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Das Ende
Draußen ist es still. Autos stehen am Straßenrand. Vogelkot bedeckt die meisten von ihnen, sodass sie von meinem Fenster aus fast alle weiß scheinen. Oder ist das Schnee? Von hier oben kann ich das nicht sagen. Einige Fenster sind eingeschlagen, nicht nur bei den Autos, auch in den Geschäften. Nur der Elektronikladen gegenüber sieht aus, als wäre nichts passiert. Doch die Müllberge vor dem Eingang, sowie auf der restlichen Straße verraten ihn. Von meinem Platz aus erscheinen sie klein, doch eigentlich sind sie an einigen Stellen mehr als zwei Meter hoch. Das war zumindest so, als ich das letzte Mal auf der Straße war. Kein Mensch, nicht einmal ein Tier zeigt sich auf der Straße. Ich habe mich immer noch nicht an die allgegenwärtige Ruhe gewöhnt. Die ersten Schneeflocken fallen. Sie bedecken alles. Langsam aber sicher. Vielleicht wird der ganze Müll bald nicht mehr zu sehen sein. Früher habe ich mich immer über Schnee gefreut. Mir hätte es noch nicht einmal jetzt, im Juni, etwas ausgemacht. Doch jetzt? Jetzt ist er ein Zeichen für das, was uns allen bevorsteht. Für das, was vielen dort draußen bereits passiert ist.
Ich drehe mich um. Es ist zu frustrierend aus dem Fenster zu sehen. Trotzdem beginne ich so jeden Tag aufs Neue, in der vagen Hoffnung, es würde sich vielleicht doch etwas ändern. Aber leider sieht jeder Tag wie der vorherige aus. Und es lenkt mich schon lange nicht mehr vom Hunger ab. Dem Hunger, der inzwischen so groß ist, dass ich ohne meine Krücke kaum noch stehen könnte. Bohrende Schmerzen, inzwischen nicht mehr nur in meinem Bauch, sondern im ganzen Körper. Ist es wirklich nur der Hunger, der so schmerzt? Wäre es nicht so viel einfacher, sich das Leben zu nehmen? Ich müsste einfach nur das Fenster öffnen und mich hinausfallen lassen. Wahrscheinlich würde ich beim Aufprall auf den Boden sterben, wenn nicht verbluten oder erfrieren. Aber wieso sollte ich es mir leicht machen? Ich bin genauso Schuld an dem was geschehen ist, wie jeder andere. Nun gut, vielleicht die Kinder nicht, aber sonst ist jeder zu einem gewissen Teil Schuld an dieser Situation. Einige mehr, andere weniger. Auch wenn die meisten Menschen das nicht so sehen und auch nie so sehen werden, sofern sie noch leben.
Langsam gehe ich zu meinem alten Kleiderschrank. Der Holzschrank mit seinen geschnitzten Verzierungen war einst das Prachtstück meiner Wohnung. Heute ist er völlig eingestaubt, aber Möbel haben sowieso keinen materiellen Wert mehr.
Oben auf dem Schrank liegt mein Koffer. Der Koffer, den meine Schwester mir damals geschenkt hat. Vor der Katastrophe. Ist es wirklich erst drei Jahre her? Vielleicht lebt sie ja noch. Das letzte, was ich von ihr gehört habe, war, dass sie soweit nach Süden reisen wollte, wie nur möglich. Wie so viele andere glaubte sie, dass die Chancen auf Überleben dort größer sind. Überleben! Ich schüttle unwillkürlich den Kopf. Schon lange habe ich die Hoffnung darauf aufgegeben. Oder vielleicht sehe ich es auch nur realistischer. Die Menschheit hat sich längst selbst vernichtet. Ich gehöre zu den letzten noch lebenden Relikten eines Volkes, welches nicht verdient hat überhaupt zu existieren.
Langsam fahre ich mit den Fingern über den Koffer, doch ich spüre den blauen Stoff kaum.
Vielleicht sollte ich doch noch versuchen meiner Schwester nachzureisen. Auch wenn die Chancen die Reise zu überleben und sie zu finden äußerst gering sind. Aber ich würde sie so gerne noch einmal sehen, sie in die Arme nehmen. Alleine der Gedanke an sie erfüllt mich wieder mit etwas Kraft. Ich spüre ganz genau, wie sie in meine Arme, in meine Beine fährt. Mit einiger Mühe schaffe ich es, den Koffer herunterzuholen. Er ist inzwischen viel zu schwer für mich, obwohl er leer ist. An seinem Griff hängt noch das Kärtchen mit der Aufschrift „Frohe Weihnachten“. Innen steht in der Schönschrift meiner Schwester: „Viel Spaß bei deiner Reise 2019. Ich hoffe, dir gefällt Italien.“ Die Erinnerungen an dieses Weihnachten überkommen mich:
Heilig Abend. Die letzten Wochen hatte ich mich auf diesen Tag gefreut. Schon seit Tagen hörte ich nur noch Weihnachtslieder. Meiner Familie hingen sie schon zu den Ohren raus, doch ich konnte nicht genug davon bekommen. Wir hatten den Tannenbaum geschmückt, die Geschenke darunter gelegt und waren in den Gottesdienst gegangen. Der einzige Tag im Jahr, an dem ich wirklich gerne zur Kirche ging. Es gehörte für mich einfach zum Heiligen Abend dazu. Als wir wieder zurückkamen, bereiteten meine Mutter und ich das Weihnachtsessen zu. Ente, nicht gerade mein Lieblingsessen, aber einmal im Jahr konnte man so etwas schon essen. Nachdem die ganze Familie sich satt gegessen hatte, machten wir die Bescherung. Ich bekam einige Geschenke, doch am meisten freute ich mich über den Koffer. Mein alter war schon ziemlich ramponiert gewesen und ich hatte überlegt, mir einen neuen für meine Rundreise zu kaufen.
Wir saßen alle zusammen, redeten über alles Mögliche, als plötzlich die Sirenen losgingen. Feueralarm, an sich nichts Ungewöhnliches. Wir haben einfach weitergeredet, bis die ersten Nachrichten eintrafen. Unentwegt schienen die Handys zu bimmeln. Trotz dem eigentlich Handyfreien Abend, griff ich zu meinem. So etwas war nicht normal war. Zumindest nicht an diesem Abend. Meine Freunde wussten alle, dass sie an diesem Abend keine Antwort von mir zu erwarten hatten. Wieso also sollten sie mir schreiben, wenn es nicht wichtig war?
Nachrichten wie: „Wir werden alle sterben!“, „Was sollen wir jetzt machen!“, „Wie ist das passiert?“ konnte ich in mehreren Chats lesen.
„Was ist denn passiert?“, schrieb ich verwirrt zurück.
Die Antwort war nur: „Nachrichten!!!!“
Mit vier Ausrufezeichen. Das weiß ich noch ganz genau. Ich schaltete den Fernseher an. Etwas, das bei uns am Heiligen Abend noch nie vorgekommen war. Noch nicht einmal meine Eltern sagten etwas dazu, obwohl sie mir missbilligende Blicke zuwarfen. Das blaue Leuchten erfüllte den Raum. Nur Sekunden später drangen die ersten Worte aus den Lautsprechern.
„… bitten die Bevölkerung nicht in Panik zu verfallen“, sagte jemand.
Wohl über eine Telefonleitung, denn es war nur der Nachrichtensprecher zu sehen. Was sollte das? Weshalb sollten wir nicht in Panik verfallen?
„Bitte bleiben sie zu Hause und warten sie auf weitere Informationen. Sobald wir genaueres wissen, werden wir sie darüber in Kenntnis setzen.“
Meine Aufmerksamkeit wurde vom Fließtext am unteren Bildschirmrand gefangen genommen: „Heute, um 20:39 Uhr MEZ, starteten die USA und Russland Langstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen. Von welchem Land diese Aggressionshandlungen ausgingen, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unklar. Laut dem nordkoreanischen Staatsfernsehen hat Pjöngjang ebenfalls Raketen gestartet. Diese Informationen wurden aber noch nicht von anderen Quellen bestätigt. Weitere Informationen folgen.“
Ein Atomkrieg! Ich hatte es kommen sehen, doch ich hatte nicht so früh damit gerechnet. Statt wie meine Freunde in Panik zu verfallen, blieb ich ruhig. Bereits zu dem Zeitpunkt war mir innerlich wohl schon klar, dass das das Ende der Menschheit war. Ich machte mir keine Illusionen zu überleben. Wenn nicht durch eine Rakete, dann würde ich sicher an den Folgen dieses Krieges sterben. Meine Eltern fingen allerdings hektisch an, Sachen zusammen zu packen. Meine Mutter ruft mir zu, weil ich immer noch ruhig auf meinem Platz sitze: „Pack deine Sachen! Wir müssen hier weg, irgendwohin, wo wir vor der Strahlung sicher …“
Ein dumpfes Poltern reißt mich aus meiner Erinnerung. Überrascht zucke ich zusammen und schaue mich nach dem ungewohnten Geräusch um. Es dauert etwas, bis ich bemerke, dass ich das Geräusch verursacht habe. Mein Koffer ist mir aus der Hand gefallen. Immerhin hat er mich aus der Vergangenheit befreit. Und doch …
Ich kann die Vergangenheit nicht mehr zurückholen, aber ich kann zumindest meine Familie suchen. Langsam schleppe ich mich zur Tür. Den Koffer brauche ich nicht. Vielleicht finde ich irgendwo einen Rucksack. Und Nahrung! Was ist wohl wahrscheinlicher? Im Stockwerk unter mir oder über mir? Vermutlich wäre es effektiver nach oben zu gehen, aber reichen meine Kräfte dafür aus? Ich muss es versuchen. Erstmal etwas zu essen finden. Wenn ich meinen Magen etwas gefüllt habe, schaue ich weiter. Aber ich werde meine Schwester finden! Egal wie lange es dauert. Ich werde nicht aufgeben!
Von den grauen Wänden des Flurs blättert die Farbe ab. Das Treppenhaus ist nicht so weit weg, wie einige andere Wohnungen, in denen ich schon auf der Suche nach Essen war.
Ich stoße die Tür zum Treppenhaus auf und muss sofort die Nase rümpfen. Irgendetwas oder jemand muss hier drinnen gestorben sein, so wie es riecht. Wobei der Gestank natürlich auch von draußen kommen kann. Aber es hilft nichts.
Die Treppenstufen sind so hoch. Viel höher, als in meiner Erinnerung. Aber ich muss nach oben. Ich muss etwas zu essen finden, um mich auf die Reise machen zu können.
Jemand läuft vor mir die Treppe hinauf. Ich höre die Schritte. Es sind schnelle, kräftige Schritte. Dann stoppen sie plötzlich. Ein Gesicht erscheint hinter dem Geländer. Das kann doch nicht …
„Komm, hier oben gibt es eine Menge zu essen“, ruft mir meine Schwester zu. Sie hat sich kaum verändert, seit dem letzten Mal, als ich sie gesehen habe.
Entschlossen nehme ich eine Stufe nach der anderen. Meine Schwester gibt mir die Kraft, weiter zu gehen. Doch sie ist zu schnell für mich. Ich bin schon ganz außer Atem, als ich den ersten Absatz erreiche.
„Beeil dich, sonst esse ich dir alles weg!“
„Warte auf mich!“, rufe ich ihr panisch zu.
Ich will sie nicht aus den Augen verlieren. Sie ist die Person, die mich jetzt antreibt.
Ihr Gesicht taucht ein ganzes Stockwerk über mir auf. Sie lacht mich aus. Lacht, weil ich so viel langsamer bin, als sie. Viel höher kann sie aber nicht. Auch wenn es länger dauert, ich werde sie einholen.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe, mich die drei Stockwerke auf das Dach hochzuquälen, aber ich habe es geschafft. Irgendwie. Es liegen tatsächlich einige Zentimeter Schnee hier oben. Aber das ist unwichtig. Wo ist meine Schwester? Dort, wo noch Reste des Geländers des Daches zu sehen sind.
„Wollen wie ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ spielen?“, ruft sie mir zu.
„Da unten gibt es nichts zu sehen. Komm lieber vom Rand weg, nicht das du fällst.“
Wieso ist die Kleine eigentlich so unvorsichtig? Oder ist es ihr inzwischen egal, ob sie stirbt oder nicht. Aber mir ist es das nicht. Ich brauche sie. Sie noch einmal zu verlieren wäre mehr, als ich ertragen könnte.
Obwohl ich eigentlich nicht mehr die Kraft dazu habe, gehe ich auf sie zu. Bei jedem Schritt zittern meine Beine so sehr, dass ich zu stürzen drohe. Aber ich schaffe es, bis zu ihr, ohne hinzufallen. Ich muss sie von hier wegbringen, weiter vom Dachrand weg, in Sicherheit. Vorsichtig strecke ich meine Hand nach ihr aus, will sie zurückziehen. Doch ich verliere das Gleichgewicht, stürze auf sie zu. Ich werde durch meine eigene Ungeschicklichkeit meine Schwester vom Dach in den Tod stürzen.
Ich schließe die Augen, wappne mich für den Aufprall. Vielleicht kann ich sie festhalten, wenn ich gegen sie stoße.
„Wir sehen uns gleich“, ruft mir meine Schwester zu.
Was soll das denn bedeuten? Luft umspielt mich. Sie zerrt immer mehr an meinem Körper. Und wieso habe ich immer noch nicht meine Schwester getroffen. Ich öffne die Augen.
Der Boden rast auf mich zu. Wieso falle ich jetzt? Was ist mit meiner Schwester passiert? Ist sie vor mir vom Dach gesprungen? Nein, sie steht auf der Straße und blickt zu mir hoch. Sie lächelt, während ich auf sie zustürze.
„Das Ende und der Anfang!“, höre ich ihre Stimme in meinem Ohr.