- Beitritt
- 24.04.2003
- Beiträge
- 1.444
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Das endgültige Ende - KAPITEL II - Am Anfang steht das Wort
Sandra zog den Reissverschluss ihrer Jacke zu und griff nach dem Rucksack. In der Wohnung war es still. Ihre Mutter hatte diese Woche Frühschicht und stand schon um fünf Uhr auf. Lange, bevor die Schule anfing.
Sie schaute in den Spiegel und strich durch ihr glattes schwarzes Haar, das ihr bis zum Rücken fiel. Sie fand sich hübsch und warf ihrem Spiegelbild ein Lächeln zu.
Dann machte sie sich auf den Weg.
Als sie die Tür öffnete und in das Treppenhaus hinaustrat, bemerkte sie den Briefumschlag, der auf der Fußmatte lag.
Sie hob ihn auf und betrachtete ihn von beiden Seiten. Es war weder ein Absender, noch ein Empfänger angegeben.
Sandra riss das Papier auseinander und ein kleiner Zettel kam zum Vorschein, kaum größer als eine Getränkemarke, wie man sie oft auf kleineren Festen zu kaufen bekam.
Salorerte war das einzige Wort, das darauf stand.
Auf ihrem Weg nach unten warf sie Umschlag und Zettel über das Geländer des Treppenhauses. Sie interessierte sich nicht für Salorerte. Sie interessierte sich für die heutige Chemieklausur, auf die sie nur mittelprächtig vorbereitet war. Vielleicht konnte sie noch ein wenig lernen, wenn sie früh genug in der Schule war. Sandra sah auf die Uhr. Der Bus kam in fünf Minuten. Zeit genug.
Wie jeden Morgen zu dieser Jahreszeit waren die Menschen grau. Als wenn der Herbst sämtliche Farben aus der Welt gewaschen hätte, um seine Anwesenheit zu untermauern. Ein Mann im langen Mantel saß auf dem Platz neben ihr und las in seiner Zeitung. Sandra erfasste lediglich die Überschriften; vergaß sie aber gleich wieder.
Als der Mann an der Stadthalle ausstieg, stellte sie rasch ihren Rucksack auf den frei gewordenen Platz, ehe sich jemand anderes auf ihn setzen konnte.
Nervös blätterte sie durch den Inhalt des Schnellhefters. Eigentlich war das Klausurthema nicht besonders komplex, aber als sie die vielen vollgeschriebenen Seiten sah, überkam sie Panik. Plötzlich hatte sie das Gefühl, alles vergessen zu haben.
Sie wollte ihre Sachen gerade zurück in den Rucksack packen, um sich nicht noch verrückter zu machen, als sie es inmitten des Stapels flüchtig aufschnappte. Salorerte stand als Querverweis direkt unter einer von der Tafel abgezeichneten Tabelle.
Mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben starrte sie auf die Buchstaben, die ganz eindeutig ihrer eigenen Handschrift entsprachen.
Sandra dachte nach. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann und weshalb sie dieses Wort aufgeschrieben hatte. Für einen Augenblick ärgerte sie sich darüber, dass sie stets darauf verzichtete, das aktuelle Datum auf jedem neu angefangenen Blatt anzugeben. Aber dann machte sie sich bewusst, dass dies ihrer Erinnerung wohl auch nicht auf die Sprünge geholfen hätte.
Salorerte...was sollte das bedeuten?
Beinahe hätte sie ihre Haltestelle verpasst. Sie rollte den Hefter zusammen, griff nach dem Rucksack und hastete zur Tür.
Es fing an zu regnen. Sandra beschleunigte ihren Schritt und erreichte bald das Tor zum Stadtpark, hinter dem ihre Schule lag. Der Park stellte eine gute Abkürzung dar, allerdings musste man bei diesem Wetter die matschigen Wege in Kauf nehmen, die sich zwischen großen Wiesen und langen Alleen erstreckten.
Der Zustand ihrer ausgetretenen Turnschuhe kümmerte sie wenig, aber dieses verflixte Wort ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Warum zum Teufel hatte sie Salorerte in ihrem Chemieheft stehen, und wer hatte diesen Umschlag überhaupt vor die Wohnungstür gelegt? Er konnte erst seit heute Morgen dort gewesen sein, denn sonst hätte ihre Mutter ihn bereits vor Sandra entdeckt.
Sie beschloss, sich später mit diesen Fragen zu beschäftigen, auch wenn es ihr schwerfiel, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Als sie an dem kleinen See vorbeikam, sah sie einen Mann am Ufer stehen. Er warf Brotkrummen ins Wasser, als hätte er - und vorallem die Enten - bei diesem Wetter nichts besseres zu tun. Sandra schüttelte den Kopf. Erst nachdem sie das Tor passiert hatte, wurde ihr bewusst, wie merkwürdig die Körperhaltung des Mannes gewesen war. Sie konnte sich nicht erklären, was genau sie daran störte und als sie sich umdrehte, war der Fremde plötzlich verschwunden.
Verdammt seltsamer Morgen, dachte sie und lief weiter, vorbei an den alten Häusern, die es in diesem Teil der Stadt überall gab.
Es war viertel vor acht, als Sandra den Klassenraum erreichte. Durch die großen Fenster sah sie, wie der Regen draußen heftiger wurde und sie atmete erleichtert aus.
Sie setzte sich gleich neben ihre Freundin Fiona und stellte den Rucksack auf den Tisch.
"Morgen", sagten beide fast gleichzeitig.
"Ich muss dir was zeigen." - Sandra zog den Hefter hervor und blätterte in ihm, bis sie das Blatt mit der Tabelle wiedergefunden hatte. Dann deutete sie mit dem Zeigefinger auf das Wort, das sie nun seit fast einer Stunde beschäftigte. Eine Stunde, die ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkam.
Fiona sah zu ihr auf und zuckte mit den Schultern.
"Ja und?", fragte sie dann. - "Hast du Probleme mit der Tabelle? Ich dachte, du kämst´ damit klar."
"Ich meine nicht diese verdammte Tabelle", erwiderte sie in ungewollt hoher Lautstärke. Ein paar Jungs drehten sich zu ihr um. Einer machte mit seinen Händen eine beschwichtigende Geste, dann wandten die Zwei sich wieder der Zeitschrift zu, die vor ihnen auf dem Tisch ausgebreitet lag. Sandra sah die vielen buntbemalten Züge und wusste gleich, dass es um Graffitis ging. Normalerweise wäre sie ohne Umschweife dazugestoßen, aber die Sprayer Kunstwerke waren heute Morgen nebensächlich.
Als sie Fionas fragenden Blick bemerkte, fuhr sie fort: "Hier. Dieses Wort, Salorerte, was soll das bedeuten?"
Ihre Freundin beugte den Kopf nahe über die Buchstaben und dachte nach.
"Keine Ahnung", sagte sie schließlich, "ist mir gestern beim lernen gar nicht aufgefallen. Stand das an der Tafel?"
Sandra kratzte sich nervös an der Nase. - "Ich denke schon, ja. Sonst hätte ich es nicht aufgeschrieben."
"Moment."
Fiona legte ihren Ordner neben Sandras Hefter und kramte nach der entsprechenden Seite.
"Hier. Bei mir steht es auch. Wieso seh´ ich das erst jetzt?" - Wie eine stark Kurzsichtige hielt sie ihre Augen direkt über das Wort.
"Ich hoffe, es ist nicht wichtig. Wie kommst du darauf? Ist es dir auch erst gestern aufgefallen?"
"Nein, ich habe eben vor der Wohnung..." - Sandra hielt inne. Auf einmal sah sie wieder diesen Fremden vor sich; so deutlich, als wäre er im Klassenraum. Sie hatte ihn beinahe vergessen. Irgendwas war mit ihm nicht richtig gewesen, was auch immer es sein mochte. Eine innere Stimme hielt sie davon ab, Fiona von dem Briefumschlag zu erzählen. Denn dieser Fremde Mann war ein Krüppel gewesen. Aber erst auf den zweiten Blick, und je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde das Bild. Er war nicht körperlich entstellt, oder eingeschränkt. Es machte ihm Spaß, die Menschen zu täuschen. Auch er war Salorerte. Er war ein psychischer Krüppel. Er war...
"Woher weiss ich diesen Scheiss´?", sagte sie laut, und diesesmal starrten alle in Sandras Richtung.
"Was?" - Fionas Mimik verriet allzu deutlich, dass sie die Welt nicht mehr verstand. Aber da war plötzlich noch etwas anderes in ihrem Blick.
"Zum Teufel, du Luder! Reiss dich zusammen. Willst du uns zum Gespött machen?" - Ihre Freundin hatte geflüstert, was den gesagten Worten aber keinesfalls an Schärfe nahm. So hatte sie Fiona noch nie erlebt. - "Es ist nur...", begann Sandra unsicher.
"Ja ja, es ist mal wieder nur. Du kommst mir mit diesem dämlichen Wort an, um mich darauf aufmerksam zu machen, wie blöd ich bin. Sag doch einfach, was du von mir denkst. Weisst du was? Du kannst mich!"
Die Tür wurde zugeschlagen und ein schlacksiger Mann im grauen Jackett eilte zum Lehrerpult.
Er raunte ein knappes "Morgen" in den Raum, das von einem unmotivierten Chor zurückschallte, und sah sich dann um.
"So geht das nicht. Könnt ihr das nicht wenigstens ein Mal selber regeln? Nicht mehr als vier Leute in einer Reihe. Macht zackzack, die Zeit läuft und zum Pausenbeginn wird abgegeben."
"Ich wollte mich sowieso nach hinten setzen", sagte Fiona und stand auf, wobei sie Sandra einen verächtlichen Blick zuwarf.
Während die Klausurbögen von Herrn Hessmer ausgeteilt wurden, zitterte Sandra. Sie nahm den Stift in die Hand und konnte ihn kaum halten. Sie begriff nicht, was vor sich ging. Warum war Fiona sauer; nur wegen diesem Wort?
Nachdem sie sich an der ersten Aufgabe versucht hatte, wurde das Zittern schlimmer, und sie schloss die Augen.
Es nützte nichts.
Am liebsten hätte sie angefangen zu heulen, aber diese Blöße wollte sich Sandra nicht auch noch geben. Also schrieb sie. Nach ein paar Minuten erkannte sie, dass ihr Stift kaum mehr als wirres, zusammenhangloses Zeug auf dem ersten Aufgabenblatt hinterlassen hatte, und sie blätterte um.
Dann kam ihr auf einmal ein merkwürdiger Gedanke. Sie überflog hastig die Erklärungen und hatte schnell gefunden, wonach sie suchte. Salorerte hier, Salorerte da. Das Wort stand mitten in den Texten, ohne den geringsten Sinn zu ergeben. Zweimal fand sie es sogar direkt neben irgendwelchen Zahlenwerten, wo es noch deplazierter wirkte.
Ein Schweisstropfen landete auf dem Lösungsfeld für Aufgabe drei, und als sie sich zurücklehnte, bemerkte sie, dass ihr Pullover klatschnass war.
"Alles in Ordnung, Frau Geringen?" - Ihr Lehrer blickte sie aus einer Mischung von Besorgnis und zynischer Heiterkeit an. Hinter sich hörte Sandra zwei Mädchen kichern.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die an ihrer Stirn klebte.
Verdammt...überhaupt nichts ist hier in Ordnung. Was sucht dieses dumme Wort überall in der Klausur?
Sie bemühte sich um eine ruhige Stimme, als sie antwortete: "Ja, alles klar."
"Gut."
In diesem Augenblick wurde Sandra zum ersten Mal richtig bewusst, wie sehr sie Hessmer verabscheute. Dieser Scheisskerl brachte es fertig, sie vor der gesamten Klasse lächerlich zu machen. Sie bemühte sich erneut um Konzentration, aber nichts ging mehr. Rien ne va plus. Die Kugel rollte im Rad, und auf sämtlichen Feldern stand "Du hast versagt". Dieses Spiel war unfair. Wieder entstand dieses Bild des Mannes im Park vor ihr, verschwand aber sofort wieder. Im grunde konnte sie gleich abgeben. Diesem Vollidioten, diesem Schluck Wasser die Blätter auf den Tisch knallen und einen galanten Abgang machen, genauso unbekümmert, wie er immer auf seinem Füllfederhalter herumkaute. Manchmal glaubte sie sogar, er wolle das Ding komplett verschlingen, so gierig, wie er sich darüber hermachte.
"Fick dich doch!", schrie sie und war selbst überrascht.
Wenn es in dem Raum zuvor ruhig gewesen war, dann herrschte jetzt Totenstille.
Sandra wich den vielen Blicken aus, die sie überall auf ihrem Körper spürte, und schaute beschämt nach unten. Wie hatte sie das sagen können?
"Wie war das, Frau...Geringen?"
"Nichts, es tut mir leid", gab sie im Tonfall eines schüchternen, kleinen Mädchens zurück. Sie hörte Fiona hinter sich gehässig lachen.
"Nach vorne kommen. Sofort." - Der militärische Klang, der in Hessmers Stimme lag, ließ keinen Widerspruch zu.
Sie stand auf.
"Und bring´ deine Klausur mit, Mädel!"
Sandra nahm den Bogen und ging nach vorne.
"Wie mir scheint, hast du ein Problem mit Autorität", flüsterte ihr Lehrer und trotz der gesenkten Lautstärke schwang tiefer Zorn in seiner Stimme mit.
"Nein", Sandra versuchte die richtigen Worte zu finden, "ich habe hiermit ein Problem."
Sie legte die Blätter auf den Tisch und zeigte auf die Buchstaben, die so fehl am Platze waren.
Hessmer zog die Stirn krauss.
"Nun, da kann ich dir wohl kaum helfen. Du hättest halt die Elementetabelle besser auswendig lernen müssen."
"Es geht nicht um die verdamm...es geht darum. Um Salorerte."
"Du weisst, ich kann dir nicht helfen, auch wenn diese Klausur für dich erledigt ist. Wobei ich dir..."
"Nun hören Sie mir doch erst ein Mal zu. Dieses..."
Hessmer schnitt ihr mit einer schnellen Handbewegung das Wort ab.
"Wobei ich dir allerdings helfen kann, ist bei der Ausstellung eines Verweises. Oder was hast du eben gleich gesagt?"
"Es ist mir rausgerutscht. Ich habe mich doch gleich entschuldigt."
Ihr Lehrer nahm die Klausur, und ließ sie in seinem Aktenkoffer verschwinden.
"Nun gut. Sollte so etwas wie gerade sich jemals wiederholen, dann hast du mehr als nur eine schlechte Note zu befürchten. Und jetzt raus hier, bevor ich es mir anders überlege."
Sandra nahm das letzte Bisschen Mut zusammen, dass ihr noch geblieben war und sagte: "Aber dann erklären Sie mir doch wenigstens, was Salorerte heissen soll. Überall steht es, und ich habe keine Ahnung, warum Sie dieses Wort..."
"Sandra! Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?"
"Ich habe keine Ahnung...ich meine...wieso...", sie wendete sich an die Klasse und sah in verstörte Gesichter. Einige wandten sich schnell ab, wenn Sandras Blick sie traf, andere schüttelten nur den Kopf.
"Ihr braucht gar nicht so zu gucken, ihr Penner. Ich habe nichts genommen. Schaut euch eure Klausur doch an. Salorerte, mindestens zehn Mal. Verdammt, wundert euch das denn überhaupt nicht?"
Hessmers Geduldsfaden war endgültig gerissen. Er sprang von seinem Stuhl hoch und klatschte in die Hände.
"Sandra! Es reicht. Ich habe keine Ahnung, was mit dir los ist, aber dein Tun wird nicht ohne Konsequenzen bleiben."
Sie warf ihm einen flehenden Gesichtsausdruck zu, und Hessmers Hand schnellte nach oben. Für einen Augenblick glaubte sie, dass er ihr eine scheuern wollte und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann deutete er auf die Tür."
"Raus!" - Dieses Mal hatte er gebrüllt. Den Tränen nahe, stürmte Sandra aus dem Unterrichtsraum.
Es regnete noch immer, als sie ziellos durch den Park schlenderte. In der Schule hatte sie nicht bleiben können. Sie hätte es unmöglich ertragen, irgendeinem ihrer Klassenkameraden in die Augen zu schauen. Sollten sie ihr doch einen Verweis erteilen. Sandra hatte die Realschule sowieso nie leiden können. Sie wollte damals auf die Hauptschule, die in der Nähe ihrer Wohnung lag, aber da hatte ihre Mutter nicht mitgespielt.
Sieh´ mich an. Willst du auch Putzfrau werden?
Als wenn ihr kümmerlicher Job, der die Beiden kaum über die Runden brachte, irgendetwas damit zu tun gehabt hätte, dass sie selbst keine gute Schulbildung vorweisen konnte. Sandra wusste, dass sie kein Wunschkind gewesen war, auch, wenn ihre Mutter stets das Gegenteil behauptete.
Innerhalb weniger Minuten war Sandras Leben zu einem Albtraum geworden. Kurz hatte sie darüber nachgedacht, von einer Brücke zu springen. Natürlich war es nur eine Vorstellung gewesen, die sie nicht wirklich ernst nahm. Aber irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass allein die Idee eines Suizidversuches davon zeugte, dass man sich bereits auf dem Weg befand, der zu eben diesem hinführte.
Und das alles wegen dieses beschissenen Briefumschlags. Warum hatte sie ihn nicht einfach liegen lassen?
"Du möchtest vergessen", stellte die Frau fest, die plötzlich vor Sandra stand.
Sie war wie aus dem Nichts erschienen, und genauso sah sie aus. Es war Sandra unmöglich, ihr Gesicht zu erfassen. Es war zweifellos vorhanden, nur konnte sie es sich nicht einprägen. Als wenn die Augen dem Gehirn einen Streich spielten. Sie zeichneten ein temporäres Bild, das sofort wieder verschwand, kaum das es entstanden war, nur, um dann wieder von neuem zu entstehen, und erneut zu verschwinden. Ein ekelhafter Kreislauf, der Übelkeit in Sandras Magen aufstiegen ließ.
Sie sah zur Seite und fragte: "Woher wissen Sie das, und wer sind Sie überhaupt?" - Sandra hatte es längst aufgegeben, nach den Ursachen zu fragen. Seit dem Erlebnis in der Klasse gab es keine Ursachen mehr. Nur Auswirkungen und knallharte Tatsachen.
"Es ist unwichtig. Alles ist so unwichtig, wenn man die Welt erst gesehen hat, wie sie wirklich ist. Es ist keine Illusion. Die Menschen machen sie zu einer Illusion, aber es ist keine. Möchtest du Salorerte wieder vergessen, oder willst du sehen, was innerhalb deiner tatsächlichen Wahrnehmung liegt und außerhalb deines Glaubens, von dem, was sein muss?"
Sandra zitterte wieder, und ein Gedanke formte sich in ihrem Kopf. So klar, dass sie wusste, wie absurd es war, ihn wieder loslassen zu wollen.
Heute ist dein Leben, so wie du es kennst, zuende.
Es war eine Gewissheit. Zuvieles war seit dem Morgen geschehen, als wenn die Dinge jemals wieder so sein konnten, wie zuvor.
"Angenommen, ich möchte vergessen, wie ginge das?"
Die Fremde hielt ihr eine Tablettenpackung hin. - "Die bekommt man in keiner Apotheke der Welt zu kaufen", sagte sie.
Sandra überlegte.
Wenn sie jetzt vergaß, dann war sie in der Klasse endgültig unten durch.
Erst flippt sie vor versammelter Mannschaft aus, und dann hat sie plötzlich keine Erinnerung mehr daran. Diese Feststellung stellte die Einzige von Belang dar. Alles andere war nebensächlich. Sie wollte nicht, dass man über sie lachte; hinter ihrem Rücken tuschelte.
"Ich will nicht vergessen."
Die Frau steckte die Schachtel wieder ein.
"Dann werde ich dir jetzt etwas zeigen, was eigentlich jeder sehen sollte. Aber leider ist dem nicht so. Schau´ auf die Spaziergänger da hinten!"
Sandra drehte ihren Kopf in die Richtung, in die die Fremde zeigte.
"Was siehst du?"
"Da ist bloß ein älteres Ehepaar, das..."
"Sehe hin. Salorerte ist bloß ein Wort von vielen. So viele Verknüpfungen. Ein Lexikon. Beobachte die Beiden. Sind die Bäume um sie herum grün, oder glaubst du, sie sind es? Könnten sie blau sein? Könnten die Zwei ein anderes altes Ehepaar sein? Ich überrenne deinen Verstand. Du wirst überflutet von Eindrücken. Gelb, grün, blau...welchen Unterschied macht das? Kannst du deinen Kopf auch um dreihundertsechzig Grad drehen, oder nur halb so lang? Sind Farben bunt? Sind Kilometer mit der Uhr messbar?"
Sandra riss sich los aus dem emotionalen Strudel, der unvermittelt von ihr Besitz ergriffen hatte, und der sie hinunterzog in Tiefen des Verstandes, die sie bis dahin nicht gekannt hatte.
Was geschah, verlangsamte sich. Was sich verlangsamte, wurde unbegreifbar. Was unbegreifbar wurde, gehörte zur Realität. Die Realität wurde enttarnt.
"Was passiert mit mir? Es ist so komisch."
Die Frau lachte.
"Nein mein Schatz...es ist normal. Es dauert lange, bis die Gewohnheit von einem fällt. Soviel Zeit haben wir gerade bedauerlicherweise nicht. Du verzeihst, wenn ich ein wenig nachhelfe?"
Sandra spürte einen stechenden Schmerz in ihrem Unterarm und stöhnte laut auf.
"Jetzt siehst du", sagte die Fremde.
***
Es war, als wäre eine innere Blockade durchbrochen worden. Auf den ersten Blick sah der Park wie immer aus. Auch auf den Zweiten.
Sandra blinzelte. Nichts tat sich, und dennoch fühlte sie die Veränderung. Sie sah der Frau direkt ins Gesicht.
Sie war schön, und sie lächelte. Jetzt konnte sie sich ihr Gesicht mühelos einprägen.
Dann richtete Sandra ihre Augen wieder auf das Ehepaar und auf einmal durchfuhr sie eine furchtbare Wut. Was geschah da mit ihr?
"Ich heiße übrigens Klara. Früher haben wir den Eingeweihten immer die Namen von Philosophen hingeworfen, um zu beschreiben, was du jetzt empfindest. Aber heute kennt die eh´ keiner mehr. Man muss halt mit der Zeit gehen; schließlich steht das endgültige Ende kurz bevor." - Klara lächelte schüchtern, während Sandra ihre Worte überhörte. Sie wollte bloß eines wissen:
"Weshalb bin ich so wütend?
Klaras Lächeln erstarb.
"Weil du die Wahrheit siehst."