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Das Erbstück

Mel

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06.11.2001
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Das Erbstück

Schlaftrunken kletterte sie aus dem Bett – leise, um ihren Ehemann nicht zu wecken und fragte sich halb wach, halb noch träumend, warum sie es nicht schaffte eine Nacht durchzuschlafen, ohne die Toilette aufsuchen zu müssen.
Leicht schwankend und bloßfüßig tappte sie in den Vorraum des oberen Stockwerkes ihres Einfamilienhauses. Sie war es gewohnt, diesen Weg bis zur Toilette halb blind zu gehen, weil sie einfach zu müde war, um ihre Augen durchgehend offen zu halten.
Sie ging den langen Flur entlang - öffnete immer nur für einen Bruchteil einer Sekunde die Augen. Sie sah das Bild ihrer verstorbenen Eltern, ging vorbei an dem Schwert, welches in einer versilberten Scheide an der Wand hing – ein Erbstück ihres Vaters.
Das letzte, was sie sah, war der Ansatz der Treppe, die nach unten führte. Sie tappte weiter, spürte den warmen Teppichboden unter ihren Füssen. Bis ihre Zehen auf einen harten kalten Widerstand stießen. Sie stolperte darüber und fiel. Sie hörte ein Poltern und Krachen und bemerkte dann, dass die Geräusche von ihrem eigenen Körper kamen, als er die Treppe hinunterstürzte.
Dann war es still. Reglos lag sie auf dem Boden im Erdgeschoss. Ihre Schultern und ihre Arme taten ihr weh. Sonst spürte sie nichts. Anscheinend hatte sie Glück gehabt. Sie versuchte wieder aufzustehen, doch sie schaffte es nicht, ihre Beine zu bewegen. Schweiß brach in ihr aus. Sie wollte nach ihrem Mann rufen. Panisch sah sie nach oben und sah ihn dort stehen. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil es zu dunkel war.
„Michael“, wimmerte sie.
Als würde er sich aus seiner Starre lösen, beeilte er sich die Treppen hinunter zu kommen.
Er beugte sich über sie und wollte ihr aufhelfen.
Sie begann zu schluchzen. „Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen. Ich spüre sie nicht einmal.“
„Es wird alles wieder gut, Denise. Mach Dir keine Sorgen. Ich rufe die Rettung an.“ Er eilte in die Küche und Denise hörte ihn telefonieren.
Zehn Minuten später lag sie im Krankenwagen, neben ihr Michael, der ihre Hand hielt.
„Werde ich meine Beine jemals wieder bewegen können?“, fragte sie den Sanitäter, ohne eine Antwort hören zu wollen. Denn sie wusste sie bereits.
Der Sanitäter sah sie beruhigend und zugleich mitleidvoll an. Denise spürte zuviel Mitleid in seinem Blick.

„Ich weiss, Du möchtest es nicht hören, aber wir sollten wirklich unser Haus verkaufen.“ Michael saß neben ihr am Küchentisch und blätterte in der Zeitung. „Sie mal, was hältst Du davon?“ Er deutete auf eine Anzeige.
Denise sah ihn entsetzt an. Das war ihr entgültiges Urteil. Sie würde nie mehr gehen können. Michael hatte die Hoffnung in sie aufgegeben. Ihr tat dieser Gedanke weh, sie selbst hatte sich noch nicht aufgegeben.
„In Ordnung“, sagte sie tonlos, ohne die Anzeige anzusehen, die ihr Michael vor die Nase hielt. Sie würde wieder auf die Beine kommen, dass versprach sie sich selbst. Sie würden das Haus nur vermieten und in einem halben Jahr könnten sie wieder einziehen und alles wäre wieder so wie zuvor. Doch während sie diese Gedanken hatte, wusste sie bereits, dass es unmöglich war.

Er schob sie die Einfahrt hinein. Öffnete die breite Schiebetüre und fuhr sie mit ihrem Rollstuhl durch den Vorraum des Bungalows. Es war ein schönes Haus. Denise könnte sich fast daran gewöhnen, hier zu wohnen - wenn sie es sich aus einem anderen Grund ausgesucht hätten. Sie musste oft an ihr altes zu Hause denken, hatte es sich aber bis jetzt verkniffen, Michael zu fragen, ob er sie in ihre alte Strasse fuhr, um ihr Haus, dass jetzt nicht mehr ihnen gehörte und in dem jetzt fremde Menschen lebten noch ein letztes Mal zu sehen. Es würde ihm wahrscheinlich zu sehr weh tun, all die Erinnerungen an ihr altes Leben. Aber die Sehnsucht wurde von Tag zu Tag größer und es drängte sie immer mehr, ihr nachzugeben.

Es war das erste Mal, dass sie ganz alleine mit ihrem Rollstuhl unterwegs war. Matt durfte es nicht erfahren, er würde es nicht verstehen und sie für leichtsinnig halten. Aber ihr würde schon nichts geschehen. Es gab genug hilfsbereite Menschen, die ihr aus dem Bus halfen oder ihr die Türe aufhielten. Ein Mann fragte sie sogar, ob er sie schieben sollte, doch sie lehnte ab. Sie musste es alleine schaffen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Als sie in ihre alte Strasse einbog, stand ihr der Schweiß bereits auf der Stirn, doch sie fuhr ohne Pause weiter, denn sie wollte vor Michael wieder zu Hause sein. Als sie die vertraute Gegend sah, traten ihr Tränen in die Augen, sie hatte nicht gedacht, dass es so schlimm sein würde.
Sie beschloss nur einen kurzen Blick auf das Haus zu werfen, nur um zu sehen, ob es noch so aussah wie vor drei Monaten, als sie es selbst noch sauber machte und Michael noch selbst den Rasen mähte. Ich will nur sehen, ob es ihm auch gut geht, dachte sie.
Denise parkte mit ihrem Rollstuhl hinter dem alten Kastanienbaum auf der anderen Straßenseite. Es sollte sie niemand sehen. Erschöpft atmete sie die frische Luft unter dem Baum ein und war das erste Mal seit dem Unfall froh zu sitzen.
Eine leichte Brise blies durch ihr Haar, genau wie durch den Vorhang, der aus dem offenen Fenster wehte. Die neuen Besitzer hatten die Vorhänge nicht ausgetauscht, bemerkte Denise. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätten es getan.
Sie hatte schon die Räder entsperrt und wollte gerade wieder losfahren, als sie eine Frau durch das rechte Fenster erkennen konnte. Sie beneidete sie um ihr Heim, das einmal ihr gehört hatte. Als ihr Mann dazu kam und sie von hinten umarmte, während sie kochte, tat ihr das Herz weh.

Denise fuhr auf die Strasse und warf noch einen letzten Blick auf ihr altes Zuhause zurück. Gerade in dem Moment steckte Michael seinen Kopf durch das Fenster, bevor er es mit einer raschen Handbewegung zustieß.
Denise spürte, wie das Blut in ihren Adern zu pochen begann. Sie fuhr los, ohne auf ein vielleicht vorbeikommendes Auto zu achten. Als sie bei der Bushaltestelle ankam, spürte sie erst, wie ihre Hände zitterten und ihr Herz raste.
Was tat er dort? Das konnte nur ein Traum sein. Sie musste sich selbst in ihrem Traum gesehen haben. Oh, mein Gott. Sie dachte an all die Nächte, die sie alleine verbracht hatte, weil Michael länger arbeiten musste und sie dann nicht mehr aufwecken wollte, weshalb er angeblich auf der Couch schlief. Nein, es konnte nicht wahr sein. Bitte lieber Gott, mach dass das nicht wahr ist.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Der Busfahrer beugte sich hinaus und sah sie fragend an.
„Ja, bitte“, antwortete Denise stockend.
„Geht es Ihnen gut?“
„Ja, alles in Ordnung.“ Ich muss mich zusammenreißen – zumindest bis ich zu Hause bin, befahl sie sich.

Sie wusste nicht, wieso sie gerade jetzt auf diesen Gedanken kam. Er hatte sie die erste Zeit nach dem Unfall immer wieder beschäftigt, doch die letzten Wochen, hatte sie nicht mehr daran gedacht. Der Gegenstand über den sie gestolpert war. Sie wusste bis heute nicht, was es war. Michael hatte gemeint, es wären ihre eigenen Beine gewesen. Was hätte es auch sonst sein sollen; durch Denises Putzfimmel lag ja nie etwas auf dem Boden herum. Trotzdem konnte sie sich noch genau daran erinnern, an etwas gestoßen zu sein. Und dieses Etwas war kalt und hart gewesen.

Sie dachte wieder an Michael. Hatte er sie gesehen? Was sollte sie tun? Sollte sie ihn darauf ansprechen? Fragen über Fragen. Doch sie konnte ihn nicht einfach so davonkommen lassen, oder? Er lebte mit einer anderen Frau ihr gemeinsames altes Leben.

Denise knurrte der Magen, doch sie merkte es nicht. Es wurde immer später. Normalerweise rief Michael an, wenn er länger im Büro bleiben musste, doch es war ihr gleichgültig, wenn er es diesmal nicht tat. Sie würde schlafen gehen, vielleicht war es besser ihm heute nicht mehr zu begegnen.
Was ist nur mit meinem Leben geschehen, fragte sie das Bild ihrer Eltern, als sie Richtung Schlafzimmer rollte. Sie sah das Schwert ihres Vaters an und erschrak über ihre eigenen grausamen Gedanken. Irgendetwas bewegte sie dazu, das Schwert zu berühren. Die Kälte des Metalls überraschte sie. Sie fuhr mit ihren Fingern darauf auf und ab, ohne zu merken, dass die Haustüre geöffnet wurde.
Plötzlich traf sie die Erinnerung mit einer Wucht, dass sie das Schwert beinahe von der Wand gerissen hätte.
„Denise, was machst du da?“, fragte Michaels Stimme hinter ihr und ließ sie erneut hochfahren.
Sie sah Michael an und dann das Schwert. „Wo warst du heute?“
„In der Arbeit natürlich. Was ist denn los Denise?“ Michael sah sie beunruhigt an.
„Ich habe dich gesehen.“ Denise beschloss alles einzusetzen – ihre Ehe, wenn es sein musste auch ihr Leben. Was hatte sie schon noch zu verlieren?
„Wie meinst du das?“ Er hatte sie offensichtlich nicht gesehen.
„In unserem alten Haus. Ich habe dich mit dieser Frau gesehen. Und ich weiß jetzt auch wieder über welchen Gegenstand ich damals gestolpert bin.“ Denise versuchte nicht, die Boshaftigkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken. Ihr wurde langsam immer klarer, wiesehr er ihr Leben zerstört hatte. Es gab kein Zurück mehr. „Du warst es. Du wolltest mich loswerden und hast mir das Schwert vor die Füße geschoben.“ Denise merkte, dass sie immer lauter wurde. Sie hasste es, ihre eigene Stimme so zu hören und verabscheute gleichzeitig Michael, der sie so verändert hatte.
„Du bist verrückt!“ Jetzt schrie auch er.
„Du warst es doch! Gib es zu. Damit du mit dieser Frau zusammen sein kannst und mit meinem Geld ein sorgenfreies Leben führen kannst.
Michael wurde plötzlich ruhiger. „Na und? Das kannst du nie im Leben beweisen.“ Plötzlich lächelte er.
„Es ist mir vollkommen egal. Mein Leben ist soundso schon zerstört.“ Mit einer schnellen Handbewegung holte sie das Schwert von der Wand. Was für ein Glück, dass sie es selbst an die Wand genagelt hatte und sie es jetzt leicht im Sitzen herunternehmen konnte.
„Was hast du vor?“ Michael sah sie entsetzt an.
Als er merkte, dass sie sich das Schwert, das sie aus der Scheide gezogen hatte selbst an die Brust setzte, begann er zu grinsen. „Du nimmst mir die Arbeit ab?“

Das Blut rann auf den Parkettboden und bildete einen kleinen See um ihren Rollstuhl.

“Bitte schicken Sie jemanden vorbei, ich habe jemanden umgebracht.“ Ihre Hände zitterten, als sie den Hörer zurück auf die Gabel legte.

 
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Hi Mel,

ich finde, Du hast eine grundsätzlich gute Geschichte geschrieben. Die Szenen wirken echt und man glaubt Denise ihre Gefühle. Wäre es eine längere Geschichte, hätten vielleicht noch einige Szenen gepasst, die sie in ihrer neuen, ungewollten Situation beschreiben (einige Alltäglichkeiten, deren Komplexheit man erst querschnittsgelähmt erkennt). Das ist in einer Kurzgeschichte nicht nötig. Wichtiger fände ich eine etwas genauere Dartellung der Veränderung in der Beziehung...ein Abkühlen, Gespräche, die fehlen oder so. So ist man doch sehr überrascht, dass Michael so plötzlich kaltblütig agiert haben soll. Dabei fällt mir auf, dass mir die Art, wie er ihren Unfall verursacht hat, etwas umständlich erscheint - er muss ja hinter ihr hergeschlichen sein und ihr das Schwert irgendwann zwischen die Füße gelegt haben. Was auch etwas unlogisch scheint, ist der Hausverkauf. Wenn für ihn die Beziehung eh schon kaputt war, wieso dann dieser ganze Stress? Er hätte die Neue doch auch irgendwo anders aufsuchen können. Das erscheint mit etwas undurchsichtig.
Das Ende ist ziemlich undurchsichtig. Sicherlich mit Absicht. Ruft sie die Polizei, nachdem sie sich tatsächlich aufgegeben (und aufgeschlitzt...) hat - das passt nicht zu ihrem Willen, leben zu wollen.
Andererseits, hätte sie Michael erstochen - dass erschiene mir etwas unlogisch, weil er es sicher hätte verhindern können (immerhin hätte sie das Schwert umdrehen und er nur ein, zwei Schritte zurückgehen müssen. Glaub nicht, dass sie das geschafft hätte).
Ich würde auch den Titel ändern. Das Schwert spielt zwar eine wichtige Rolle, nicht aber die Tatsache, dass es ein Erbstück ist. Das fiel mir eben erst ein, weil mir der Titel nicht mehr einfiel - keine Verbindung zur Story.

Also, Fazit:
Deinen Stil finde ich nicht schlecht - Szenen und Gefühle sind echt rübergebracht. Die Handlungen finde ich - wie oben angemerkt - etwas verwirrend und nicht ganz nachvollziehbar. Aber ich lass mich gerne aufklären. ;)

Gruß, baddax

 

Hallo!

Es stimmt, dass die Handlung nicht sehr gut durchdacht ist. Am Ende hat sie ihn erstochen, nicht sich selbst. Sie erzählt ja der Polizei, dass sie jemanden umgebracht hat.
Freut mich aber trotzdem, dass dir wenigstens der Stil gefallen hat. Werde mich das nächste Mal mehr mit der Handlung auseinander setzten.

 

Ich dachte, es hätte auch sein können, dass sie sich erstochen hat, Ihr Mann einfach weggegangen ist und sie sterbend die Polizei anruft und mit "...ich habe jemanden umgebracht." ihre Hilflosigkeit zum ausdruck bringt... Naja, wohl etwas weit hergeholt. :shy:

Schön, dass meine Anmerkungen helfen. :)

Gruß, baddax

 

hi!
auch mir hat der stil ganz gut gefallen, aber einige unstimmigkeiten in der story sind mir auch aufgefallen. Sie sagt, sie hat jemanden umgebracht, aber alles deutet darauf hin, dass sie selbstmord begangen hat(blut um ihren rollstuhl - wie soll das da hinkommen wenn sie jemanden anderes ermordet?).
wenn man die story ueberarbeitet, ist es sicherlich eine sehr gute geschichte - aber sie hat auch so spass gemacht zu lesen....

so long, -merry christmas- , kmayse

 

Hallo Mel,

also - ich fände es schade, wenn die an sich gut geschriebene Geschichte wegen dem Schluß gewissermaßen `durchfallen´ würde.
Folgender Vorschlag:

„Du nimmst mir die Arbeit ab?“
Jetzt wagte er es, sich ihr zu nähern. – usw.

So ist die zur Schau gestellte Selbstmordabsicht nur eine List und erklärt auch, warum sie ihn vom Rollstuhl aus töten konnte.
Übrigens... sich selbst an die Brust setzte.

Tschüß... Woltochinon

 

@Woltochinon:
Ansich ne gute Idee, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er selbst dann so unvorsichtig wäre...

 

Hallo baddax,

er kommt sich doch sehr überlegen vor. Wenn sie wirklich den Selbstmord überzeugend vortäuscht, kann ich mir sein Verhalten schon vorstellen. Vielleicht müßte man noch sein Überlegenheitsgefühl zusätzlich erwähnen, oder er will dafür sorgen, daß der Selbstmord wirklich gelingt.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

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