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Das erste und das letzte Mal
Ich erwachte aus unruhigem Schlaf. Die Sonne schien unangenehm hell in meine Augen, die auch sofort anfangen zu Schmerzen. Ich richtete mich auf und tastete nach der Brille auf dem Nachttisch, die prompt herunterfiel. Vom Bett herab tastete ich nach dem Gestell und beugte dabei meinen Oberkörper weit vorne über. Giorgina hätte mich jetzt auf italienisch beschimpft, was für ein Narr ich in meinem Alter noch sei, ich könnte mir ja alle Knochen brechen. Meine Giorgina, sie hat nie Englisch gelernt, in dem ganzen halben Jahrhundert nicht, das wir nun schon in Orlando lebten. Seitdem Giorgina vor fünfeinhalb Jahren gestorben war, verhielt ich mich immer unvorsichtiger, es war, als würde ich sie herausfordern: Tadel mich! Du kannst mich doch noch nicht verlassen haben, also zeige dich!
Mein alter Körper wollte nicht mehr so wie mein Geist, das merkte ich jeden Morgen; beim Aufstehen oder an guten Tagen spätestens beim Anziehen. Ich wurde über meine eigene Unfähigkeit so wütend, das ich den silbernen Aschenbecher von dem Mahagoni-Nachttischchen nahm und mit voller Wucht in den Spiegel hineindonnerte. Meine gereizten, knallroten Augen fächerten sich auf, und mit einem lauten Knall zersprang der Spiegel schließlich in tausend kleine Kristallglassplitter. Einige flogen herum und ritzten meine empfindliche Greisenhaut. „Luigi“, schrie ich laut und ungehalten, „Simon!“ Fast im selben Moment sprang die Tür auf, und meine Leibwächter platzten mit gezogenen Schießeisen in mein Schlafgemach. „Idioten“, schimpte ich ungehalten.
„Signore! Was ist los?“ – „Nichts, nichts, Simon, außer das man mir nicht gehorcht. Ich habe befohlen, das man mich um Punkt sechs Uhr wecken und mir bei der Toilette* behilflich sein soll. Ich bin ein vielbeschäftigter Geschäftsmann, der täglich zwölf Stunden Zeit zu wenig zur Verfügung hat. Also, Avanti!“
Eine halbe Stunde später saß ich im Fonds meines Rolls Royce und schlang ein Ciabatta mit Schinken und Oliven herunter, das ich mit italienischem Wein die Kehle herunterspülte. Italienischer Wein? Ich spuckte diesen „italienischen“ „Wein“ in hohem Bogen wieder aus. „Pfffft!“ So einen widerlich süßen Wein hatte ich noch nie getrunken. Ich betrachtete das Etikett. Rosenthaler Kadarka! Mit Schwung riß ich meine Kaliber .45 aus dem Halfter und schoß nach vorne, wo ich die Pistole meinem Chauffeur an die Schläfe presste. Der ließ das Steuerrad für einen kurzen Moment los, als ich ihn anschrie, was er kleines Würmchen sich dabei gedacht habe, mich zu bescheißen, hatte er doch eindeutig das Geld für den Wein für sich behalten und mir stattdessen billigsten Fusel aus Ungarn untergeschoben. Der Wagen schlingerte für einen Moment auf der Fahrbahn, so daß ich in meinen Sitz zurückgeschleudert wurde. „Wir sprechen uns später“ grollte ich in Richtung Fahrersitz, blieb aber auf meinem Platz, da ich, offenbar durch die Wut beflügelt, bei meiner Reaktion versteckte letzte Reserven mobilisiert hatte, was jetzt seinen Tribut forderte. Das ganze hat mich ermüdet, und ich stürzte ein Glas Quellwasser die Kehle hinab und atmete schwer.
Wir hielten an einer schmutzigen Straßenzeile, vor einem kleinen Ristorante. Hier gab es Geschäfte zu erledigen. Während der Chauffeur und meine Leibwächter ausstiegen, blieb ich im Wagen sitzen. Es war mir sowieso unangenehm, hier gesehen zu werden, nur mußte diesesmal klar sein, das die Aktion von uns ausgeführt worden war. Meine Firma wollte expandieren, und so mußten andere Geschäftsleute „überzeugt“ werden, daß sie mit uns kooperieren sollten. Die Männer kamen zurückgeeilt und schlugen die Autotüren mit einem lauten Knall zu. Jetzt galt es, so schnell wie möglich wegzukommen.
Im Auto wurde es stickig. Die Explosion in dem Ristorante war zwei Stadtteile weiter immer noch zu hören, hier klang sie jedoch wie ein harmloser Böllerschuß. Die Menschen eilten unberührt weiter oder blieben stehen, um nach den vermeintlichen Lausbuben Ausschau zu halten. Wir standen gerade an einer Ampel. Durch das Fenster hörte ich eine alte Frau über die Rücksichtslosigkeit der heutigen Jugend schimpfen. Ich hingegen wußte, das soeben mindestens zwanzig Menschen ums Leben gekommen waren. Es störte mich kein bischen. Mit diesen Methoden hatte ich es geschafft, in den letzten dreißig Jahren Kontrolle zu erlangen, zunächst über das organisierte Verbrechen. Ich beseitigte den Paten der örtlichen Familia, ein altes, verbohrtes, unprogressives Fossil. Zunächst arbeitete ich hinter seinem Rücken, und als er es herausfand, war es schon zu spät – er verreckte im Kugelhagel meiner Gefolgsleute. Später gelang es mir, auch über die Gesellschaft in Orlando Macht zu gewinnen, indem ich mir ihre Käuflichkeit zunutze machte, so hatte ich zum Beispiel dem republikanischen Bürgermeisterkandidaten hohe Wahlkampfspenden zukommen lassen. Zum Dank wurden staatliche Bauprojekte überteuert von meinen Firmen durchgeführt. Heute ging es um Machterhalt und Konsolidierung. So hatten wir an diesem Tage ein zweites wichtiges Geschäft zu erledigen, auf das wir nun Kurs nahmen. Einer meiner Untergebenen, ein unerträglicher Schnösel mit schwachsinnigen Geschäftsideen, scheint gegen mich zu arbeiten. Ich merkte, wie er versuchte, mir die Fäden aus der Hand zu reißen. Aber nicht mit mir. Ich lachte leise. Mein ganzes Lebenswerk war diese Organisation, und ich würde sie nicht einem unfähigen Crackdealer überlassen. Meine Hand krampfte sich an der Pistole fest, das Metall presste sich auf die dünne Haut, bis ich ein Gefühl von Metall auf Knochen verspürte, so wie damals, als eine Polizeikugel wochenlang in meinem Oberarmknochen steckte. Draußen schossen Autos und Hochhäuser vorbei. Mir wurde schwindelig. Ich trank jetzt in großen Schlucken das restliche Quellwasser, doch mir war immer noch entsetzlich heiß.
Ich war eingenickt, und als ich wieder aufwachte, fuhren wir auf der Landstraße tiefer hinaus in die Everglades. „Wie im Dschungel“ dachte ich beim Anblick der Landschaft und hatte die Filme über Vietnam vor den Augen. Ich selber war auch im Krieg gewesen, jedoch war ich nicht im Dschungel, sondern nur in Ungarn. Dort habe ich das erste Mal einen Menschen ermordet. Einen kleinen jüdischen Wirt. Ich glaubte zumindest, daß er Jude war. An einem heißen Sommertag – es war fast so schwül wie gerade im Wagen, wie ich ein wenig belustigt feststellte – kamen meine Kameraden und ich in ein kleines ungarisches Dorf; den Namen habe ich vergessen, und im Grunde spielt er auch keine Rolle. Die Lage war aufgeklärt, alles ruhig, das Gebiet war schon lange unter unserer Kontrolle und Partisanentätigkeit gab es in unserem Abschnitt nicht. So genossen wir die Militärzeit als eine Art „Urlaub“ und erholten uns nach Kräften. Also setzten wir uns in diesen kleinen Biergarten und ließen uns von den Mädchen Wein bringen – vielleicht ist es sogar Kadarka gewesen. Jedenfalls ebenso widerlich süß, und das klebrige Zeug machte uns umgehend besoffen. Trotzdem ärgerten wir uns, als der Wirt mit einer Rechnung bei uns ankam; schließlich waren wir doch in einem Schlaraffenland, in dem wir nehmen konnten, wonach uns der Sinn stand. Kurz gesagt, wir banden ihn an einen Zaun und stellten die Flasche auf seinen Kopf. Sie fiel mehrmals runter, worauf wir dem Wirt in Gesicht schlugen. Als die Flasche endlich stand, blutete er bereits aus Mund und Nase. Meine Kameraden schossen johlend auf die Flasche, die Kugeln pfiffen jedoch seitlich an der Flasche vorbei. „Müsst‘ mittiger Zielen“, sagte der Schütze vor mir noch. Als ich an der Reihe war und so breitbeinig dastand, überkam es mich: ich zielte mitten in die blutige Masse,die einmal das Gesicht des Wirts gewesen war, und – ich traf. Sein Kopf platzte mit einem widerlichen Geräusch.
Mir war schon wieder schlecht. Mein Herz raste, meine Schläfen pochten. Ich griff nach dem Wasser. Es war leer. Alles begann, sich wie in einem Looping in der Achterbahn zu drehen. Ich tastete fieberhaft nach den Pillen in meiner Tasche, stopfte mir gleich mehrere in den Mund und blickte mich dann suchend nach etwas zu trinken um. Da stand nur diese widerliche Flasche Kadarka. Egal, ich mußte jetzt etwas trinken, und ich mußte diese Tabletten runterspülen.
Alles rotierte nur noch mehr um mich herum. Und ich hörte Stimmen, Stimmen aus den über achtzig Jahren meines Lebens - Mamma, Giorgina, meine treuen Ergebenen – aber vor allem die Stimmen der Toten, meiner Opfer, die aus geschäftlichen Gründen um die Ecke gebracht werden mußten. Ich sah nicht mehr viel. Der Wagen raste immer schneller vor sich hin und hob ab. Ich schrie den Chauffeur an, langsamer zu fahren. Eigentlich röchelte ich mehr. Der Chauffeur drehte sich um, er hatte das Gesicht des jüdischen Wirtes. Mein Herz wollte explodieren. Nun fing er auch noch an, zu mir zu sprechen. Ich verstand: „Dies heute ist der Tag, an dem sich dein Schicksal erfüllt. Andere werden deinen Platz einnehmen. Du hast unzählige Leben genommen, und heute wirst du gehen – ich nehme dich mit, dorthin, wo alle deine Opfer wegen deiner Untat ihr Dasein fristen – in die Hölle!“
„Ist ihnen nicht gut?“, fragte der Fahrer den Mächtigen, momentan aber nur gebrechlich wirkenden alten Mann im Fonds. Der Alte war ihm unsympathisch, aber jetzt sah er einfach nur hilflos aus, und außerdem war das hier sein Job. Besorgt drehte er sich zu ihm. Der Alte fingerte mit schreckensgeweiteten Augen fieberhaft an der Türverriegelung herum. Das Auto fuhr mindestens hundertzwanzig! Er verlangsamte, aber die Tür hatte sich schon geöffnet, und der Alte fiel kopfüber aus dem Wagen. Einige Meter weiter bekam der Fahrer den Wagen endlich zum Stehen. Mitten auf der Brücke sprangen die Männer aus dem Wagen. Der alte Mann lag unten in der Schlucht, der Kopf auf den spitzen Steinen zerplatzt.
* hier: elegantere Formulierung für „beim Anziehen helfen“
P.S.: Sag' mir mal einer, ob ich die Geschichte richtig eingeordnet hab!
[ 01.05.2002, 02:55: Beitrag editiert von: Mad Scientist ]