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- 01.01.2015
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Das fünfte Musketier
Morgennebel hängt über den Kuhweiden. Kein Wellenschlag, kein Brandungsrauschen, es ist ungewöhnlich windstill an diesem Oktobermorgen. Um den Stamm der großen Eiche jagen sich zwei Eichhörnchen. Die Jungtiere dieses Jahres haben sich dort eingerichtet, Charlotte hat die netten Gesellen schon oft beim Sammeln ihres Wintervorrates beobachtet. Heute sitzt unter der Eiche ein junger Mann mit einem blauweißen Schal. Auf einem Schemel liegen Eicheln, Kastanien, Kiefernzapfen und Erdnüsse. Selbst Wasser in kleinen Schalen steht bereit. Grinsend grüßt sie ihn, schaut dabei wohl etwas ratlos.
„Die Eichhörnchen brauchen Nahrung für den Winter“, erklärt er ihr in energischem Ton.
„Richtig.“
„Wenn nicht genug da ist, kauft man etwas ein.“ Mit einem einnehmenden Lächeln zeigt er auf die offensichtlich das Angebot darstellenden Nüsse und Zapfen.
Skeptisch schaut Charlotte in die Eiche. Tatsächlich lugen dort zwei braunrote Köpfe um den Stamm.
„Aber die haben bestimmt Angst vor Ihnen.“ Sie stutzt ein wenig, ob hier ein Siezen angebracht ist, aber es handelt sich eindeutig um einen Mann Mitte Zwanzig. Dennoch, etwas seltsam ist die Situation schon. Doch sie hat keine Zeit, in hundert Metern lockt der Übergang zum Hafen. Daher winkt sie nur kurz zum Abschied und geht weiter.
Hinter ihr erklingen Schnalzlaute und Pfiffe aus der Eiche. Dann antwortet eine Stimme vom Boden. Charlotte dreht sich irritiert um. Der Mann hält den Eichhörnchen Nüsse entgegen und macht die Signale der roten Fellschwänze täuschend echt nach. Und diese antworten ihm. Charlotte steht mit offenem Mund am Straßenrand und sieht zu, wie ein Eichhörnchen nach dem anderen zum Tisch eilt, sich im Vorrat bedient und quiekend davoneilt. Gerade greift sich ein besonders mutiges Tier die Nuss direkt aus der Hand des Mannes, als eine Frauenstimme von der anderen Straßenseite laut „Großer!“, ruft. Charlotte sieht gerade noch, dass die Frau winkt und auf ein langsam näherkommendes Fahrzeug zeigt. Den Schriftzug der Behindertenwerkstatt kennt Charlotte, man sieht sich ab und an auf den Märkten der Umgebung.
Leicht verwirrt läuft sie Richtung Anleger über die Dünen. Dann waren dies wohl die neuen Bewohner des Boldschen Hofes.
Die Ostsee ist ungewöhnlich glatt und tief grau. Die Möwen beäugen Charlotte vom Geländer des Anlegers aus. Lautes Kreischen zeigt, dass sie mit der frühen Störung nicht einverstanden sind. Eine sitzt auf Fischer Mörs Schapp und flattert aufgeregt. Charlotte macht einen Bogen um die herumliegenden Fischreste und lächelt beim Anblick des allmählich rosa anlaufenden Himmels. Ein tiefer Atemzug lässt vor ihren geschlossenen Augen die See, Algen, Fische und irgendwo noch einen Rest des längst vergangenen Sommers erscheinen. Ende Oktober geht die Sonne bereits sehr spät auf, daher passt ihr morgendliches Schwimmen nur noch selten in den Tagesablauf. Und im Dunklen macht es einfach keinen Spaß.
Heute klappt es. Schnell aus der Latzhose und den drei Pullovern raus, das mitgebrachte Handtuch zum Warmhalten unter den Klamottenberg, die kleine Seitentreppe am Anlegesteg hinunter und mit einem Schritt lässt sich Charlotte ins knapp zehn Grad frische Wasser fallen. Der kurze Aufschrei gehört dazu. Alles zieht sich zusammen, der Atem setzt kurz aus und das Herz beginnt zu rasen. Wach! Sie lässt sich einmal auf den Grund sinken, stößt sich kraftvoll ab und durchbricht mit einem erneuten Juchzen das Wasser. Eine verrückte Mischung aus Wachsein, Glück und Zufriedenheit lässt sie strahlen, aber auch blitzschnell aus dem Wasser klettern. Grinsend rubbelt sich Charlotte ab, flucht, als das Anziehen nicht schnell genug klappt. Endlich einen Schluck heißen Tee aus dem Thermobecher. Über die Dünen klingt ein Rufen zu Charlotte, nicht zu verstehen, aber eindeutig panisch. Mit leicht irritiertem Kopfschütteln sammelt sie ihre sieben Sachen ein und macht sich schnellen Schrittes auf den Rückweg zur Gärtnerei. Mit den Gedanken ist sie schon bei der Buchhaltung, gut sieht es im Moment nicht aus.
„Olaf? Olaf!“ Eine Frau stürzt Charlotte geradezu vor die Füße. Sie ist über den Graben gesprungen, ihr Rock hat sich in den Schlehen des Knicks verfangen, die schwarzen Äste greifen nach ihr, doch energisch und ohne Rücksicht auf die Dornen, reißt sie sich los. Ihr lang gezogener Ruf hallt noch in Charlottes Ohren nach.
„Haben Sie …?“ Die Frau muss erst einmal Luft holen, setzt noch einmal an, während ihre Blicke hektisch über die Wiesen schweifen. „Haben Sie meinen Sohn gesehen?“ Mit einem Schnaufen presst sie die Frage heraus und stützt ihre Hände schwer atmend auf den Knien ab.
Charlotte tritt einen Schritt zurück und schaut die Fremde skeptisch an. Langsam schüttelt sie den Kopf.
„Sind Sie sicher? Er braucht mich. Und wenn er zum Wasser gegangen ist?“ Panisch schaut sie den Weg zum Strand hinauf.
„Nein, dort ist niemand, ich war gerade schwimmen.“ Mit diesen Worten dreht sich Charlotte um und eilt Richtung Gärtnerei davon, in Gedanken beim Arbeitsplan in der Gärtnerei. Die Frau sieht ihr mit offenem Mund nach.
Auf dem Weg nach Hause hält Charlotte automatisch Ausschau nach einem Kind. Eigentlich ist es hier so ruhig, den Gören kann nicht wirklich etwas passieren. Autos hört man von Weitem, die Ostsee ist im Oktober eher abschreckend und die Kuhweiden sind um diese Jahreszeit gut zu überblicken und reichen nur für nasse Füße. Aber was weiß sie schon, immerhin hat sie nie ein Kind bekommen.
In Gedanken geht sie den Arbeitsplan für heute durch: Kräuter topfen, Zwiebeln in Töpfe stecken und die letzten Stauden für die Wintervermehrung in Kisten legen und mit Erde bedecken. Aus diesem Einschlag kann sie im Winter dann immer nach Bedarf teilen. Mal schauen, ob es überhaupt ein Winter wird.
Verunsichert bleibt Charlotte am großen Findling neben ihrer Hofeinfahrt stehen und versucht das Bild vor sich zu begreifen. Da liegt auf der Rasenkante der Einfahrt ein Mensch und ihre vier Kaninchen hoppeln nacheinander über seinen Rücken. Jetzt stützt sich der Mann auf die Unterarme und hebt den Hintern in die Höhe. Die schwarzen Kaninchen schnuppern kurz, reihen sich dann wieder hintereinander ein und flitzen unter der Brücke durch, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Charlotte beginnt zu schmunzeln, als sie den blauweißen Schal erkennt.
Im Vorübergehen nimmt sie ihren Kater Tristan auf den Arm. Der hat sich mit gesträubtem Fell in sicherem Abstand hingesetzt und wirkt eifersüchtig. Charlotte stellt sich direkt vor den Kopf des jungen Mannes, hüstelt leise und wartet auf eine Reaktion. Langsam senkt sich der Hintern, die Hände ballen sich zu Fäusten, nur der Kopf bewegt sich, als der Eichhörnchenflüsterer von vorhin beginnt, an ihr hinaufzuschauen. Die vier Musketiere haben sich unter dem nächsten Apfelbaum zusammengekuschelt und beobachten ihren neuen Spielkameraden genau. Normalerweise lassen sie nur Charlotte und Tristan so dicht an sich heran. Die Kaninchen folgen ihnen regelmäßig durch die Gärtnerei und wenn Tristan nicht aufpasst, nutzen sie auch gerne sein Körbchen in der Diele. Aber Fremden gegenüber sind sie sehr scheu.
Mittlerweile schaut der Mann, immer noch flach am Boden liegend, zu ihr auf und sagt: „Du störst!“
„Okay, du auch. Ich muss arbeiten!“
„Wie heißen die vier Hasen?“
„Kaninchen.“
„Sie hoppeln, also sind es Hasen.“
„Die haben kurze Ohren und sind rabenschwarz, es sind Kaninchen.“
Er liegt immer noch am Boden, muss schon ein ganz steifes Genick haben. „Wie heißen sie?“
Charlotte hockt sich vor ihn und zeigt nacheinander auf die Tiere. „Artos, Portus, Aramis und D'Artagnan – die vier Musketiere.“
Der Eichhörnchenmann, denn jetzt ist Charlotte sich sicher, grinst zustimmend und reckt den Kaninchen einen Daumen entgegen. Endlich steht er auf und schaut sich suchend um. „Wo ist meine Mutter?“
Charlotte stutzt, schaut ihn sich genauer an. Langsam antwortet sie:
„Sie sucht nach Ihnen. Rechts die Straße hoch, immer geradeaus, dann laufen Sie sich bestimmt über den Weg.“
Er nickt und rennt ohne ein weiteres Wort los, stürzt geradezu aus der Hofeinfahrt und schlenkert dabei wild mit den Armen. Charlotte geht ihm kopfschüttelnd nach, überlegt, dass sie ihn lieber fahren solle.
Sie will Tristan gerade absetzen, da hört sie ein scharfes Quietschen. Ein Rutschen und Knirschen, metallisches Scheppern, am Ende einen dumpfen Aufprall. Jetzt erstirbt das blubbernde Geräusch eines Traktors, den sie vorher gar nicht wahrgenommen hat. Tristan kauert in Charlottes Arm. Die wägt ab, was passiert sein könnte. Zögernd geht sie Richtung Straße, versucht, etwas durch die Buchenhecke zu erkennen.
Kaum durch die Einfahrt getreten, blockiert ihr ein quer auf der Straße stehender Anhänger die Sicht. Von der anderen Seite nimmt sie derbes Fluchen und ein zunehmend lauter werdendes Schluchzen war. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat sich ein Traktor tief in den Graben gebohrt, nachdem er den Knick durchbrochen hat. Bauer Storjohann schlägt wild fluchend auf die dichte Hecke aus Haselnuss und Holunder ein, zetert laut aus dem Gebüsch. „Du Dösbaddel! Wenn ich dich zu fassen krieg. Ich zeig dich an, dat kannst Du mi glöven.“
„Alles in Ordnung bei dir, Jörn?“
„Klei me am Mors! Wenn ich den Typen zu fassen krieg ... Halt ihn ja fest.“
Charlotte dreht sich zu dem wimmernden jungen Mann um. Zitternd sitzt er auf dem Bordstein vor der Gärtnerei. Der schweren Anhänger ist wahrscheinlich knapp an ihm vorbeigerutscht. Er wiegt sich vor und zurück, beide Hände vors Gesicht geschlagen.
Charlotte, immer noch mit Tristan auf dem Arm, flucht leise, geht aber auf ihn zu. Ein Kontrollblick zeigt keine offensichtlichen Verletzungen.
„Alles in Ordnung? Da haben Sie aber ganz viel Glück gehabt!“
Tristan maunzt.
Langsam senken sich die Hände. Das Gesicht des jungen Mannes ist völlig verheult, die Augen rot, Schnodder läuft aus seiner Nase. Aber er blickt dem Kater tief in die Augen und hebt vorsichtig einen Mundwinkel. „Kuscheln?“
Charlotte schaut zwischen Tristan und dem Mann hin und her. Wahrscheinlich ist eine Ablenkung jetzt gut für den Erschreckten? Aus der Hecke ertönt immer noch Jörn Storjohanns Fluchen. „Na dann.“ Sie drückt dem schniefenden Mann Tristan in den Arm. „Gut aufpassen!“ Für wen auch immer dieses Kommando gilt, es scheint zu funktionieren. Der Mann hält den Kater wie ein Baby im Arm und redet sanft auf ihn ein. Tristan lässt es sich gefallen, nur seine Schwanzspitze zuckt.
„Bin da.“ Charlotte zieht aus ihrer Gesäßtasche die Rosenschere und macht sich ,daran, den Holunder so zu beschneiden, dass Jörn aus den Büschen entkommen kann. Der Bauer klettert grollend und mit wildem Blick zurück auf die Straße.
„Na warte, Du Idiot …“ Jörn Storjohann stürzt in Richtung des meterhohen Findlings, auf dem sich Tristan ausgestreckt hat und von dem leise summenden Mann hingebungsvoll gestreichelt wird. Charlotte tritt dem Bauer in den Weg, greift energisch in den Pullover und bringt ihn so zum Stehen.
„Ich glaube, das trifft es ziemlich genau.“
Storjohann schaut sie an. „Was meinst du damit. Der ist mir ohne zu gucken vor den Trecker gesprungen, fast hätt' ich ihn platt gemacht.“
„Schau ihn dir an, er ist mindestens Mitte zwanzig und benimmt sich wie ein Kind. Da stimmt was nicht.“
„Ja, aber …“
„Nix aber! Lass uns den Hänger abkoppeln und nen Stück zurückschieben. Zum Glück ist der leer. Ich hole meinen ‚Famulus‘-Trecker.“
Storjohann nimmt seine Schirmmütze ab und kratzt sich an der Stirn. Sein Blick hängt immer noch an dem jungen Mann. „Magst wohl recht haben, da wackeln ein paar Latten. Aber passiert ist ihm doch nix, oder?“ Jetzt schaut Jörn doch besorgt.
Mit vereinten Kräften räumen sie die Straße und machen das Gespann wieder fahrtüchtig. Storjohann steigt kopfschüttelnd auf seinen Traktor und fährt davon. Charlotte atmet auf und will endlich an die Arbeit gehen, als Tristan laut und protestierend maunzt. Stimmt, das muss ja auch noch geklärt werden. Sie tritt an den großen Findling heran. Der Mann baumelt mit den Füßen und lächelt ihr zu. Tristan springt ihr auf die Schulter.
„Ich bin Charlotte.“ Sie hält ihm die Hand hin.
Mit einem völlig entspannten Lächeln meint der Mann: „Ich heiße Olaf. Und ich will zu meiner Mutti.“
„Okay, dann lass uns zu deiner Mutti fahren.“ Sie zeigt auf den alten Transporter.
Irgendwie hat Olaf es geschafft, Tristan mit ins Auto zu locken. Jetzt schnüffelt der Kater an Kisten mit Winterheide und Kartoffeln. „Untersteh dich!“, droht ihm Charlotte, denn ab und an markiert der Kater sein Revier. Laut schnurrend legt er sich zwischen die Vordersitze.
Olaf dreht sich hektisch hin und her, erfragt alles, was er sieht. „Was riecht hier? Warum ist der Baum so rund? Wem gehört das Pferd? Was ist eine Gärtnerei?“
Charlotte schwirrt der Kopf. „Ganz schön neugierig. Das sind die Hornveilchen, der Baum ist eine Kopfweide, das Pferd ist eines vom Hof Heinken und in einer Gärtnerei wachsen Pflanzen.“ Erstaunt stellt Charlotte fest, dass ihr Olafs Neugierde gefällt. Vor der nächsten Fragewelle taucht die Frau vom Hafen auf, die Charlotte nun als Olafs Mutter erkennt.
„Da!“ Mit einem breiten Grinsen und strahlenden Augen zeigt Olaf durch die Windschutzscheibe auf die völlig zerzauste Frau auf der Straße. Charlotte hält an und folgt dem aus dem Auto springenden Olaf zum Haus der alten Bold. Dann sind dies hier wohl die neuen Besitzer, irgendwer hatte es erwähnt. Mutter und Sohn stehen eng umschlungen vor dem blauen Gartentor. Olafs Mutter strahlt Charlotte entgegen. „Danke! Mit Ihrer Hilfe hatte ich nicht gerechnet.“
„Charlie hat mich nach Hause gebracht.“ Olaf grinst.
Nun ist es an der Gärtnerin, betreten mit den Fuß im Sand zu scharren. „Sorry, ich war vorhin in Eile und mit Kindern habe ich es nicht so.“
„Ich hatte mich ja in der Aufregung auch nicht richtig ausgedrückt.“ Sie drückt Olaf noch einmal an sich und schiebt ihn dann entschlossen Richtung Haustür. „Los, rein mit dir!“
Sie blickt ihm mit einem erleichterten Aufatmen hinterher. „Er will nicht mehr in die Behindertenwerkstatt, aber bisher ist er noch nie weggelaufen.“
„Aber er ist alt genug zum Arbeiten, er muss sich doch irgendwann seinen Lebensunterhalt verdienen.“ Charlotte runzelt die Stirn.
„Ja, genau. Aber in der Werkstatt gibt es nur ein Taschengeld.“
„Hab ich mich noch nie mit beschäftigt, aber dafür kommt er doch unter Menschen.“
„Naja, aber nur in einer geschlossenen Gruppe. Er hasst seinen Schwerbehinderten-Ausweis, hat sich auch so einen ‚Schwer-in-Ordnung-Ausweis‘ gebastelt.“
„Na, Hauptsache er ist wieder heil zu Hause. Ich muss los.“ Sie verabschiedet sich mit einem knappen Winken und sammelt im Vorbeigehen Tristan ein, der neugierig den unbekannten Gartenzaun untersucht. Endlich kann sie sich um die Gärtnerei kümmern, die Arbeit erledigt sich ja nicht von allein.
Am nächsten Morgen ist Charlotte früh wach und erledigt erst einmal die leidige Büroarbeit. Zumindest eine einfach Exceltabelle für die Buchhaltung und die E-Mail beherrscht sie, aber mittlerweile sollte sie wohl auch mehr als eine Visitenseite im Web haben. Aber irgendwie fehlt ihr der Mut und die Kraft, sich damit zu beschäftigen. Für den Rest des Tages steht Topfen auf dem Arbeitsplan. Sie hatte einen späten Satz Staudenstecklinge gemacht und denen wird es in den Jungpflanzentöpfen zu eng. Noch haben sie nur fünf, sechs Blätter, ein paar Zentimeter Stängel und ein paar Wurzeln. Aber mit kräftiger Erde und einem größeren Topf werden in einem knappen Jahr ordentliche Pflanzen daraus. Zum Glück ist es noch mild und sie kann die jungen Pflanzen im Folientunnel überwintern. Aber erst einmal müssen die vielen Minipflänzchen getopft werden. Und das heißt eine Menge Erde bewegen, Töpfe schleppen und Karre fahren. Zumindest ist der Arbeitsplatz vorm Schuppen angenehm windgeschützt und wird von den ersten Sonnenstrahlen erwärmt.
Es gibt nichts Schöneres, als in der Herbstsonne zu stehen, sich den Arbeitsplatz so effektiv wie möglich vorzubereiten und dann richtig schnell zu arbeiten. Als Beidhänderin hat Charlotte da ein paar Vorteile. Das ist nun natürlich egal, es ist ja niemand da, mit dem man um die Wette topfen könnte. Früher, ja früher hat sie sich mit ihrer Schwester wahre Wettkämpfe geliefert. Und gleichzeitig war die Arbeit viel schneller fertig. Das Lächeln über die Erinnerung erlischt, als das Bild ihrer Schwester vor ihrem inneren Auge entsteht. Ein schnelles Kopfschütteln. „Tristan?“ Wo steckt denn der Kater, er war doch mit rausgekommen, oder? Die Kaninchen sind auch nicht mehr zu sehen, aber jetzt wird erst einmal getopft.
Mit der rechten Hand füllt Charlotte den Topf mit Erde, mit der Linken greift sie eine Jungpflanze und drückt sie in die Mitte des viereckigen Plastiktopfes. Dann mit beiden Händen etwas Erde auffüllen, leicht andrücken, dabei den Topf einmal auf dem Tisch aufklopfen. Während sie mit Rechts schon den nächsten leeren Topf greift, stellt die linke Hand die fertig versorgte Pflanze in eine Kiste. Und das Ganze wieder von vorne. Es macht wirklich Spaß, den effektivsten Weg herauszufinden. Wenn die Kiste gefüllt ist, hebt Charlotte sie auf die alte Plattenkarre und fährt acht Kisten gleichzeitig zum Folientunnel im hinteren Teil der Gärtnerei. Dort entdeckt sie in der Sonne auch die ‚Vier Musketiere‘, sie haben sich als zweites Frühstück einen der Rasenwege beim Kompost ausgesucht. Tristan bewacht sie vom Holzstapel aus.
Als sie von der dritten Tour zurückkommt, hört sie ein zögerliches Rufen: „Hasen! Wo seid ihr?“ Ruhe. „Musketiere? Ich will mit euch spielen.“ Charlotte fängt an zu schmunzeln. Eigentlich hat sie erwartet, dass Olaf mit seiner Mutter um die Hausecke kommt, aber er steht allein vor ihr.
Den Kopf schief gelegt, inspiziert er ihren Arbeitsplatz. „Was machst du, Charlie?“
„Ich topfe Glockenblumen und Sterndolden.“
„Warum?“
„Sie brauchen mehr Platz, damit sie wachsen können.“
„Ich will auch ein größeres Bett, damit ich wachsen kann.“
„Okay, sag es deiner Mutter. Wo ist sie?“
Olaf guckt weg und schiebt mit den Schuhen Erde hin und her.
„Weiß sie, wo du bist?“
„Vielleicht.“
„Olaf, sie macht sich Sorgen.“
„Vielleicht.“
Charlotte stöhnt auf und wischt sich die Erde an der Latzhose von den Fingern. Ein Pfiff und Tristan erscheint, gefolgt von drei Kaninchen. Noch ein Pfiff, und auch der vierte Hoppler gehorcht. Olaf strahlt. Charlotte drückt ihm den Kater in den Arm und scheucht ihn Richtung des Transporters.
„Los, ich fahre dich schnell nach Hause, in der Zeit kannst du mit Tristan schmusen.“
„Ich will hierbleiben.“
„Und ich will Urlaub. Wir kriegen beide nicht unseren Willen, also los.“
Olaf grummelt ein „Gemein!“, und steigt widerwillig ins Auto. Charlotte fährt zu dem ihr bekannten Haus, Olafs Mutter kommt ihr aufgeregt entgegen.
„Entschuldigung! Ich hätte es wissen müssen. Olaf war gestern ganz aufgeregt und hat andauernd von den vier Musketieren erzählt. Hat er was angestellt?“ Ihr sprudeln die Sätze nur so heraus.
„Nein, alles gut. Ich habe nur keine Zeit, die Arbeit ruft.“ Sie schaut Olaf auffordernd an, der im Auto sitzen geblieben ist und sein Gesicht hinter dem aufmerksam beobachtenden Kater versteckt.
„Komm! Du darfst jetzt fernsehen, während ich zum Arzt fahre.“ Olafs Mutter beugt sich verschwörerisch zu Charlotte. „Beim letzten Mal war er mit zum Frauenarzt und irgendwas muss im Wartezimmer passiert sein. Als ich rauskam, schauten alle betreten zur Seite und Olaf war ganz verstört. Olaf, nun komm schon!“
Der grummelt nur, setzt Tristan vorsichtig auf den Fahrersitz und schaut Charlotte mit bettelndem Blick an.
„Naja, im Prinzip könnte Olaf auch bei mir warten. Die Tiere freuen sich über ein paar Streicheleinheiten.“ Zu Olaf gewandt droht sie mit dem Finger: „Aber nicht abhauen!“
Mit einem strahlenden Lächeln setzt sich Olaf den Kater wieder auf den Schoß: „Los!“
Während Tristan sich aufs Schuppendach zurückgezogen hat und sich von zu viel Streicheleinheiten erholt, liegen die vier Musketiere dicht an Olaf geschmiegt auf einer Holzplatte vorm Schuppen. Auf dem nackten Erdboden ist es Charlotte für den jungen Mann einfach zu kühl. Sie kann tatsächlich in Ruhe weiter topfen. Als die Erde auf dem Tisch zu Ende geht, füllt sie aus dem Bigbag nach. Töpfe liegen im Lager neben dem Schuppen und die Jungpflanzen stehen im ersten Frühbeet. Jedes Mal, wenn sie etwas holt, folgt ihr Olaf und manchmal sogar die Kaninchen. Der junge Mann beobachtet ihr Vorgehen ganz genau. Es dauert nicht lange, da bringt er die Töpfe aus dem Topflager.
„Ja, das sind auch Vierecktöpfe, aber die falsche Größe. Nimm dir einen Mustertopf mit, dann kannst du die Richtigen erkennen.“
Diesmal klappt es perfekt. Erde auffüllen macht ihm riesigen Spaß, denn genau wie Charlotte, schaufelt er diese aus dem Riesensack mit bloßen Händen in den Dreißig-Liter Eimer.
Er steckt die Hände in die warme Erde, zieht sie wieder heraus, schnuppert an dem lockeren Sand-Erdgemisch und freut sich genauso offensichtlich an dem satten Geruch, wie Charlotte.
Und erstaunlicherweise ist Arbeiten mit ihm ruhig. Er redet auf die Kaninchen ein, lockt Tristan und summt vor sich hin, aber erst nach gut anderthalb Stunden sagt er: „Charlie, Olaf hat Hunger.“
„Oh!“ Ein Blick zur Uhr, Charlotte hat gar nicht bemerkt, dass es schon 13.00 Uhr ist. „Du hast Recht, warte mal.“
Sie spült ihre Hände in der Regentonne ab und geht Richtung Haus. Als ihr auffällt, wie harmonisch die Zeit vergangen ist, muss sie unwillkürlich schmunzeln. Mit der Keksdose unterm Arm und zwei großen Pötten Kakao kommt sie aus dem Haus. Im Vorbeigehen greift sie noch ein Bund Möhren aus dem Tierfutterschrank.
„Komm, wir haben uns eine Pause verdient. Du warst eine große Hilfe.“ Olaf schaut sie mit großen Augen an.
„Wir waren gut?“
„Ja, richtig gut.“ Sie hält ihm den Becher mit Kakao und die Keksdose hin. Aber Olaf greift zuerst nach den Möhren und zeigt fragend auf die Kaninchen.
„Ja, die sind für die Musketiere.“
Olaf zieht umsichtig je eine Möhre mit Laub aus dem Bund und gibt sie den Tieren. Dann bricht er von einer das Blattwerk ab und schiebt sie sich genüsslich in den Mund. „Olaf ist das fünfte Musketier.“ Dabei hält er Charlotte die offene Hand hin und sie klatscht ihn lächelnd ab.