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Das Fahrrad
Sie ziehen weg, hat Mama gesagt.
Warum? hat er gefragt.
Weil Papa in der anderen Stadt eine Arbeit hat, war Mamas Antwort.
Er will nicht wegziehen. Er will nicht weg aus dem Haus, das er kennt, seit er geboren ist. Aus der Straße, in der seine Freunde wohnen. Aus der Stadt, die ihm immer so groß vorkommt, wenn er mit Mama einkaufen fährt. So einen Spielplatz wie hier wird er in keiner anderen Stadt finden, das ist mal klar. Und auch keinen Freund so wie Lasse, der schon auf zwei Fingern pfeifen kann, wie die Großen. Und mit dem er fast jeden Nachmittag unterwegs ist um Abenteuer zu erleben. Denn er und Lasse verabreden sich immer, um gemeinsam Abenteuer zu erleben. Weil so was alleine überhaupt keinen Spaß macht.
Aber er hat auch gehört, wie sie gestritten haben, Mama und Papa. Wegen dem Geld, das überall fehlt, weil Papa nicht arbeitet. Weil das Geld nicht reicht, muss Mama putzen gehen. Manchmal hört er morgens, wenn es noch dunkel ist, die Haustüre, die zuschlägt, wenn Mama zur Arbeit geht. Wenn Mama und Papa streiten, weil kein Geld da ist, weint Mama immer.
Einmal hat er sein Sparschwein genommen und ist einfach mitten in den Streit von Mama und Papa hereingeplatzt. Er hat das Sparschwein seiner Mutter gegeben und gehofft, dass sie dann aufhört zu weinen. Es kamen aber nur noch mehr Tränen und er konnte nichts sagen, um sie zu trösten, weil seine Stimme einfach weg war.
Eigentlich wünscht er sich schon lange ein neues Fahrrad. Aber jedes Mal, wenn ihm der Wunsch auf der Zunge liegt und er ihn nur noch aussprechen müsste, ist seine Stimme auch immer weg. Jeden Tag fährt er mit seinem ollen Babyfahrrad zum Kindergarten. Er ist schon viel zu groß dafür, seine Beine schleifen beim Fahren fast über den Boden und das sieht ganz schön komisch aus. Deswegen lachen die anderen Kinder und rufen „Zwerg auf einem Zwergenrad“. Dann schmeisst er sein Rad in die Ecke und hasst es, auch wenn es nichts dafür kann, dass er so gewachsen ist.
Sein Rad ist ihm bis jetzt ein treuer Freund gewesen. Er hat es irgendwann mal zu Weihnachten bekommen, als Papa noch Arbeit hatte. Das ist schon eine ganze Zeit her. Er erinnert sich noch, wie das Rad geglitzert hat, als es an Heiligabend neben dem Tannenbaum stand. Blitzeblank mit einer dicken roten Schleife und das Licht der Kerzen hat sich im Rahmen gespiegelt. Aber jetzt, ist es zu klein oder er zu groß, je nachdem wie man es sieht.
Er weiß ganz genau, wie sein neues Fahrrad sein soll. Eine Gangschaltung braucht er auf jeden Fall und große Räder mit breitem Profil, damit er auch da fahren kann, wo es keine Radwege gibt. Auf dem Spielplatz gibt es einen Hügel, da brausen die Jugendlichen mit ihren Rädern immer rauf und runter und üben Sprünge und sind voller Matsch und Dreck, wenn es geregnet hat. So will er auch aussehen, wenn er sein neues Fahrrad hat.
Einmal hat er versucht, mit seinem ollen Babyrad den Hügel raufzufahren. Er war sicher, dass ihn niemand sieht. Ein ganzes Stück vom Hügel entfernt fuhr er los, auf den Hügel zu. Er wusste, er brauchte ordentlich Schwung und Tempo um überhaupt ein Stück den Hügel heraufzukommen. Aber bereits am Fuß des Hügels drehten die kleinen Räder seines Fahrrades durch. Und so sehr er auch in die Pedale trat, er kam keinen Meter weiter. Er weinte vor Zorn über sich und sein olles Fahrrad. Und dann tauchten auch noch die Jugendlichen. Sie stellten sich mit ihren Rädern unten am Hügel auf und äfften ihn nach und traten in die Pedale und taten so, als könnten sie den Hügel nicht rauffahren und machten sich über ihn lustig und lachten ihn aus.
Und dann ist er weinend nach nach Hause gefahren und hatte Wut auf seinen Papa, weil der nicht arbeitet und kein Geld da ist, um ihm ein neues Fahrrad zu kaufen und er mit dem ollen Babyrad fahren muss.
Er denkt zurück an einen Nachmittag, an dem er und Lasse am Rande des Spielplatzes in ihrem Geheimversteck saßen. Nur sie beide kennen dieses Versteck, das man von außen mit keinem Blick entdecken kann. Lasse und er haben lange miteinander geredet, wie nur beste Freunde das können. Er hat Lasse erzählt, das er an den Umzug in die neue Stadt denkt, dass er Angst davor hat und traurig ist. Aber wenn sein Papa wieder Arbeit hat, dann bekommt er vielleicht ein neues Fahrrad. Und wenn er daran denkt, dann ist es ihm verdammt noch mal wert in eine fremde Stadt zu ziehen, das hat er zu Lasse gesagt. Lasse hat eine zeitlang über alles nachgedacht.
Du bist kein Baby mehr und kommst nächstes Jahr schon in die Schule, hat Lasse dann zu ihm gesagt.
Da konnte er Lasse nur zustimmen.
In der anderen Stadt finde ich bestimmt einen neuen Freund, hat er laut überlegt.
Klar, hat Lasse da geantwortet. Und ich bleibe doch auch Dein Freund, hat er noch hinzugefügt.
Damit hatte Lasse schon wieder Recht.
Er hätte dann mindestens zwei beste Freunde. Keine schlechten Aussichten findet er und diesmal hat Lasse ihm zugestimmt.
Erst als es fast dunkel ist, haben sie ihr Versteck verlassen.
Nimmst Du Dein Fahrrad mit? hat Lasse ihn auf dem Nachhauseweg gefragt. Nein, hat er gesagt und Lasse dabei angesehen, das olle Babyfahrrad bleibt hier, das brauche ich in der neuen Stadt nicht mehr.