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Das ewige Ringen zwischen Kunst und Kommerz
Das ewige Ringen zwischen Kunst und Kommerz
„Guten Tag, John! Bitte nehmen Sie Platz!“
„Danke, Mister Matthews!“
„Ich bitte Sie, John! Wir hier in Hollywood sind eine einzige große Familie! Nennen Sie mich Bob!“
„Oh, vielen Dank, Bob!“
„Dafür nicht! So, ich habe hier Ihr neues Drehbuch vorliegen.“
„Ja, gefällt es Ihnen, Bob?“
“John, wir schätzen Sie als Autoren, uns ist auch bewusst, dass Sie Preise für ihre Romane erhalten haben, von denen andere nur träumen können, aber ...“
„Ja?“
“Wie soll ich am besten anfangen? Vielleicht so: Welches ist der erfolgreichste Film aller Zeiten, John?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, Bob ...“
„Ich sage es ihnen, John: die 745. Verfilmung des Titanic-Untergangs! Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?“
“Nicht so ganz, Bob ...“
„Ich will damit sagen, dass die Zuschauer heutzutage nichts wirklich neues wollen, vor allem nichts tiefschürfendes.“
„Also gefällt Ihnen mein Drehbuch nicht?“
„Doch, doch! Ich gebe zu, ihre Geschichte über die Freundschaft zwischen einem taubstummen Jungen und seinem bulimiekranken Meerschweinchen hat mich tief bewegt, Tränen standen mir in den Augen, ich will den Film auch machen, aber dafür werden wir kein breiteres Publikum gewinnen können! Er wird der geistigen Elite vorbehalten bleiben. Er ist zu deprimierend. Das ist nun mal die traurige Tatsache!“
„Aber Titanic war doch auch ...“
„Titanic war traurig, klar, aber grandiose Effekte haben’s damals rausgerissen. Ich wüsste nicht, wie wir das übertreffen sollten. Ihre Geschichte gibt es nicht her, dass wir mit großartigen PC-Leistungen begeistern könnten, aber ..."
"Bob, ich ..."
"Gleich, John! Heutzutage verlangen die Leute bei traurigen Filmen aber wenigstens nach Computereffekten. Ich habe damals schon zu Steven gesagt, 'Steven', habe ich gesagt, 'Du machst mit Deinem blöden PC-Spielereien irgendwann noch das Medium Film kaputt'!
Jetzt lechzen die Zuschauer danach. Damit wir uns richtig verstehen, wir wollen diesen Film realisieren. Das Skript ist künstlerisch wertvoll, wir können auch wieder etwas Reputation in diesem Bereich brauchen.
Die Story hat große Gefühle und Tiefgang. Ich sehe es schon vor mir: die Sterbeszene drehen wir in Schwarzweiß, ebenso die traurigen Rückblenden auf die schlimme Kindheit des Meerschweins, sein Dahinvegetieren in einer Zoohandlung, die falschen Freunde, die selbstzerstörerische Abhängigkeit von Salzlecksteinen, das späte Glück als Freund des tauben Bengels, der ihn aus dem Teufelskreis rausholt und dann das schmerzhafte Ende ... Das wird ein wichtiger Film, der im Gedächtnis bleibt. In einigen Jahren wird „Guinea-Pig“ dann in einem Atemzug mit „Citizen Kane“, „Gone with the wind“ oder „Auf brennendem Eis“ genannt werden. DAS Problem überhaupt ist aber halt, dass wir keine beeindruckenden Computereffekte einsetzen könnten, die die Masse anlocken.“
„Sollte es denn nicht in erster Linie um die tiefere Bedeutung der Geschichte gehen als um Effekthascherei? Ich meine, dass Werte wie Freundschaft und Zusammengehörigkeit vermittelt werden?“
„Theoretisch schon, aber mit der Einstellung können Sie vielleicht einen Leser begeistern, aber keinen Kinogänger. Wenn dieser Film beim breiten Publikum ankommen soll, brauchen wir massenhaft Special Effects.“
„Die könnte man doch zur Not unterbringen!“
„Wo denn zum Beispiel?“
„Nehmen Sie doch nur die Sterbeszene: Das Meerschweinchen, bis auf die Knochen abgemagert, wie es an einem Beatmungsgerät in dem Bettchen liegt, das der Junge ihm geschnitzt hat“
"Aber dafür würden wir doch nie im Leben Computereffekte einsetzen!"
„Wieso? Wie wollen Sie die Szene denn sonst drehen?“
„Wir lassen natürlich ein richtiges Meerschweinchen hungern, bis es nur noch Haut und Knochen ist. Wo wäre das Problem? Ein Bettchen basteln unsere Bühnenausstatter in null komma nichts.“
„Ja, aber das Meerschweinchen wird sich ja nicht einfach ins Bett legen, so schauspielbegabt sind diese Tiere nicht.“
„Papperlapapp! Wir sorgen natürlich dafür, dass der kleine Racker "bettlägerig" ist. Wir befestigen einen dicken Streifen doppelseitiges Klebeband am Rücken des Tieres und pressen es aufs Bett. Sie werden staunen, wie gut das Viech liegen bleibt!“
„Das hört sich ziemlich fies an. Und das Beatmungsgerät?“
„Wird auch gebastelt.“
„Und das befestigen Sie dann mit doppelseitigem Klebeband am Schnäuzchen oder was?“
„Tsts. Aber nein, das geht doch nicht wegen der Großaufnahmen! In dem Fall steigen wir auf ein, zwei Tröpfchen Sekundenkleber um.“
„Das erstickt doch dann langsam aber sicher!“
„Ja, und DAS ist wirkliche Dramatik! Sein Sterben wird so echt aussehen, weil es so echt ist: die Angst, sein Todeskampf, Sie verstehen?“
„Das finde ich abartig! Außerdem wird es die Tierschützer auf den Plan rufen!“
„Ach was! Es wird den üblichen Hinweis am Filmende geben:
„No guinea-pigs were harmed or killed by making this film“ oder so ähnlich. Müsste ich noch mal mit unserer Rechtsabteilung abklären. Kinozuschauer schlucken alles, was man ihnen erzählt! Die haben damals sogar geglaubt, dass Schweinchen Babe sein Gnadenbrot auf einem walisischen Bauernhof bekommt!"
"Dem ist nicht so?"
"Ich bitte Sie, John! Als ob wir es uns leisten könnten, so mit Geld zu prassen! Es wurde auf der Weihnachtsfeier der Filmproduzenten Hollywoods serviert, dazu etwas Gemüse, in Butter zart angedünstet ...köstlich."
“Ich könnte es jedenfalls niemals mit meinem Gewissen vereinbaren, ein Tier für meine Visionen von ergreifender Unterhaltung leiden zu sehen. Kein Klebeband, kein Erstickungstod! Dafür werde ich nicht mein Einverständnis geben, niemals!"
"Eine Möglichkeit gäbe es noch den Film zu realisieren! Das gute wäre, wir würden erheblich mehr Kinobesucher locken!“
„Wirklich?“
„Klar, seit Keiko in die ewigen Fischgründe eingegangen ist, werden die Zuschauer eh manchmal zickig, wenn sie auch nur den Verdacht haben, dass Tiere für einen Film leiden mussten. Sie müssten allerdings ein paar künstlerische Zugeständnisse machen, auch wenn Sie als geistiger Urheber natürlich an Ihrem Werk hängen.“
„Welche?“
“Dustin!“
„Wie ... Dustin?“
„Na, wir brauchen einen echten Star! Dustin Hoffman!“
„Bitte?“
„Ja, John?“
„Bob, die Hauptpersonen sind ein achtjähriger Junge, das Meerschwein nebst Eltern und die gemeine Zoohändlerin! Wen zum Teufel soll Hoffman denn spielen?“
„Das Meerschwein!“
„Was? Das ist nicht Ihr Ernst?“
„Ich weiß, Sie wissen jetzt nicht, was Sie sagen sollen, dass der große Dustin Hoffman eine Rolle in einem Film nach ihrem Drehbuch übernehmen soll!“
„Nein, ich weiß nicht, was ich sagen soll, dass ein krankes Tier von Dustin Hoffman gespielt werden soll!“
„Sagen Sie mal, John: kennen Sie Dustin Hoffman? Wissen Sie was der Knabe drauf hat? Der hat schon einen Schizo gespielt, der weiß, wie man Kranke darstellt!“
„Ja, aber verdammt noch mal, doch keine kranken Tiere?!“
„John, das lassen Sie mal getrost unsere Sorge sein! Wir hier wissen, wie man Mythen schafft! Dustin kannst Du alles spielen lassen! Dem sagst Du: 'Dustin', sagst Du ihm, 'mach mir den Autisten', dann macht er Dir den Autisten!
Dem sagst Du 'Spiel morgen mal ein Baby', dann spielt er morgen mal ein Baby! Wissen Sie eigentlich, dass er schon fünfundvierzig war, als er „Die Reifeprüfung“ drehte, John?“
„Nein, dass wusste ich ehrlich gesagt nicht, Bob!“
„War er auch nicht, aber Sie haben’s geglaubt, was wohl eindeutig für seine schauspielerischen Qualitäten spricht!“
„Aber ich bitte Sie: ein Meerschweinchen! Wir reden doch von einem Meerschweinchen!“
„Ja und, ich kenne Schauspieler, die haben schon 'ne Flasche Kochsalzlösung in Emergency Room gespielt! Dem Dustin könntest Du sagen: 'Dustin!', könntest Du ihm sagen, 'Spiel morgen mal einen Anzugknopf' .. er würd’s machen ... und dafür den Oscar als bester Nebendarsteller einheimsen! So ein Kerl ist der Dustin!“
„Ja, aber ist er denn nicht ein bisschen groß für ein Meerschweinchen, Bob?“
“Hehe. Haben Sie 'ne Ahnung, John! Der ist so klein, dass er Schuhe mit Einlagen tragen musste, als er mit Anne Bancroft gedreht hat. Und die ist ja nun auch nicht gerade riesig!“
„Aber er braucht doch auch Fell!“
„Wissen Sie, John, ein wirklich guter Schauspieler wie der Dustin kann dieses Fell im wahrsten Sinne des Wortes spielen! Er kann einen das Fell spüren lassen. Mit seiner Schauspielkunst vermittelt er dem Zuschauer: Sieh her, Zuschauer, ich trage ein Fell! Ich spiele es nicht nur, Ich BIN dieses kranke Schwein!“
„Aha ...“
„Für die Rolle von Dustins böser Mutter könnten wir vielleicht eine Newcomerin gewinnen: sie war eigentlich für die Rolle von Freislers Frau in „Adolf lässt die Puppen tanzen“ besetzt, das Projekt hat sich aber irgendwie zerschlagen.“
„War Freisler denn verheiratet?“
„Keine Ahnung! Wenn nicht, könnte das vielleicht der Grund sein, warum ihre Rolle gestrichen wurde! Ha! Das täte der MGM gut! Mal wieder nicht recherchiert! Mann John, Sie haben richtige Insider-Qualitäten! So was brauchen wir hier! Na ja, jedenfalls hätte sie Zeit und Lust!“
„Die Meerschweinmutter zu spielen?“
„Ja.“
„Aha.“
„Ach ja, noch eine Kleinigkeit: Sie werden einsehen, dass man einen Dustin Hoffman nicht sterben lässt.“
„Und das soll heißen?“
„Wir müssten das Finale leicht abändern:
Dustin, ich meine das Meerschwein, überlebt durch eine rettende Knochenmarkspende des taubstummen Jungen!“
„Knochenmarkspende? Verdammt noch mal, es ist bulimiekrank!“
„Nein, nicht in der Version mit Dustin! Er lehnt es grundsätzlich ab, Rollen zu spielen, in denen er sich übergeben muss, weil sich das negativ auf sein Image auswirken könnte. Wegen der alten Saufeskapaden, Sie verstehen?“
„Äh, ja."
„Also, John? Es ist Ihre Entscheidung.“
...
"John?"
...
"Doppelseitiges Klebeband, sagten Sie ...?"