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Das Ende der Träume
Dunkelheit.
Enge.
Einsamkeit.
Sie fühlte sich vollkommen verlassen. Als sie versuchte sich umzusehen, schlug ihr nichts als Dunkelheit entgegen. Wo war sie? Und war sie allein?
Auch wenn sie auf das „wo“ keine Antwort wusste, merkte sie, dass sie nicht gänzlich allein sein konnte. Dumpf erklangen Stimmen in der Ferne, die sich scheinbar unterhielten. Doch so sehr sie sich auch konzentrierte, vermochte sie dennoch nichts vom Inhalt zu verstehen.
Wie war sie bloß hierher gekommen? Sie versuchte sich zu erinnern. Morgens war sie wie üblich vom Wecker wach geworden, der sie viel zu früh aus dem Schlaf gerissen hatte. Danach folgte ihr fast schon rituelles Morgenprogramm. Nachdem sie noch zehn Minuten aus Trotz vor dem Alltag im Bett verbracht hatte, ging sie ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Und wie jeden Morgen, war sie auch an diesem Morgen mit ihrem Aussehen unzufrieden. Müde grüne Augen sahen sie unter einer chaotischen Mähne brünetten Haares aus dem Spiegel heraus an. Keine Frage mit ihrer Figur war sie im Gegensatz zu den meisten Frauen zufrieden. Sie war schlank und man sah ihr mehr Sportlichkeit an, als sie eigentlich nach ihrer unregelmäßigen sportlichen Betätigung ausstrahlen dürfte. Doch ihre Haut bekam durch das unnatürliche Licht im Badezimmer einen aschfahlen Aspekt, der eigentlich wenig mit dem Hautton einer lebenden jungen Frau gemein hatte.
Nach einer erweckenden Dusche saß sie allein am Frühstückstisch und zwang sich zwei Brote zu essen und genoss dazu einen Kaffee. Bedauerlicherweise war seit zwei Monaten ihr Radio kaputt, weshalb auch an diesem Morgen die morgendliche Stille nur vereinzelt durch das Blättern in ihrer Frauenzeitschrift unterbrochen wurde.
Und dann war sie in ihrem Kleinwagen zur Arbeit gefahren. Sie besaß ein kleines Blumengeschäft, was nicht besonders viel abwarf. Vor allem nicht in der Winterzeit nach Neujahr. Nichtsdestotrotz war sie nicht unzufrieden mit ihrer Beschäftigung. Einige Stammkunden kannte sie mit Namen und die Pflege ihrer Blumen erfüllte sie mit Befriedigung. Manchmal, wenn sich gerade keine Kunden im Geschäft befanden, ertappte sie sich dabei, wie sie einfach den Blick durch ihren Laden schweifen ließ und sich dabei ganz langsam kaum merklich im Kreis drehte. Ihr Blick fiel über strahlend weiße Orchideen, blutrote Rosen, goldgelbe Narzissen und zartrosa anmutenden Hyazinthen.
Doch für diesen Tag konnte sie sich nicht an ihre Blumen erinnern... Was war passiert?
Während sie sich zu erinnern versuchte, begann sich ihre Umgebung zu verändern.
Die Dunkelheit brach und eine Person kam auf sie zu. Zunächst unscharf wurde sie doch immer klarer, je näher sie kam. Alsbald erkannte sie ihre Zwillingsschwester, ihre wunderschöne Zwillingsschwester. Auch wenn sie beide für Außenstehende kaum unterscheidbar waren, empfand sie ihre Schwester immer als immens hübscher als sich selbst. Das lag nicht unbedingt an ihrem äußeren Erscheinungsbild, sondern vielmehr an ihrer Ausstrahlung. Sie war einfach ein lebensfroher Mensch, der immer lächelte und durch Betreten eines Raumes alles darin mit ihrer Präsenz überstrahlte.
Doch warum war sie hier?
>> Geh nicht.<<
Sie sprach zu ihr. Es war leise, aber verständlich. Doch wohin sollte sie nicht gehen?
>> Bitte bleib.<<
Trotz der ungewohnten Umgebung, hätte sie nicht gewusst, wo sie überhaupt hätte hingehen sollen. Plötzlich versteinerte sich die Miene ihrer Schwester und kaum merklich begann sie sich wieder zu entfernen. Am liebsten hätte sie etwas gesagt, wie Warte oder Wo bin ich hier, doch sie brachte kein Wort hervor.
In gleichem Maße die Dunkelheit ihre Schwester verschluckte, so wurden die dumpfen Stimmen wieder lauter. Ihr wurde erst jetzt klar, dass sie die letzten Minuten - oder waren es Stunden? - verstummt waren.
Obgleich es ihr immer noch nicht gelingen wollte, sie zu verstehen, so schienen sie doch aufgeregter als noch kurz zuvor. Klangen sie wütend? Ängstlich? Ohne den Inhalt zu verstehen, war es ihr nicht möglich das auszumachen.
Während sie sich auf die Stimmen konzentrierte, merkte sie kaum, dass sich ihre Umgebung erneut änderte. Stück für Stück wurde die Dunkelheit durch die verschiedensten Farben ersetzt. Erst konnte sie es nicht erkennen, doch dann dämmerte es ihr. Es waren Pflanzen. Blumen. Ihre Blumen. Sie erkannte ihre Rosen, ihre Orchideen, ihre Narzissen, alle Pflanzen aus ihrem Laden befanden sich hier. Und doch war es nicht ihr Laden, in dem sie sich befand. Sie stand in keinem Gebäude. Sie war draußen. In der Natur. Ihre Umgebung glich einem natürlich angelegten Hain, dessen einzige Inkonstanz darin bestand, dass alle diese Pflanzen scheinbar im gleichen Biotop wuchsen.
In der Mitte des Hains befand sich ein steinerner Torbogen, dessen Verzierung durch die intensive Efeubewachsung nicht mehr recht zu erkennen war. Dieser Ort gefiel ihr. Er war besser als die undurchdringliche Dunkelheit mit den dumpfen Stimmen. Sie wünschte, ihre Schwester wäre hier. Manche Menschen mögen daran glauben, dass Zwillinge über ihre enge soziale Bindung hinaus noch eine geistige telepathische Verbindung aufbauen könnten. An sowas hatte sie jedoch noch nie geglaubt. Wenn sie wissen wollte, was ihre Schwester gerade dachte, hatte sie sie einfach gefragt.
Plötzlich bemerkte sie, dass es ihr hier in der neuen Umgebung auch möglich war sich zu bewegen. Denn während sie den Blick über die Pflanzen streichen ließ, drehte sie sich ganz langsam auf der Stelle. Sie musste lächeln, als sie das bemerkte. Scheinbar brauchte es nicht mal ihren Laden für ihre seltsame Art der Trance.
Schritt für Schritt trat sie näher an den Torbogen heran. Als sie durch den Torbogen blickte, sah sie auf der anderen Seite einen noch viel schöneren Anblick. Der Hain schien nicht weiter zu gehen. Vielmehr verbreiterte sich der Wald zu einer weiten Ebene mit Blumen in allen Farben, die man sich nur vorstellen konnte. Ohne nachzudenken, wollte sie durch den Torbogen treten.
>>Nein, tu das nicht<<
Wie aus dem nichts erschien ihre Schwester hinter ihr. Sie sah besorgt aus. Tränen rannen ihr die Wangen hinab, obwohl sie nicht aussah, als würde sie tatsächlich weinen.
>>Bleib hier<<
Sie verstand einfach nicht. Wenn sie auch durch den Torbogen sehen könnte, dann würde sie wissen, wie schön es auf der anderen Seite war. Doch es war ihr immer noch nicht möglich zu sprechen. Sie versuchte auf ihre Schwester zu zu gehen. Und in dem Moment drückte die Dunkelheit erneut von außen gegen den Hain. Die Farben der Hyazinthen schienen im selben Grad zu verblassen, wie die dumpfen Stimmen an Lautstärke zu nahmen. Sie klangen immer noch aufgeregt.
Doch diesmal konnte sie einen Satz verstehen.
>>Haben wir sie?<<
Sie verstand nicht. Wen sollte wer haben? Die Dunkelheit wurde wieder zur Enge. Der einzige Ausweg schien der Torbogen zur Ebene zu sein. Sie lächelte, während sie Schritt für Schritt auf ihn zu ging.
>>Du darfst nicht gehen!<<
Sie wäre fast zusammen gezuckt, beim Schrei ihrer Schwester. Doch es brach weiter die Dunkelheit über ihr zusammen, die nicht einmal durch das Strahlen ihrer Schwester durchbrochen werden konnte. Sie hatten den Torbogen fast erreicht. Kurz bevor sie hindurch trat, hörte sie die Stimme erneut.
>>Haben wir sie?!<< Sie klang beinahe verzweifelt.
Das letzte, was sie vernahm, als sie durch den Torbogen trat und die wunderschöne Landschaft mit all den Blumen, von denen sie viele noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, in sich aufnahm und vollkommenes Glück empfand, war die andere dumpfe Stimme.
Und jetzt verstand sie auch diese Stimme.
>> Nein. Wir haben sie verloren. <<
Ohne sich zu fragen, was damit gemeint war, fasste sie nur noch einen Gedanken:
Jetzt strahle ich so wie du, Schwester. Endlich.
Der junge Chirurg zog sich Kittel und Handschuhe aus, während er den Blick nicht von der jungen Frau abwenden konnte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Sie sah aus, als würde sie lediglich träumen und jeden Moment wieder aufwachen.
>> Wir haben sie verloren. << wiederholte sein Chef, der ihn von der anderen Seite der jungen Frau mitleidig ansah.
>> Ihre Verletzungen waren einfach zu groß. Es ist nicht Ihre Schuld. <<
Der junge Chirurg nickte bedächtig. Er konnte es trotzdem nicht fassen. Die junge Frau war auf dem Weg zur Arbeit von einem LKW von der Autobahn gedrängt worden und mit inneren Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Zunächst sah es gut aus, und er hätte sein letztes Hemd darauf verwettet, dass die junge Frau noch an diesem Abend in ihrem Krankenbett wieder erwacht wäre.
Doch dann ging alles ganz schnell. Weder er, noch sein Chef vermochten die plötzlichen Blutungen zu stillen. Die Frau wurde reanimationspflichtig und es sah kurz so aus, als ob sie auch das überstehen mochte. Aber so sollte es nicht sein.
>> Wenn Sie wollen, werde ich ihre Angehörige unterrichten << bot sein Chef ihm an.
>> Nein. Das mache ich selbst << Er fühlte sich irgendwie dafür verantwortlich und wollte der Angehörigen gerne selbst die Situation erklären. War er es ihr schuldig? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Doch er wusste, dass er das jetzt tun musste. Wie er es verstanden hatte, war bisher nur die Schwester der Verstorbenen eingetroffen.
Als er sie sah, erschrak er merklich. Es war, als stünde seine eigene Patientin, die er vor wenigen Minuten verloren hatte, plötzlich hier strahlend schön wieder vor ihm.
Sie musste seinen Blick bemerkt haben.
>> Ich bin ihre Zwillingsschwester. << entgegnete sie ihm unsicher, da sie sein Erscheinen noch nicht ganz in den Kontext einer guten oder schlechten Nachricht bringen konnte.
Während er ihr die Situation erklärte, brach sie in Tränen aus. Er hielt inne, doch sie bat ihn sogleich fortzufahren. Er schilderte ihr den Unfallhergang, den Verlauf der Operation und die abschließende Komplikation. Irgendwann versuchte die Schwester der jungen Frau sich wieder zu fassen.
>> Wissen Sie, ich habe in Gedanken nach ihr gerufen. Ich habe ihr gesagt, sie solle nicht gehen. Sie sollte bei mir bleiben.<<
Der junge Chirurg nickte. Trotz der Tränen, rang ihr der Gedanke an ihre Zwillingsschwester ein Lächeln ab.
>> Sie hatte nie an diese geistigen Verbindungen geglaubt.<< Durch ihren Tränenschleier sah sie ihm nun das erste Mal richtig in die Augen. Ihre Augen waren grün.
>> Hat sie es gemerkt? Wie es passiert ist? Hat sie... hat sie dabei geträumt? <<
Er spürte wie es ihm die Kehle zuschnürte. Und er konnte nur eine Antwort auf diese Frage geben, so sehr ihn auch eine gegenteilige Antwort trösten würde. Und nicht nur ihn.
>> Nein. Sie hat sicher nichts von alldem mitbekommen. <<