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Das endgültige Ende - KAPITEL I - Max Parker
Das trübe Novemberlicht ließ das Wartezimmer noch trostloser erscheinen.
Max setzte sich auf einen der Plastikstühle und nahm eine Zeitschrift von dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand.
Unaufmerksam blätterte er die Artikel durch; las lediglich die Überschriften, und vergaß sie gleich wieder.
Außer ihm und einer Frau, die Max auf Ende vierzig schätzte, war sonst niemand hier drin. Er widerstand dem aufkommenden Drang, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Wenn er nervös war, redete er immer viel. Aber heute hatte er nichts zu erzählen. Zumindest nichts, was ihm irgendwer geglaubt hätte. Es fiel ihm ja selbst schwer, die Dinge, die in den vergangenen tagen geschehen waren, für sich zu akzeptieren.
Plötzlich wusste er, dass dieser Termin vergeudete Zeit darstellte. Max benötigte keinen seelischen Beistand von jemandem, der an der Gesundheit seiner Psyche zweifeln würde, wenn er das Unglaubliche erzählte, das ihm widerfahren war. Und ganz im ernst: Welche Qualitäten mochte ein Psychiater vorweisen können, dessen Wartezimmer eine Aura ausstrahlte, die die Patienten bereits vor der Sitzung deprimierte?
Max stand auf und verließ den Raum. Er spürte den Blick der Frau auf seinem Rücken ruhen, als er durch die Tür zurück in den Gang trat.
Sein Herz fing an zu rasen. Wenn er jetzt ging, wo sollte er dann bleiben? Nach Hause konnte er unmöglich zurückkehren, und im Hotel hatte er heute Morgen ausgecheckt. Er hätte sich ein neues Zimmer nehmen können, aber für wie lange? Sein Konto war jetzt bereits mehr überzogen, als es sein Limit zuließ. Vor einer Woche war Max zum letzten Mal auf der Arbeit erschienen, und hatte danach nichts mehr von sich hören lassen. Vermutlich war er mittlerweile längst entlassen.
Eine Sprechstundenhilfe kam den Gang entlang und sah ihn fragend an.
"Alles in Ordnung?", wollte sie wissen.
Max zögerte einen Augenblick, ehe er sagte: "Ja, es ist bloß...es ist bloß so, dass ich die Toilette suche."
Die Frau lächelte.
"Den Gang runter zur Anmeldung, dann die zweite Tür links."
"Danke."
Das kalte Wasser auf seinem Gesicht tat gut. Nachdem er sich gewaschen hatte, schaute er in den Spiegel.
Kann es tatsächlich möglich sein?, fragte er sich abermals.
Der Fremde hatte ihm Dinge gezeigt, deren Existenz er niemals für möglich gehalten hätte. Allein diese Dinge stellten alles, woran Max je geglaubt hatte, in Frage. Aber er wäre vermutlich damit klargekommen. Mit Sicherheit nicht ohne weiteres, doch er hätte das Gesehene früher oder später verdaut; er hätte es verharmlost und anschließend in die Ecke seines Verstandes gedrängt, in der man einen Traum nicht mehr von dem tatsächlich statt gefundenen zu unterscheiden weiss.
Das wirklich grauenvolle jedoch, der Umstand, den er wohl den Rest seines Lebens nicht würde akzeptieren können, lag an anderer Stelle begraben.
Alle diese Dinge passierten hier und jetzt. In keiner Parallelwelt, oder in einem anderen Universum. Nein, Menschen wie er, ganz gewöhnliche Leute, waren umgeben von etwas so furchtbarem; ohne, dass sie es bemerkten.
Doch wenn die Grenze der Wahrnehmung erst ein Mal überschritten war, dann gab es kein Zurück.
Er fing an zu zittern.
Machte es einen Unterschied, wenn er den Termin jetzt platzen ließ?
Tat er es nicht, konnte er wenigstens irgendwem erzählen, was vorgefallen war. Glaubwürdigkeit spielte ohnehin keine relevante Rolle mehr.
Max verließ die Toilette und ging zurück in das Wartezimmer. Der Platz, auf dem die Frau gesessen hatte, war leer. Ihn würde man als nächstes aufrufen.
Es vergingen zwanzig endlos lange Minuten, bis er von einer aus dem Lautsprecher kommenden Frauenstimme in den Arztraum gebeten wurde.
Sein Gegenüber stellte sich ihm als Doktor Grelle vor. Ein älterer Mann mit grauen Haaren, die er zu einem Seitenscheitel gekämmt hatte. Max fand ihn unsymphatisch. In seiner Stimme lag die professionelle Gleichgültigkeit eines Menschens, der nicht mehr als seinen Job tat. Für ihn war Max lediglich eine Akte, die man bei Bedarf unter unzähligen anderen aus der Schublade fischen konnte, und deren Staubschicht mit der Zeit dicker wurde, wenn man nur regelmäßig genügend Medikation verschrieb.
"Also Herr, ehm, Parker. Sie sind heute also zum ersten Mal in meiner Praxis." - Es sollte eine Feststellung sein, aber Max hörte die Frage aus ihr heraus. Hatte der gute Doktor Grelle den entsprechenden Vermerk nicht schnell genug entdeckt?
"Das ist richtig", antwortete er mechanisch.
"Und Sie...nein, ich will es so formulieren: Niemand macht gerne diesen ersten Schritt. Es vergeht meist eine ganze Menge Zeit, ehe jemand sich in therapeutische Behandlung begibt, und bis dahin ist in der Regel bereits sehr viel passiert. Viele Leute haben angst davor, mit einem Fremden über so persönliche Dinge wie dem eigenen Leben zu reden, wenn Sie verstehen." - Der Doktor lächelte verschmitzt und plötzlich fand Max ihn gar nicht mehr so unsymphatisch. Möglicherweise hatte er ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht war es gar keine arrogante Routine, die aus ihm sprach, sondern eine harmlose Form von Schusseligkeit.
"Nun, Herr Doktor Grelle", begann Max.
"Martin", unterbrach dieser ihn. - "Wie kann ich von Ihnen verlangen, mir von Ihren Problemen zu erzählen, wenn Sie mich immer mit Herr Doktor ansprechen müssen?"
"Max", sagte Parker irritiert. Er spürte, wie die innere Anspannung von ihm wich. Gab es die Chance, dass sein Gegenüber doch verstehen würde, was er zu sagen hatte?
Erneut dachte er über die Ereignisse der letzten Tage nach, und je mehr er sie sich vergegenwärtigte, umso mehr wich diese Hoffnung wieder. Niemand, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte ihm je glauben schenken.
Eine Welt in der Welt , hatte der Fremde gesagt, bevor er Max die Realität hinter der Bühnenwand zeigte. Was jenseits des Vorhangs lag, das wusste jedes Kind. Aber hinter der Bühne selbst, da gab es keine Kinder, da gab es nur...
Parker begann wieder zu zittern.
"Sie haben angst", sagte Martin, und diesesmal war es eine Feststellung.
Max vergrub seine Fingernägel in den Lehnen des Sessels. Machte es einen Unterschied, die Wahrheit zu sagen?
"Die habe ich. Eine gottverdammte Panik, um genau zu sein."
"Was haben Sie erlebt? Also, eine unüberwundene Liebe ist das nicht, die da ihr Gesicht vor Entsetzen verzerrt. Soviel ist sicher."
Max musste grinsen. Ein Grinsen, das gleich wieder erstarb.
"Wissen Sie, Herr...Martin, haben Sie eine Vorstellung von der Hölle?"
Grelle nahm die eine Hand in die andere und lehnte sich auf seinen Schreibtisch.
"Selbstverständlich", sagte er dann. - "Hätte ich die nicht, dann könnte ich meinen Patienten wohl kaum helfen, einen Weg zu finden, der sie aus diesem Schlamassel wieder herausführt. Wissen Sie Max, ich schäme mich nicht zuzugeben, selbst in psychologischer Behandlung zu sein. Die Leute denken immer, es ginge ihnen gut. Solange, bis sie zusammenbrechen. Jeder Mensch hat Probleme. Ein Therapeut, der sich selbst als gesund bezeichnet, ist ein Narr."
Max atmete tief aus. Sterne erschienen vor seinem Sichtfeld, und für einen Moment befürchtete er, die Besinnung zu verlieren. Er schloss die Augen und zählte gedanklich bis zehn. Die grausamen Bilder, die sich ihm dabei aufdrängten, ließ er so gut es ging außer acht.
Als er die Augen wieder öffnete, fühlte er sich ruhiger. Martin sah ihn geduldig an.
"Seien Sie sich Ihrer Sache nicht zu sicher. Noch wissen Sie nicht, was ich Ihnen zu erzählen habe, Martin. Ich könnte ein kompletter Irrer sein."
Der Doktor lachte.
"Ich glaube nicht, dass Sie ein Irrer sind. Sie haben etwas gesehen, das sie zutiefst verunsichert hat. Etwas aus Ihrer augenblicklichen Sicht grauenvolles."
Max zuckte zusammen. Sein Herz raste. Woher konnte dieser Mann das wissen? War das seine Masche, die Patienten zu durchschauen?
"Martin, Sie haben keine Ahnung, wovon ich hier spreche."
"Denken Sie das wirklich?"
Der Doktor gab sich mit den Füßen einen Stoß und rollte auf seinem Stuhl zu einem unscheinbaren Schrank hin, der in einer Ecke des Raums stand. Er öffnete die oberste Schublade und beförderte eine kleine Pappschachtel zutage. Dann rollte er zurück und ließ die Schachtel auf den Tisch knallen.
"Da", sagte er.
"Was ist das?", wollte Max mit Blick auf die Medikamentenpackung wissen. - "Wollen Sie mich ruhig stellen, noch bevor Sie überhaupt wissen, was mir fehlt? War die Frau vor mir deshalb nur zwanzig Minuten hier drin, weil Sie Ihren Patienten nicht zuhören?"
Wut kam in ihm auf. Wut sowohl auf sein Gegenüber, als auch auf sich selbst, dass er seinen ersten Eindruck nicht als Wahrheit hingenommen hatte.
Grelles Miene regte sich indess kein bisschen. Sein Blick glich dem einer Statue, die aus eben jenem Moment der Ewigkeit herausstarrte, in dem ihr Erbauer die Augen in den Stein gemeißelt hatte.
"Ob ich Sie ruhig stellen will? Im Moment sehen Sie so aus, als wenn Sie selbst der Ruhe nicht abgeneigt wären. Diese Tabletten hier lassen Sie vergessen. Glauben Sie mir, denn ich kenne genug Leute, die sie genommen haben. Brüder erkennen einander, oder nicht? Es ist ein Fremder auf Sie zugekommen, und hat Ihnen Dinge gezeigt. Dinge, die eigentlich ganz offensichtlich sein sollten, und Sie haben überhaupt nicht verstanden, weshalb Sie Ihnen bislang nie aufgefallen sind. Ich sehe es ganz deutlich. Sie sind ein Eingeweihter."
Ohne sich auf das Gesagte einzulassen, griff Max nach den Tabletten. Eine weiße Packung, mit blauer Schrift.
"Die gibt es in keiner Apotheke der Welt zu kaufen", gab ihm der Doktor zu verstehen. - "Kennen Sie den Film ´Matrix´? Was glauben Sie, woher die Idee mit den zweifarbigen Kapseln kommt? Sie sind nicht der Einzige, dem der Fremde erschienen ist, aber manche Menschen kommen damit nicht klar, weil die Wirklichkeit nämlich noch viel schlimmer ist, als die im Kino präsentierte. Gott...ich wünsche mir manchmal, diese unsere Realität wäre keine echte. Aber sie ist echt. Was soll man da machen?"
Parker warf die Schachtel auf den Tisch zurück.
"Nun, wenn diese Tabletten mich vergessen lassen, was machen dann die anderen, sofern es diese überhaupt gibt?" - Er war plötzlich merkwürdig ruhig. Zu vieles lag hinter ihm, als wenn ihn dieses Gespräch jetzt noch verunsichert hätte. Es war schon seltsam. Noch vor einer Minute hatte ihm die Furcht die Kehle zugeschnürt, aber nun, wo er offensichtlich und völlig unerwartet einen Mitwisser gefunden hatte, ging es ihm auf unerklärliche Weise besser.
"Die anderen Tabletten." - Martin nahm die Hände vom Tisch und massierte sich die Schläfen.
"Nun...die gibt es nicht. Es gibt nur das Vergessen. Möchten Sie vergessen, was Sie bisher gesehen haben, Max?"
Ohne ein Wort zu erwidern riss Parker die Packung auf, nahm gleich zwei Tabletten in die Hand, steckte sie in den Mund, und spuckte sie dann wieder aus.
"Bevor ich die da runterschlucke, will ich eines von Ihnen wissen, Martin. Haben Sie sie genommen?"
Der Doktor schüttelte den Kopf.
"Und dennoch sind Sie nicht verrückt geworden?"
"Sehen Sie mich an, Max. Erwecke ich etwa den Eindruck eines Verrückten?"
Da war sich Parker plötzlich nicht mehr so sicher.
Er dachte nicht mehr lange nach, sondern steckte sich die auf dem Terminkalender des Doktors gelandeten Tabletten schnell wieder in den Mund. Dann schluckte er.
"Mir ist es egal, wie Sie damit klar kommen, Herr Doktor Grelle. Ich jedenfalls will diese Bilder raushaben aus meinem Schädel."
Grelle legte seine rechte Hand auf die von Max.
"Ich akzeptiere Ihre Entscheidung", sagte er tröstend.
Dunkelheit breitete ihre gewaltigen Arme über Max aus.
Und dann vergaß er.