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Das erste Mal
Es war klar, dass dieser Tag kommen würde. Von Anfang an war es klar gewesen. Eigentlich war es erstaunlich, dass es so lange gedauert hatte.
Wie oft war ich zur Arbeit gefahren und hatte mich gefragt, ob es heute passieren würde. Hatte mit mulmigem Gefühl meinen Kittel angezogen und war auf meine Station gegangen. Einige Male war ich tatsächlich davon überzeugt gewesen, dass es nun soweit sei, nachts, wenn mich die Schwester wegen eines Notfalls unsanft weckte.
Es war klar gewesen und nur noch eine Frage der Zeit. Und trotzdem stand ich jetzt da und fühlte mich völlig unvorbereitet. Ich hielt die Patientenakte in der Hand, hatte die Todeszeit eingetragen und schien plötzlich nicht mehr zu wissen, wie es weiterging.
„Du musst da noch unterschreiben.“ Tanja deutete auf die Zeile, unter der „behandelnder Arzt“ stand. Ich starrte auf die Worte, sie kamen mir seltsam falsch vor. Wann war ich Arzt geworden?
„Ist das dein erstes Mal?“, fragte Tanja mich.
Ich nickte stumm.
„Du kannst nichts dafür“, sagte sie und ich nickte nochmals. Ein geplatztes Aneurysma, zu spät eingeliefert, alle Rettungsmaßnahmen erfolglos. Ich konnte nichts dafür. Niemand konnte etwas dafür. Irgendwie wünschte ich mir fast jemanden, dem ich die Schuld geben konnte.
Ich blickte auf die Patientin und ertappte mich dabei, wie ich dachte: Warum sie? Warum kein 80-jähriger Schlaganfallpatient? Warum sie? Warum heute?
Warum ich?
Durfte man sowas denken?
Sie sah so jung aus. Ich suchte auf der Akte nach dem Geburtsdatum und als ich es fand, hätte ich beinahe angefangen zu weinen. Jahrgang 1989, sie war so alt wie ich.
Gewesen.
„Ihr Freund sitzt noch in der Notaufnahme“, sagte Tanja und nahm mir vorsichtig die Akte aus der Hand, die ich so fest umklammert gehalten hatte, dass meine Fingerknöchel ganz weiß waren.
„Ich geh zu ihm“, hörte ich mich selbst sagen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Als würde ich nicht am liebsten Tanja bitten, mitzukommen. Ich sprach mit fester, ruhiger Stimme und fühlte mich gleichzeitig wie ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge, der plötzlich in der Erwachsenenwelt aufwacht, sich verwundert die Augen reibt und sich fragt, wie er da nur hingekommen ist.
Als ich in die Notaufnahme kam, sah ich ihn sofort. Er saß am Getränkeautomaten, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Ich stellte mir plötzlich vor, wie ich selbst dort säße und auf eine Nachricht von Judith wartete. Schon allein der Gedanke daran war so unerträglich, dass ich ihn sofort weit wegschob, in die hinterste Ecke meines Verstandes.
Ich trat zu ihm. „Sie sind mit Frau Weiß hergekommen?“
Er sprang auf. „Wie geht es ihr?“
Sein Blick flehte um die erhoffte Antwort, suchte in meinem Gesicht nach einer Reaktion, nach einem beruhigenden Lächeln.
Ich kann das nicht.
Ich musste plötzlich an meinen Vater denken. Wie er mich beim Klettern angefeuert hatte, wenn mir der nächste Tritt unendlich weit weg vorgekommen war. „Auf geht’s, Tom!“, hatte er gerufen. „Es kann nichts passieren, ich hab dich!“
Ich wünschte, er wäre jetzt da.
„Es tut mir leid“, sagte ich. Die Worte kamen automatisch aus meinem Mund, als gehöre er nicht mehr mir. In seinen Augen sah ich, wie etwas in ihm zu zerbrechen schien. Vielleicht reichte das schon. Vielleicht musste ich gar nicht mehr sagen.
„Wie geht es ihr?“, fragte er nochmal.
Es reichte nicht. In seinem Blick lag immer noch Hoffnung, ein letzter Rest, an den er sich klammerte und den er nicht hergeben würde, so lange, bis ich ihn ihm gewaltsam entreißen würde.
Wie oft hatte ich über diesen Tag nachgedacht und wie oft hatte ich mir überlegt, was wohl der beste Weg sei, einem Menschen den Tod eines Angehörigen beizubringen. Direkt, ohne Umwege? Vorsichtig und behutsam? Jetzt stellte ich plötzlich fest, dass es keinen besten Weg gab, nicht einmal einen guten. Egal, welche Worte man verwendete, sie waren immer falsch. Der Tod war nie richtig.
„Ihre Freundin hatte ein geplatztes Aneurysma. Sie ist leider zu spät eingeliefert worden, wir konnten sie nicht mehr operieren. Sie ist gestorben. Es tut mir leid.“ Wieder klang meine Stimme souveräner, als ich mich fühlte. Wieder hatte ich das Gefühl, dass sie nicht zu mir gehörte.
„Sie ist meine Verlobte“, sagte er hilflos, als könnte das irgendetwas ändern.
„Es tut mir leid“, wiederholte ich.
Er sah mich stumm an, ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie, immer wieder, als suchten seine Finger nach Halt. Und ich stand da, wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Am liebsten hätte ich seine Hände festgehalten.
Dann sank er plötzlich auf die Knie, kauerte sich zusammen. Er vergrub das Gesicht in den Armen, die Hände immer noch zu Fäusten geballt, und weinte.
Ich sah mich um. Die Notaufnahme war voller Menschen. „Möchten Sie vielleicht mitkommen? Ich kann ein ruhiges Zimmer für Sie suchen.“
Er reagierte nicht. Mit einem Mal war mir ebenfalls nach Weinen zumute, am liebsten wäre ich davongelaufen und hätte mich irgendwo verkrochen. Hätte mich ganz klein gemacht, damit keiner mich sehen konnte. Aber ich blieb stehen, ratlos. Sollte ich gehen? Oder bleiben und versuchen, ihn zu trösten? Wie tröstet man jemanden, für den es keinen Trost gibt? Das hatten wir nicht gelernt in unserem Studium.
Vielleicht tat ich es, weil es mir schier das Herz brach, wie er so verloren dasaß. Vielleicht, weil es plötzlich keine Worte mehr zu geben schien. Oder ich sie nicht kannte. Eigentlich weiß ich es selbst nicht. Ich setzte mich einfach neben ihn, auf den Fußboden, mitten in der Notaufnahme. Ich hielt nicht seine Hand, ich sagte nichts.
Ich hörte nur zu, wie er weinte.
Und während ich dort saß und auf meine Schuhe starrte, sein leises Schluchzen an meinem Ohr, das Stimmengewirr im Hintergrund, da wusste ich plötzlich, dass ich heute Abend meinen Vater anrufen würde. Und irgendwie war das tröstend.