Das Erbe
Geistesabwesend starrte er aus dem Fenster und beobachtete, wie der Gärtner seine Abfälle verbrannte. Eine dichte, dunkle Rauchwolke stieg in den Himmel.
„Und zuallerletzt möchte ich meinem Grosskind Felix meinen grössten Schatz vererben“, las der Testamentsvollstrecker weiter vor. Total überrascht horchte der 18-Jährige auf. „Bei mir zu Hause in der Besenkammer wirst du auf einen Schatz treffen, der dich reich machen wird. Ich habe dir dort eine Safekombination hinterlegt. Wo sich der Safe genau befindet, musst du selber herausfinden.“
Eine Stunde später stand er vor dem alten Bauernhaus auf der Nordseite der Stadt. Seit seine Grossmutter ins Spital eingeliefert worden war, war niemand mehr im Haus gewesen. Der Schlüssel lag jedoch nach wie vor im Briefkasten. Felix öffnete vorsichtig die Tür. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase.
Er wollte nur kurz in die Besenkammer und dann so schnell wie möglich wieder verschwinden. Zu viele Erinnerungen kamen in ihm hoch. So viele sorglose Tage hatte er hier verbracht.
Er lief den Flur entlang, bis er plötzlich vor einem Bild innehielt. Seine Grossmutter lächelte ihn mit einem sympathischen Blick an. Ein wehmütiges Lächeln huschte ihm über die Lippen. Er wandte sich ab und ging nun zielstrebig auf die Tür neben der Küche zu.
Die Besenkammer hatte er zuvor noch nie betreten. Es schauderte ihn leicht, als er die Metallklinke herunterdrückte. Nichts war zu erkennen. Kein Sonnenlicht erreichte diesen Raum. Er tastete nach dem Lichtschalter. Links und rechts von ihm standen Regale, auf welchen sich alles Mögliche befand: Bücher, Putzmittel, Werkzeuge und andere Dinge, die keinen Platz in der Wohnung verdienten. Einige Schritte entfernt erblickte er einen Kasten, der mit einem auffallenden roten Tuch bedeckt war. „Das muss es sein“, dachte er sich. Mit entschlossenen Schritten ging er darauf zu. Er streckte seine Hand aus, fasste das Tuch mit den Fingerspitzen und zog es langsam vom Kasten herunter. Als er das Innere des Kastens erblickte, sprang er schreiend einige Schritte rückwärts. Sein ganzer Körper zitterte und sein Herz raste. Mit starrem Blick fixierte er den Glaskasten vor ihm auf dem Boden. Er konnte seine Augen nicht mehr von den langen, behaarten Beinen und dem pelzigen Haarkleid der Spinne abwenden.
Da bemerkte er etwas Merkwürdiges. An einem der acht Beine befand sich etwas Kleines, das aussah wie ein Verband.
„Nein! Das darf nicht wahr sein! Die Zahlenkombination“, sagte er laut zu sich selbst. „Wie soll ich jetzt da rankommen?“, fragte er sich. „Ich werde dieses Monster nie im Leben in die Hand nehmen.“
„Warum bloss tut Grossmutter mir das an? Sie wusste doch ganz genau, dass ich Angst vor Spinnen habe.“
Da kam ihm eine Idee. Er rannte zur Toilette und kam einige Minuten später mit einer Pinzette bewaffnet zurück. Vorsichtig nahm er den Glasdeckel vom Kasten und setzte ihn auf den Boden. Zögernd näherte er sich dem Bein, an dem das kleine Stück Papier fixiert war. Seine Hände zitterten, Schweiss lief ihm die Stirn herunter. Er kam der Spinne immer näher, doch plötzlich zog sie sich in ihre Höhle zurück. „Verdammt!“, sagte er laut. Nur noch ihr Kopf und ihre vordersten Beine waren zu sehen. Das Bein mit dem Zahlencode befand sich in der Höhle.
„So wird das nicht funktionieren“, bemerkte er und schüttelte genervt den Kopf. „Ich muss sie mit eigenen Händen anfassen.“ Doch bei dem Gedanken sträubten sich erneut seine Nackenhaare.
Kurze Zeit dachte er darüber nach, einfach nach Hause zu gehen. Doch der Schatz machte ihn neugierig. Und diese Neugier war so gross, dass er beschloss, es zumindest zu versuchen.
Mit seiner rechten Hand näherte er sich zitternd der Spinne und legte sich einige Zentimeter vor ihr auf den Boden. Plötzlich bewegte sie sich und er zog seine Hand blitzschnell zurück. Sein Herz pochte nun wieder in seiner Brust. Doch er beruhigte sich nach kurzer Zeit wieder und startete einen erneuten Versuch. Langsam bewegte sie sich mit ihren ekligen haarigen Beinen auf seine Hand zu. Er fühlte sich wie eine Fliege, die einer Spinne ins Netz gegangen war und nun darauf wartete, verspeist zu werden. Sie näherte sich ihrem Opfer. Das Herzklopfen wurde zu einem Hämmern. Gleich wird sie mich haben, dachte er sich. Nur noch wenige Schritte. Der Atem ging schwerer. Nur noch einen Schritt. Schweiss floss ihm aus allen Poren. Er schloss die Augen. Verkrampft wartete er darauf, dass die Spinne ihn berührte.
Da spürte er, wie etwas ganz sanft seine Hand antippte. Es fühlte sich feiner an als Seide. Ein unglaublich zärtliches Abtasten. Verwundert öffnete er die Augen und beobachtete, wie die Vogelspinne über seine Hand wanderte. Er kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Noch nie hatte er so etwas Feines berührt. Der Ekel vor der Spinne war wie vergessen. Fasziniert musterte er sie und beobachtete, wie sie elegant vorwärtslief. Schnell nahm er seine andere Hand zu Hilfe, damit sie weiterlaufen konnte.
„Unglaublich!“, sagte er mit einem erstaunten Lächeln. Er liess die Spinne einige Zeit von einer Hand zur anderen wandern, bis sie einmal zur Ruhe kam.
Vorsichtig löste er ihr das Zettelchen vom Bein und legte sie behutsam zurück in ihr Terrarium. Neugierig entfaltete er das kleine Papier.
Kurze Zeit blieb ihm die Luft weg. Er wendete es, schüttelte verdutzt den Kopf und wendete es erneut. Es war leer. Auf dem Papier stand nichts. Keine Zahl. Rein gar nichts.
Enttäuscht schaute er auf den Holzboden, dann ging er langsam auf den Flur hinaus und begann plötzlich zu lächeln.