Das ewige Drama
Getrieben von stürmischem Wind schob sich die dunkle Wolkenbank an der Bergkette entlang. Das Grollen des nahenden Unwetters rollte über das Land hinweg. Längst war der Gesang der Vögel verstummt.
Einen schwarzen Umhang um seine hagere Gestalt geschlagen, stand ein Mann am Rand der alten Landstraße. Er blickte zum Himmel auf.
In der Ferne spalteten grelle Blitze das Dunkel der Gewitterwolken. Bald würde es Regen geben. In gespenstischem Licht tauchte das Umland auf um sofort wieder vom Mantel der Finsternis verschlungen zu werden.
Trotzig wogen sich die Baumkronen im Sturm. Unheilvoll raschelte das Laub der Büsche. Schäumend weiße Gischt überzog den nahegelegenen See. Weit entfernt, fahl wie der Schein alter Laternen, schimmerten die Lichter der Stadt.
Der Mann zog seinen kuttenartigen Umhang fester um seinen Körper. Tief hing die Kapuze in sein Gesicht. Abseits der Straße kletterte er einen steilen Hang hinab. Nach wenigen Minuten hatte er gefunden wonach er gesucht hatte. Er zog seine Kapuze ein Stück aus dem Gesicht und bückte sich zu der Leiche hinab. Mit kundigen Händen tastete er den leblosen Körper ab. Das Genick war gebrochen.
Die uniformähnliche Jacke des Toten war zerrissen. Er trug enganliegende Hosen und Reitstiefel. Der Mann warf ein weites, schwarzes Tuch über den Leichnam.
Der Wind peitschte durch die kleine Lichtung. Hufgeklapper drang durch das Dunkel des Waldes. Der Mann bei der Leiche hielt inne. Von der Straße klang das lauter werdende Rattern einer Kutsche. Langsam richtete er sich auf.
Ein schwerer Sechsspänner kam geradewegs über ihm auf der Straße zu stehen. Schnaubend stiegen die Rösser unter den zum Zerreißen gespannten Zügeln. Bewegungslos saß der Kutscher auf seinem Bock.
Die Tür des schwarzen Ungetüms wurde aufgestoßen und eine stattliche Gestalt sprang heraus. Im flackernden Licht der nahen Blitze hob sich ein galant gekleideter Mann vom schemenhaften Umriss seines Gefährtes ab. Kurz blieb er stehen um seinen Zylinder fester auf seinen Kopf zu drücken, dann setzte er sich langsam in Bewegung.
»Alter Freund«, rief er gegen den Wind den Hang hinab. »Lass ihn nur so liegen. Ich erledige das schon, der Kerl gehört mir.«
Der Mann bei der Leiche zeigte keine Regung. Lediglich sein Blick wanderte langsam zur Straße hinauf. Gleichgültig schüttelte er Kopf.
»Luzifer, dass du kommen würdest ahnte ich bereits.«
Ein schallendes Lachen rollte den Abhang hinunter. Der Mann an der Kutsche streifte seinen dunkelroten Samtanzug glatt und wuchtete seinen massigen Körper zu den beiden anderen hinab. Unten rammte er seinen Gehstock direkt neben der Leiche in den lehmigen Boden.
»Ich bin immer und überall«, antwortete er.
»Hier hast du nichts zu schaffen, Luzifer«, fauchte der Mann im schwarzen Umhang. »Also verschwinde!«
»Es gab Zeiten da hast du mich weit freundlicher begrüßt.«
»Es gab Zeiten, da hast du dich an deine Grenzen gehalten. Doch schwer gefallen ist dir ja immer schon.«
»Was«, zischte Luzifer, »willst du damit sagen, alter Mann?«
Blitzschnell hatte er seinen Stock aus der Erde gezogen und zwischen sein Gegenüber und die Leiche gebracht. Stumm blickte der andere Mann auf den Stock. Seine Kapuze flatterte im Wind.
»Du weißt genau wovon ich spreche und nun lass mich meine Arbeit voll-«
»Es tut mir leid«, unterbrach ihn Luzifer. Mit seinem Stock deutete er auf den Toten. »Aber er gehört jetzt mir. Ich kann dich nicht so einfach ziehen lassen.«
Ein hohles Lachen schüttelte den Mann in der Kapuze. Es dauerte eine ganze Weile bis er antwortete.
»Hast du nicht schon genug von der Art da unten?«
»Für den einen hab ich noch Platz«, schmunzelte Luzifer. Ein spitzbübisches Lächeln zog über sein Gesicht. Zwischen den beiden Männern lag kaum ein Meter. Wohlgenährt und in teuren Samt gekleidet wirkte Luzifer wie ein reicher Edelmann neben der klapprigen, in Leinen gewickelten Gestalt des anderen Mannes. Luzifer kam noch einen Schritt näher.
»Mach es dir nicht so schwer und zieh deines Weges«, sagte er mit schmeichelnder Stimme. »Der Mann gehört mir.«
»Schweig!« der Arm des anderen schnellte hervor. Der Umhang war zurückgerutscht. Knöcherne Finger hatten sich vor Luzifers Gesicht zu einer Faust zusammen geballt. Erschrocken stolperte er zurück. Zu überraschend war die plötzliche Reaktion des Todes gekommen.
»Schweig!« zischte der Tod noch einmal. Seine Stimme war kaum lauter als ein heißeres Flüstern, doch seine Worte klangen endgültig. »Du bist es nicht, der hier richtet!«
Zum heulenden Wind mischten sich nun große Regentropfen. Überall zuckten Blitze durch den nächtlichen Himmel. Mit dem Sturm war die Kapuze wieder über den Schädel des Todes gerutscht. Seine eingefallenen Augenhöhlen waren darunter verschwunden. Mit seinem gestreckten Arm hielt er Luzifer weiter auf Distanz.
»Deine Taktik mag vielleicht bei den Menschen ihre Wirkung entfalten, an mir jedoch prallt sie ab.«
Sein Arm fiel nach unten. Ein skelettierter Finger zeigte auf die Leiche. »Seine Zeit ist gekommen und ich hole ihn, ganz so wie es der ewige Plan vorsieht. Alles Weitere liegt nicht in meiner Hand.«
»Pah!« Luzifer hatte seine Stimme endlich wieder gefunden. »Du bist nichts weiter als ein Lakai.«
Unbeeindruckt wandte sich der Tod der Leiche zu. Der Wind hatte das schwarze Tuch ein Stück weit verweht. Sorgfältig wickelte er es wieder um den leblosen Körper.
»Du hast dich verändert«, sprach Luzifer unbeirrt weiter. »Vor wenigen Jahren noch warst du nicht so zimperlich.«
»Vor wenigen Jahren war Krieg«, antwortete der Tod müde. »Ich hatte zu viel zu tun in dieser Gegend.«
»Ich spreche von Galizien«, entgegnete Luzifer. »Von den beiden Aufsehern dort, von Stenger und Kreuzer.«
»Namen.« Der Tod zuckte mit den Achseln. »Für mich haben sie keinerlei Bedeutung.«
»Aber du hast sie mir überlassen.«
»Ein Fehler.«
Luzifers gurgelndes Lachen übertönte das Grollen des Donners. Auf der Straße scheuten die Pferde und der Kutscher hatte Mühe die Tiere im Zaum zu halten.
»Der erhabene, der unbestechliche Tod macht Fehler? Das ist doch kaum vorzustellen.«
»Fehler zu denen du mich verleitet hast, Luzifer. Es ist nicht vorgesehen die Seelen der Menschen der großen Gerichtsbarkeit zu entziehen.«
»Nicht vorgesehen«, spöttelte Luzifer. »Was hätte es für einen Unterschied gemacht, wären sie vor das große Gericht gekommen? Am Ende wären sie doch bei mir gelandet. Es war ihr vorbestimmter Weg!«
Mit ratterndem Brustkorb hustete der Tod einige Male. Er trat an Luzifer heran. Die beiden waren etwa derselben Größe, doch mit dem Zylinder auf seinem Kopf überragte Luzifer den Tod um ein gutes Stück.
»Welches Unheil heckst du aus?« fragte der Tod.
»Unheil?« Luzifer starrte am Gesicht des Todes vorbei in das Dunkel der Nacht. »Ich will mir nur holen was mir zusteht.«
»Sieh dich vor«, raunte der Tod in Luzifers Ohr. »Wenn du mir entgegentrittst, hast du keinen deiner Diener vor dir.«
Luzifer schwieg. Krachend schlug unweit der beiden ein Blitz ein. Bald darauf wehte der Geruch von modrigem Holz durch den Wald.
»Mir ist nicht entgangen, dass du in der letzten Zeit wieder angefangen hast Seelen zu sammeln.«
Luzifer grinste.
»Das ist doch aber keine wirkliche Neuigkeit, oder?«
»Nein, nichts Neues«, flüsterte der Tod. »Doch du weißt worauf ich hinaus will. Für gewöhnlich lässt du keine Möglichkeit aus dich einer Seele zu bemächtigen. Seit geraumer Zeit aber lässt du viele von ihnen ziehen. Du interessierst dich lediglich für die besonders verdorbenen, für die abgrundtief bösen Seelen. Ich frage mich was das zu bedeuten hat.«
Luzifer strich über sein Bärtchen am Kinn.
»Ich denke du planst seit langem etwas«, fuhr der Tod fort. »Und obwohl ich keine ernsthafte Antwort von dir erwarte, will ich dich fragen ob du in den vergangenen Jahren nicht genug angerichtet hast?«
»Du meinst also auch ich könnte etwas für diese Gräueltaten? Hör dich an, du redest bereits wie er! Menschen heben Schützengräben aus, schießen aufeinander, bewerfen sich mit Giftgas. Alles wohl kaum meine Schuld!«
Der Tod schüttelte den Kopf. Er deutete auf die Leiche.
»Du kennst diesen Mann?«
»Flüchtig.«
»Dann will ich dir etwas mehr über ihn erzählen. Er war Direktor in einem der schlimmsten Gefängnisse hier in der Gegend. Zweifelsohne eine anstrengende Aufgabe, doch der Mann wählte eine seltsame Art der Entspannung. Gelegentlich machte er es sich auf einem der Wachtürme hoch über dem Gefängnishof bequem. Dort nahm er seine Jagdflinte zur Hand, legte an und erschoss den ersten Häftling der ihm über den Weg lief. Ein Teil der Wärter blickte beiseite, manche unterstützten ihren Direktor sogar, schließlich handelte es sich nur um Verbrecher. Der Rest der Wärter hatte zuviel Angst etwas zu sagen. So konnte der Mann Jahre hindurch unbehelligt seiner Veranlagung nachgehen.«
Luzifer hatte aufmerksam zugehört. Kalte Regentropfen fielen aus dem Himmel. Das Unwetter war direkt über ihnen. Unbeirrt fuhr der Tod fort.
»Es gab nur eine Sache, die er noch lieber mochte als andere Menschen tot zu schießen. Er war ein begeisterter Reiter. Auch heute Abend ist er auf seinen Hengst gestiegen und dort oben entlang geritten.«
Luzifers Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Todes bis zur Kutsche hinauf. »Dumm von ihm, das herannahende Gewitter zu unterschätzen. Ein unerwartetes Donnern und der Hengst scheut. Der Mann kann sich nicht halten und stürzt vom Rücken seines Pferdes. Unglücklicherweise bricht er sich an einem der Bäume dort das Genick.«
»Tragisch.«
»Tatsächlich, Luzifer? Vorhin, als du aufgetaucht bis, hatte ich einen Augenblick lang den Verdacht du hättest ein wenig nachgeholfen.«
»Niemals!« gab sich Luzifer empört. »Du weißt, ich habe genug zu tun, die Menschen sind seit dem Bestehen der Welt kaum besser geworden.«
Der Tod knirschte mit seinen Zähnen.
»Jedes Mal wenn du mir in die Quere kommst bahnt sich eine Katastrophe an. Und jeder Katastrophe folgt eine neue, noch größere.«
»Damit hast du nichts zu tun, alter Mann.«
Kalte, schwere Tropfen prasselten auf die beiden nieder. Zornige Blitze zuckten durch die Nacht. Luzifers Kutscher sprang von seinem Bock. Keuchend eilte er herbei und spannte einen großen Schirm über seinen Herrn. Schwer klebte der vollgesogene Umhang am hageren Körper des Todes.
»Du gibst den Mann also nicht frei?« fauchte Luzifer.
»Niemals!«
Der Tod hatte sich wieder der Leiche zugewandt. Einige Flüche ausstoßend beugte sich Luzifer zu ihm hinab. Ein einzelner Windstoß riss den Schirm aus den Händen des Kutschers und den Zylinder von Luzifers Kopf. Vergeblich versuchte er ihn wieder einzufangen.
»Du hörst von mir«, schrie er mit bebender Stimme. »Bald schon.«
Dann wandte er sich ab und erklomm auf allen Vieren die Steigung zur Kutsche hinauf. Peitschengeknall durchschnitt die eisige Luft. Unter dem Klappern der Hufe setzte sich der Wagen in Bewegung und war bald verschwunden.
Ohne Anstrengung warf der Tod den Leichnam über seine Schulter. Langsam überquerte er die Straße. Ein kurzes Stück seines Weges führte ihn durch den lichten Wald. Als er die Leiche schließlich in seinen Wagen lud, hatte der Regen bereits nachgelassen.
Der Tod zog ein kleines, ledergebundenes Buch aus seinem Umhang und schlug einige Seiten um. Dem Namen des verunglückten Mannes folgte sein Geburtsdatum. Als Sterbetag vermerkte der Tod mit seiner festen Handschrift den 20. April 1936.