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Das fünfte Gebot
Tom piepte mich an, und als ich ihn sah, ahnte ich, dass er heute die Frage stellen würde. Früher oder später taten sie das alle, wenn sie zu viel Aufmerksamkeit erhielten. Die Vorausberechenbarkeit war ihre Schwäche.
Im Laufe der Zeit hatte Tom sich zu meinem Main Actor entwickelt. Unsere Ansichten waren zu 90 Pro kompatibel, innerhalb seines beschränkten Weltbildes. Die restlichen 10 Pro reichten völlig, um unsere Chats interessant zu halten.
Sein Leben gestaltete Tom weitgehend nach dem alten Trial&Error-Prinzip. Im Moment eruierte er die Wirkung eines schmutzstarrenden Clochard-Outfits in Kombination mit Hygiene- und Nahrungsabstinenz auf seine Umwelt. Ich komme damit besser klar als mit seiner letzten Phase, als er 2 Wochen lang eine völlig glatte Gesichtsmaske trug, die das Licht nur in seine Richtung durchliess.
"Hi", krächzte Tom mit glaubwürdiger Der-Morgen-nach-dem-Alkoholexzess-Stimme.
"Hallo Tom", tippte ich zurück. "Siehst fürchterlich aus heute."
"Ahja, findest du?" Tom suchte in den Taschen seines speckigen Mantels nach seinen Zigarillos, fand sie und steckte sich eine an. "BB, ich möchte dir heute eine Frage stellen. Eine Kleinigkeit nur, nichts, was dich beunruhigen müsste." Er saugte an seinem braunen Glimmstengel und inhalierte tief. "Also, was sagst du dazu, Brüderchen?"
BB nannte er mich, seit er Orwells "1984" entdeckt hatte. Eine Weile konterte ich, indem ich ihn Winston nannte, aber unsere Gespräche tendierten dann immer zu den düsteren Gegenden der Philosophie, also ließ ich es schließlich wieder.
Ich hätte den Chat unterbrochen, wäre mir nicht vollkommen klar gewesen, dass er das nächste Mal wieder fragen würde. Waren sie einmal so weit, dann griff keine kognitive Rekonfiguration mehr.
"Stell deine Frage", tippte ich resigniert.
"Was ich von dir wissen möchte, BB, und du kannst mir vertrauen, dass es mich wirklich beschäftigt" Tom neigte ein wenig zur Weitschweifigkeit. "Die Frage also, deren aufrichtige Beantwortung mir am Herzen liegt, lautet: Bist du, BB, mein Freund?"
Ich zögerte. Sein Freund? Eine sonderbare Frage. Natürlich war ich sein Freund. Ich wusste praktisch alles über ihn. Er war mir näher als irgendjemand sonst. Die Fragen der Anderen waren immer in eine völlig andere Richtung gegangen.
"Du weißt, wer ich bin", sondierte ich vorsichtig.
Die offizielle Version war, dass sie alle Teilnehmer einer psychologisch-soziologischen Langzeitstudie waren. Meine getippten Texte wurden in eine synthetische, aber dennoch angenehme Stimme konvertiert und an ihre Standard-Ohrimplantate übermittelt. Theoretisch konnte man sich den Umweg über die Tastatur auch sparen und direkt sprechen, aber leider war die Sprach-Analyse weitaus komplexer als deren Synthese, so daß es zu oft zu Mißverständnissen kam.
"Weiß ich das?" antwortete Tom gelassen. "Ich hab mir so meine Gedanken gemacht, Büderchen." Er nahm noch einen Zug und blies den Rauch durch die Nasenlöcher wieder hinaus.
"Was für Gedanken, Tom?"
"Nun, haken wir also erst mal die trivialen Sachen ab. Diese Studie", Tom zeichnete mit den Händen Gänsefüßchen in die Luft, "ist ein Fake."
"Wie kommst du darauf, wir würden dich täuschen wollen?"
"Na komm, BB, was soll das für eine Studie sein, hm? Du beobachtest mich, sprichst mit mir, beehrst mich aber nie mit einem persönlichen Besuch. Ich erlebe keine komischen Situationen, die ihr konstruiert habt, um mal zu sehen, wie der gute Tom damit klarkommt." Tom schnippte die Kippe achtlos weg und steckte sich gleich eine neue an.
"Wie du weisst, dürfen wir.."
"Schon klar, schon klar, BB", fuhr Tom fort, bevor ich antworten konnte, "ihr dürft mir nichts über die Ziele der Studie sagen, um das Ergebnis nicht zu verfälschen." Er lachte kurz auf, was einen kleinen Hustenanfall nach sich zog. "Genauso sind die komischen Situationen natürlich nicht so komisch, daß ich Verdacht schöpfen würde. Du willst es mir also nicht leicht machen, was?"
"Ich will dir klarmachen, dass du auf dem Holzweg bist, Tom." Ich wünschte, ich könnte ihm die Wahrheit erzählen, ihm die drohenden Konsequenzen seiner gefährlichen Gedanken verdeutlichen.
Tom betrachtete nachdenklich die Glut seines Zigarillos. "Mir ist vor einiger Zeit was Merkwürdiges passiert. Ich bin gestolpert, als ich sturzbesoffen durch die Wohnung torkelte. Hab mich langgelegt und schlug mit dem Kopf auf die Tischkante. Tat höllisch weh, der arme Tom hat geblutet, Brüderchen, und das nicht zu knapp."
Ich ahnte, was jetzt kommen würde, antwortete aber noch nicht.
"Nun", fuhr Tom fort. "ich schnappte mir die Tischdecke und hielt sie an die Platzwunde. Mir war etwas schwindelig, also legte ich mich auf die Couch. Kurz darauf muss ich eingeschlafen sein. Und am nächsten Morgen war die Wunde weg." Tom berührte seine Stirn. "Verstehst du? Nichts mehr zu sehen, kein Riss, kein Blut. Und weisst du, was das Erstaunlichste war? Was heute für mich wirklich verblüffend ist? Ich fand das absolut normal."
Tom nahm einen weiteren Zug von seinem halb gerauchten Zigarillo. "Der arme Winston Smith wurde ziemlich hart rangenommen, Folter und Mißhandlung und all das". Tom hielt den Zigarillo zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Mit der Glut voran näherte er sie dem Handrücken seiner linken Hand. Er verzog das Gesicht, als die Glut die Haut berührte, drückte den Zigarillo aber dennoch ganz aus. Er liess die Kippe fallen und wischte die Asche von seiner Brandwunde.
"Winston brauchte lange, lange Zeit, bis er sich von seinen Verletzungen erholt hatte. Leider stand ihm das Schlimmste noch bevor." Die Brandwunde wurde allmählich kleiner, bis sie schließlich verschwunden war.
"Und so frage ich dich, BB, wie kann das sein?" Er wedelte mit der linken Hand in der Luft herum. "Kannst du mir das sagen?"
"Das Buch spielt in der Vergangenheit, damals waren sie noch nicht so weit", entgegete ich lahm.
"Und heute haben wir Nanobots oder sowas, hm? Wuseln da wohl in mir rum, mobile Reparaturtrupps für Tom." Nachdenklich tippte er mit dem Zeigefinger auf der Sessellehne herum. "Was ist, wenn ich sterbe? Gebe ich dann den Phönix aus der Asche?"
"Wenn du stirbst, bleibst du tot. Das ist alles sehr kompliziert, Tom, aber du musst mir vertrauen, dass alles in Ordnung ist. Keine Nanobots, aber die Medizin ist heute trotzdem zu Dingen in der Lage, die vor fünfzig Jahren wie Magie gewirkt hätten."
Ich sah es ihm an, dass er das nicht schluckte. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
"Ich habe mal gehört", fuhr Tom fort, "dass in dem Moment, in dem ein Mensch sich selbst versteht - wirklich versteht -, er daran zugrunde geht."
Ich dachte nach. Der Gedanke schien mir keineswegs abwegig. Sich selbst zu verstehen, hieß, den Menschen zu verstehen, der sich selbst verstand. Ad Infinitum.
"Hast du dich verstanden?", fragte ich.
Tom lachte heiser. "Nein, ich glaube nicht. Wie stehts mit dir?"
"Deiner Theorie nach sollte man es besser erst garnicht versuchen."
"Danke für die Warnung, Brüderchen."
"Ist damit also deine Frage beantwortet?"
Tom stand auf und wanderte unruhig im Zimmer umher.
"Ich muss das Risiko eingehen", antwortete er schließlich. Er setzte sich wieder und starrte den Boden vor seinen Füßen an.
Ich nickte, obwohl er das natürlich nicht sehen konnte. Würde ich anders handeln an seiner Stelle? Ich atmete tief ein. Tom hatte sich weiter entwickelt als je einer vor ihm. Ich wollte ihn nicht verlieren, aber seine Chancen standen schlecht. Ich mochte ihn sehr.
"Das Spiel heisst 'Wahrheit', Tom. Ehrliche Fragen, ehrliche Antworten. Was möchtest du wissen?"
"Wer bist du?"
Großes Kaliber gleich zu Beginn. Die Banalität einer ehrlichen Antwort erschreckte mich.
"Ich beobachte dich, spreche mit dir. Ich nehme teil an deinem Leben und versuche, es in die richtigen Bahnen zu lenken."
"Woran erkennst du, was richtig ist für mich und was nicht?"
"Ich verfüge über eine Perspektive, die weit über das hinausgeht, was du dir vorstellen kannst."
Männer mögen die Macht. Macht bedeutet Kontrolle, Einfluss, Kribbeln in den Lenden. Männer geben gern mit ihrer Macht an. Ich schämte mich.
Tom schwieg. In Gedanken versunken trommelte er wieder mit den Fingern auf der Lehne herum.
"Du hast meine erste Frage nicht beantwortet", murmelte er schließlich.
"Mehr kann ich...", fing ich an, zögerte und löschte den Text wieder. Ehrliche Antworten hatte ich ihm versprochen, doch wie weit konnte ich gehen? Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat.
Tom riss mich aus meinen Gedanken. Er sprang auf und rief laut: "Hey BB, vielleicht kannst du mir wenigstens dies beantworten: Warum glaubst du, das Recht zu haben, dich in mein Leben einzumischen?"
Meine Finger wollten eine Antwort tippen, doch ohne Signale vom Kopf zuckten sie nur hilflos über die Tasten, ohne sie zu drücken. Mir war warm, besonders im Gesicht. Ich musste nachdenken, doch Tom liess mir keine Zeit.
"Was hat es mit den Wunden auf sich? Machst du das?"
"Nein, Tom", tippte ich müde, "das ist eine Option, um Leerlauf zu vermeiden."
"Wovon redest du?", schrie Tom mich an. Er atmete zu schnell, zitterte am ganzen Körper. Seine physischen und mentalen Kennzahlen waren durchweg in einem besorgniserregenden Bereich. Ich justierte vorsichtig einige, um einen Kollaps zu verhindern. Er beruhigte sich wieder etwas, setzte sich und steckte sich mit zittrigen Händen einen Zigarillo an.
"Wer bin ich?", murmelte Tom und sah auf.
Showdown. Konnte er die Wahrheit ertragen? Konnte ich es? Was spielerisch begonnen hatte, war schon lange kein Spiel mehr. Es ging zu weit.
"Tom, wie würdest du Leben definieren? Was unterscheidet einen Menschen von, sagen wir, einem Stein?"
Tom dachte lange nach. "Nun", begann er langsam, "du meinst vermutlich Eigenschaften wie Intelligenz, Gefühle, Bewusstsein."
"Unter anderem." Ich holte tief Luft. Es war soweit, sinnlos, es noch weiter hinauszuzögern. "Weisst du, was eine KI ist?"
Tom antwortete nicht. Die Kippe in seiner Hand verglimmte ungeraucht, Asche fiel der Schwerkraft gehorchend auf den Boden.
"Tom?", tippte ich.
"Künstliche Intelligenz", krächzte er leise. "Ein Programm?"
Seine Parameter begannen, verrückt zu spielen. Motorische Aktivität war praktisch nicht mehr vorhanden, abgesehen von den autonomen Regelkreisen wie Atmung oder Herzschlag. Sämtliche Tom zur Verfügung stehenden Ressourcen verbrauchte er mental.
Sein Kopf sank auf die Brust, ein Speichelfaden lief ihm aus dem Mundwinkel in den Schoß und vereinigte sich mit dem wachsenden Urinfleck dort.
Hektisch versuchte ich, Prozessprioritäten neu zu verteilen. Ich entzog ihm KI-Rechenzeiten und ließ sie seinen physischen Teilsystemen zukommen. Zwecklos. Er begann, unkontrolliert am ganzen Körper zu zucken, schlug sich mit den Knien die Nase zu Brei. Die Geist-Körper-Kopplung war vollständig unterbrochen.
Die Buchstaben auf der Tastatur vor mir verschwammen, ich musste mehrmals blinzeln, bevor ich wieder tippen konnte.
Ich schrieb: "Ich bin dein Freund, Tom."
Rollback.
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18.05.2021: checking objects.... 31,325,789 objects found
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18.05.2021: deleting 12 objects... done
18.05.2021: checking characters... 47,899 characters found
18.05.2021: checking characters... 1 structure error found
18.05.2021: deleting "Tom"... done
18.05.2021: - entering recursion level 1
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18.05.2021: - checking world logical structure... 65 obsolete cross references found
18.05.2021: - deleting 65 references... done
18.05.2021: - checking objects.... 31,325,777 objects found
18.05.2021: - checking objects.... 521 obsolete objects found
18.05.2021: - deleting 521 objects... done
18.05.2021: - checking characters... 47,898 characters found
18.05.2021: - leaving recursion level 1
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18.05.2021: leaving hibernation mode
18.05.2021: running "Little Computer People"
18.05.2021: Version 8.1 Build 4132.10 (localization: german)
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18.05.2021: game world ready