganzen Blüte aufzunehmen und mich von den verschiedenen Eindrücken davon tragen zu lassen. Ich wusste, dass sie mich beobachteten, die leb- und seelenlosen Puppen hatten immer noch ihre kleinen Blicke auf mich gerichtet und ihr Lächeln wisperte mir weiterhin durch die Schatten zu und verhöhnten und verspotteten mich.
Ich schloss die Augen um mir vorstellen zu können, wo anders als neben diesem Gott verdammten Fenster zu stehen. Aber sobald ich die Augen schloss, sah ich in der Dunkelheit die schemenhaften Grimassen.
Ich riss sie wieder auf und entfernte mich noch weiter von dem Fenster, so weit wie es mir eben möglich war ohne in den Regen zu treten.
Hier an der Schneide zum Sturm, zerrte der Wind an meiner Kleidung und trieb mir nasse Tropfen ins Gesicht. Kälte begann von Außen nach Innen durch meine Kleidung zu kriechen. Kleine, knöchrige Finger zwängten sich durch meine Kleidungsschichten und verursachten eine Gänsehaut, dort wo sie meine Haut berührten.
Und dann kam sie wieder, die Langeweile und auf ihren Versen die Neugier. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Waren diese Puppen wirklich so unheimlich gewesen? Einen Blick konnte ich wohl noch wagen...
Ich schlich zurück, als ob ich mich selbst daran hindern wollte mich dabei zu ertappen, wie ich zu den Puppen zurückkehrte.
Es dauerte nicht lang und ich hatte es geschafft an mir selbst vorbei zu schleichen.
Als ich hinein schaute stockte mir der Atem. Die Szene hatte sich verändert, das Licht war heller geworden und hatte an Intensität dazu gewonnen. Aber das war nicht alles.
Es waren weniger geworden, eindeutig weniger als zuvor! Wo waren sie hin? Wer hat sie weggestellt? Oder haben sie sich von selbst...
Gott! Schluss mit diesem Unsinn! Das Gewitter schlug mir aufs Gemüt, dieses dumm herum stehen machte mich ja wahnsinnig!
Etwas Bewegung musste her. also begann ich unter dem durch das Dach geschützten Bereich auf und abzugehen. Es half, nun ja zumindest solange bis ich wieder zurück zum Fenster kam und dem zu widerstehen einen kleinen Blick hinein zu werfen konnte ich dann doch nicht.
Zuerst blieb alles beim Bekanntem. Jedoch, nach der dritten oder vierten Wendung, glaubte ich, dass sich die Anzahl wieder verändert hatte. Und mit jeder Puppe die verschwand beschleunigte ich meinen Gang.
Schritt, Schritt, Wendung,. Schritt, Schritt, Wendung. Erst als nur noch eine Puppe da war blieb ich endlich stehen. Jetzt war es nicht mehr zu leugnen, dass es die Puppen waren mit denen etwas ganz und gar nicht stimmte, kein Mensch, selbst wenn er sich direkt neben ihnen versteckt hätte, hätte sie so schnell verschwinden lassen können.
Da war sie dann also, die letzte der Puppen und ich starrte sie an, allerdings schaute sie nicht zurück. Sie lächelte und grinste und schien etwas anzusehen, das unmittelbar hinter mir stehen musste.
Ich erstarrte. Etwas streifte meinen Nacken und ich war mir sicher, dass es nicht der Wind gewesen war. Ich wagte es nicht den Kopf zu drehen, doch dadurch war ich gezwungen die Puppe weiter anzustarren, sie dabei zu zuschauen, wie ihr Blick die Luft durchschnitt und mit voller Freude beobachtete wie das Etwas in meinem Rücken mir seinen kalten Atem in den Nacken hauchte.
Die Zeit verging immer langsamer, der Regen verstummte und hätte ich in die Nacht sehen können, so wo wären da Blitze, die in die Wolken gemalt und Regentropfen, die niemals den Boden berührten. Da wären Blätter, die in der Luft ständen und Bäume, deren Zweige für immer gen Erde geneigt wären.
Aber das sah ich nicht. Ich spürte nur den feuchten Atem und hörte nur das Trommeln meines Herzen, das im gleichen Rhythmus schlug, wie das Hauchen gegen meine Nackenhaare prallte.
Ich war in einer Ewigkeit gefangen, deren Entsetzen darin bestand, dass sie jederzeit enden konnte und die Ereignisse schlagartig von furchteregend in grauenhaft umschlugen.
Dann, mit dem Donnern des Regens und dem Krachen der Blitze, riss ich mich los und rannte. Drauf geschissen, ob ich nass werden würde. Ich trat in die Mauer aus Wasser und rannte, ganz gleich ob ich keinen Meter weit sehen konnte. Einfach nur weg von diesen teuflischen Puppen.
Doch so schnell war es noch nicht vorbei. Wenngleich der Regen mir jede klare Sicht nahm, so bemerkte ich trotzdem sehr wohl die schemenhaften Umrisse, die in den Lichtern der Straßenlaternen standen und regungslos meiner Flucht hinterher schauten. Wenngleich sie mir nicht hinterher liefen, so wollte ich unter gar keinen Umständen auch nur ansatzweise ihren Weg kreuzen. Ich mied also die Lichter und hielt mich in den Schatten, von denen gab es ja zum Glück genug. Nur hin und wieder erhellte ein nahe gelegener Blitz die Straßen, jedoch verschwanden die Schemen sobald sie das Licht zu berühren versuchte.
Irgendwann, als meine Kleidung schon lange durchtränkt war und mein ganzer Körper mit eisernem Willen gegen die Kälte kämpfte, da begannen die Schemen in die Ferne zu treten und sich in die Dunkelheit der Nacht zurückzuziehen, zeitgleich bemerkte ich, dass ich in immer belebtere Regionen der Stadt kam, bis dahin, dass ich bald schon von Kreuzungen, Autos und Ampeln umgeben war. Schnell erkannte ich, wo ich mich befand und es war mir ein leichtes nach Hause zu finden. Dort angekommen schlug ich die Tür zu und schloss sie ab. Auch wenn meine Panik sich bereits zu großen Teilen gelegt hatte, so war das Gefühl dem Sturm endlich entkommen zu sein eine enorme Erleichterung. Ich atmete tief durch, zog meine klatsch nassen Klamotten aus und nahm eine heiße Dusche. Ich war erstaunt wie schnell die eben noch so schauderhaften Ereignisse bereits in das Gewand einer Erinnerung schlüpften und ich mich, als ich aus der Dusche stieg, bereits fragte, ob das Ganze nicht doch nur ein Traum oder ein Trugbild gewesen war, eine Überinterpretation meiner Fantasie.
Aber nein, ich wusste ja, was ich gesehen hatte. Und da ich die Gefahr erkannte, das alles bald als dumme Fantasie abzutun beschloss ich das Ereignis niederzuschreiben.
Hier sitze ich also, allein, eine heiße Schokolade vor mir und schaue aus dem Fenster, den immer noch tobenden Sturm beobachtend, während in meinem Augenwinkel der Fernseher von irgendwelchen Geschehnissen und Personen berichtet, alles so hergerichtet, dass es die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich zieht und alles dafür tut diese auch zu behalten, so dass man nicht mehr sagen kann welche Wurzeln tatsächlich in wahren Ereignissen gekeimt waren.
Wie spektakulär die geringsten Dinge zu Schau gestellt werden konnten, dabei konnte ein echtes Gewitter doch schon den selben Zweck erfüllen...
Es ist schon erstaunlich zu was die Leute greifen, wenn ihnen langweilig ist, dann genügt ihnen einfach jedes Mittel, jedes offene Fenster um sich Ablenkung zu verschaffen, ganz gleich was es ist, was sie da sehen.