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Das Ende der Straße
Liebe ist, daß Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.
- Franz Kafka
„Ich möchte mich auf eine Wiese legen, mitten in der Nacht, mitten im Nirgendwo. Keine Häuser, keine Menschen, einfach nur ich und die Wiese“, sagte Anna. „Ich will, dass das Gras mir in den Nacken piekt und meine Jeans grün wird. Dann blicke ich nach oben und sehe die Sterne. So richtig intensiv, weißt du, so wie es nur in der Natur möglich ist; und wenn ich ihn kommen sehe, dann schließe ich die Augen, warte einfach. Das Gras riecht nach Sommer und die Brise streichelt mir über die Wange. Ich verschränke die Arme hinter dem Kopf und lausche den Grillen. Ich liebe ihr Zirpen. Wenn ich das Zirpen höre, dann habe ich nie das Gefühl, allein zu sein. Und du bist auch da. Ich höre deinen Atem, rieche dein billiges Aftershave. Ich sage zwar immer, ich hasse es, aber eigentlich mag ich es, denn es erinnert mich an dich, sagt mir, dass du bei mir bist. Und dann warten wir, wir und die Grillen. Ja, das würde ich wollen.“
Es war Sommer, der heißeste seit Jahren, so ein Sommer, in dem alles flimmerte und verschwommen war, die Menschen, die Häuser, die Autos. Doch oben, auf dem Dach eines Berliner Wohnblocks, wo eine Brise die Hitze erträglich machte und der warme Asphalt der Straßen weit entfernt war, gab es kein Flirren der Luft. Hier gab es nur sie und ihn. Hier war alles real.
„Das hört sich sehr schön an“, sagte Nick und lächelte. Anna liebte es, wenn er lächelte. Dann glaubte sie, all seine Gefühle erkennen zu können. Seine Liebe zu ihr und seine Unsicherheiten. „Wenn ich an das Feuer denke und an die Hitze, da hab ich Angst. Aber die Wiese und die Grillen … denke ich daran, dann fürchte ich mich nicht vor dem Meteoriten“, sagte Anna.
Nick nahm ihre Hand. Sie fühlte seine schwielige Handfläche – Klempnerhände nannte er sie - und erinnerte sich daran, wie Anna ihn zum ersten Mal gesehen hatte, damals, als sie in ihre erste Wohnung gezogen war.
Anna hatte die Wohnung betreten und alles hatte so neu gerochen, aufregend, nach Zukunft. Sie hatte sich auf den Laminatboden gelegt und an die weiße Zimmerdecke gestarrt. Anna hatte zuvor beim Klempner angerufen, weil der Wasserhahn in der Küche tropfte. Sie würden jemanden vorbeischicken, hieß es. Dann war Anna aufgestanden, hatte ihre Musik angemacht und war durch den Raum getanzt. Sie hatte sich zu Taylor Swift im Kreis gedreht und gedankenverloren aus dem Fenster geblickt, als sie Beethoven gehört hatte. Es war ihre erste Wohnung, ihr eigenes Reich, doch die Freude wurde unterbrochen von den Bildern in ihrem Kopf. Bilder aus der Vergangenheit, von dem Unfall ihrer Mutter und den Trümmern. Sie hatte ihren Laptop eingeschaltet, nur um auf andere Gedanken zukommen, und dann hatte sie die Meldungen gelesen, von Feuer und dem Tod aus dem All. Dann war Nick gekommen. Als es geklingelt hatte, öffnete Anna ihm die Tür. Nick war der erste Mensch gewesen, den sie nach der Meldung vom Meteoriten gesehen hatte. Und er war geblieben, als er gesehen hatte, dass sie weinte.
„Wir sollten nach Frankreich fahren“, sagte Nick. „Der Meteorit wird östlich von Bordeaux einschlagen, sagen die Wissenschaftler. Wir fahren runter, zu den Weinbergen und den Wiesen; und dann legen wir uns ins Gras. So einfach ist das. Ich weiß nicht, ob es wehtun wird, aber wir werden uns nicht mit Verbrennungen rumquälen und nicht im Staub ums Überleben kämpfen müssen.“
Anna senkte den Blick, schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass ich nicht mitkommen könnte.“
Sie sahen sich schweigend an. Seine stahlblauen Augen hatten etwas Beruhigendes. Sie waren wie tiefe Brunnen, die beängstigend wirken konnten, aber wenn man erstmal hinabstieg, die anfängliche Zurückhaltung überwand, dann fand man auf dem Grund Geborgenheit. Und diese Augen hatten Annas Mutter gesehen, die Schläuche, das Beatmungsgerät. „Wenn das Ende kommt, werde ich bei meiner Mutter am Krankenbett sein“, sagte Anna.
„Ich weiß.“ Er küsste sie. Ganz sanft, wie er es immer tat, so als wäre sie etwas Zerbrechliches. Sie wusste, er verstand sie, würde ihren Wunsch respektieren. Sie spürte, wie seine Bartstoppeln über ihre Haut kitzelten und sie roch sein billiges Aftershave. Anna musste kichern, noch während ihre Lippen sich berührten.
Es fiel Nick schwer, Schlaf zu finden. In der Stille seiner Wohnung, wenn Anna nicht bei ihm war, starrte er auf die Digitalanzeige seines Weckers, auf das Blinken der Doppelpunkte zwischen Stunden und Minuten. Er lag allein da und streckte sich. Wenn Anna nackt auf seinem Bett lag und ihre Haut im Licht glänzte, ihre blonden Haare auf dem Kopfkissen ausgebreitet und ihre rehbraunen Augen auf seine gerichtet waren, da hatte sie gesagt, das Rascheln der Bettdecke erinnere sie an das Meer, an Urlaub und Freiheit, doch in Nick weckte es Erinnerungen. Erinnerungen an den Geruch von altem Holz und Staub; und an die Zeit, als Nick im Wohnzimmer seines Elternhauses mit den Dinos gespielt hatte und ins Schlafzimmer blicken konnte.
Seine Mutter hatte auf die Uhrzeiger im Schlafzimmer gestarrt und vor sich hin geflüstert. Nick hatte mit ihr spielen wollen, mit ihr und dem T-Rex und den Velociraptoren. Doch sie saß nur auf dem Bett und sagte, sie würde später mit ihm spielen. Die Schatten im Zimmer wurden länger und das Sonnenlicht verließ das Wohnzimmer. Aber Nick ging nicht schlafen, wollte bei seiner Mutter sein. Als Scheinwerferlicht durch das Fenster fiel und das Ersterben eines Motors in der Einfahrt zu hören war, dann hatte Nick gewusst, dass seine Mutter bald weinen würde. Er erinnerte sich noch gut daran, an den Geruch von Bourbon, den Nick damals nicht hatte zuordnen können, und an die rauchige Stimme seines Vaters. Er hatte Nick die immer gleiche Frage gestellt, warum er noch wach sei. Er sei ein verzogenes Gör, er gehöre bestraft, hatte sein Vater gesagt. Nick hatte das traurige Gesicht seiner Mutter gesehen und dann die Schwärze der Abstellkammer, in die sein Vater ihn gesperrt hatte.
Nick erinnerte sich an die langen Stunden, die er in der Abstellkammer verbracht hatte, während seine Mutter weinte und sein Vater brüllte. Dann hatte er auf den Spalt unter der Tür geblickt, der einzigen Lichtquelle im Raum, die morgens grell wurde, Nick blendete. Er hatte die Tränen auf seinen Wangen gespürt; und wenn das Licht hell genug gewesen war, konnte er die Zinnsoldaten seines Großvaters erkennen, die auf einem Regal standen. Er hatte in ihre ausdruckslosen Gesichter gesehen und ihre Konturen mit seinen Fingern nachgezeichnet. Er hatte jede Wölbung und Vertiefung gefühlt, und sich gewünscht, sie wären echt und könnten für seine Mutter da sein.
Wenn er nicht schlafen konnte, ging Nick spazieren. Er atmete die frische Nachtluft, beobachtete die Schatten der Bäume und Häuser und das Wasser der Spree. Die Sterne und die Lichter der Stadt spiegelten sich auf der Oberfläche. Nick setzte sich auf eine Bank am Ufer und ließ seinen Blick über den Nachthimmel schweifen, über den Mond und die unzähligen Sonnen zwischen hier und der Unendlichkeit. Er fragte sich, ob man ihn sehen konnte, irgendwo zwischen den Sternen. Eine kleine Bewegung - wenige Millimeter pro Tag -, die den Meteoriten ankündigte. Nur ein schwaches Licht, mit dem bloßen Auge kaum erkennbar. Vielleicht könnte Nick Anna überzeugen, mit nach Frankreich zu kommen, aber Anna würde ihre Mutter nie zurücklassen. In das Krankenhaus zu Anna und ihrer Mutter wollte er nicht gehen, nicht jetzt und nicht, wenn es soweit war. Er wollte nicht in das ausdruckslose Gesicht der Komapatientin sehen, nicht das Rascheln der Bettdecke hören und nicht den Geruch des Krankenhauses wahrnehmen, der ihn an Alkohol erinnerte. Aber er wollte nicht brennen, wollte nicht, dass Anna brannte. Der Aufprall würde Wärmestrahlung über Europa jagen. Die Kleidung würde Feuer fangen, die Haut würde Blasen werfen und zischen wie Fleisch in einer Bratpfanne. Gebäude würden über ihren Köpfen zusammenstürzen. Das könnte er nicht ertragen, das Leid und den Schmerz auf Annas Gesicht. Er wusste, er würde alleine sterben. In seiner Wohnung oder hier am Ufer der Spree oder in irgendeiner Seitengasse. Und wenn er nicht stürbe und am gesamten Körper Verbrennungen hätte, dann würde er nachhelfen, sich von einem Gebäude stürzen. Vielleicht von dem Dach, auf dem Anna und er so viele gemeinsame Stunden verbracht hatten. Er könnte über die Stadt blicken, die fensterlosen Häuser sehen, den eingestürzten Fernsehturm und die Rauchschwaden, die über der Stadt hingen. Aber er würde nicht wissen, ob Anna lebte oder wie es ihr ging. Er könnte sie nicht vor Schaden bewahren. Er hatte wieder die Tür vor Augen, die Tür und die Dunkelheit der Abstellkammer. Die Zinnsoldaten grinsten und zielten mit ihren Gewehren auf seine Brust.
Anna saß in ihrer Wohnung, hockte im Halbdunkel und wusste nicht, was sie tun könne, wohin sie hätte gehen sollen, um zu vergessen und den Kopf freizukriegen, als ihr Handy klingelte. Mit leiser Stimme, kaum lauter als ein Flüstern, hauchte Anna ein Hallo in den Hörer.
Eine fremde Stimme antwortete. Sie redete über ihre Mutter und über ihren Zustand, den Rest der Worte vernahm Anna nur undeutlich. Sie sprang auf, rannte aus ihrer Wohnung, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr Richtung Krankenhaus. Jenes sterile Gebäude, das vor zwei Jahren ihr zweites Zuhause geworden war.
Das maschinelle Piepen war fort, zusammen mit dem Zischen des Beatmungsgeräts und der Farbe im Gesicht ihrer Mutter. Sie lag einfach da, eigentlich wie immer, und doch wusste Anna, dass sie tot war.
„Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen.“ Die Stimme des Arztes klang gelangweilt, als solle Anna froh sein, dass das Leiden ihrer Mutter endlich vorbei sei, sie den Meteoriten nicht erleben müsse. Anna schenkte ihm keine Beachtung, starrte auf die weiße Bettdecke, die sich nie mehr heben würde. Sie hörte Schritte hinter sich - der Arzt verließ den Raum -, doch Anna blieb reglos stehen, den Blick weiter auf die Brust ihrer Mutter geheftet. Sie wollte nicht erneut in ihr Gesicht sehen, jenes Gesicht, das einst so lebensfroh gewesen war. Sie hatte Angst, nur diese kalte Fratze zu sehen, wenn sie ihre Augen schloss und an ihre Mutter dachte; und nicht das lebendige und lächelnde Gesicht aus besseren Tagen. Tagen vor der Sommernacht, vor dem Regen und vor dem Unfall und den Trümmern. Doch die Stimme ihrer Mutter war lange fort. Die Erinnerungen an ihren Klang waren bereits verblasst.
„Ich liebe dich. Es tut mir leid.“ Anna berührte die Bettdecke, fühlte den dürren Oberschenkel darunter und dann verließ sie den Raum. Ohne sich umzudrehen, ohne in das Gesicht ihrer Mutter zu blicken.
Sie setzte sich wieder auf ihr Fahrrad und radelte durch die Stadt. Ziellos, gedankenlos, sie wollte nur die Brise spüren und den warmen Asphalt riechen. Die Straßen waren leer, keine Menschen, keine Autos, kein Leben. Sie war allein in einer Großstadt, die noch vor wenigen Monaten pulsiert hatte, lebendig war, voller Bewegung. Und dann verschwammen die Konturen der Häuser und Straßen. Alles wurde grau und undeutlich und Anna spürte Tränen auf ihren Wangen, hörte sich schluchzen. Vor einem Kiosk hielt sie an.
Die Fenster waren eingeschlagen und das, was einst voller Ordnung und Struktur die Regale gefüllt hatte, lag nun verstreut auf dem Boden. Alte Zeitschriften, Süßigkeiten, Zigarettenschachteln. Anna atmete durch. Sie wusste nicht, wie weit sie gefahren war. Sie wollte nur weg vom Krankenhaus, weg von der fröhlichen Vergangenheit, hinein in die Stille. Hier draußen hörte sie nichts. Kein Hupen, kein Rattern von Zügen, keine Stimmen. Sie war allein. Sie war so allein, wie ihre Mutter in ihren letzten Momenten gewesen war. Damals im Auto und heute.
„Reiß dich zusammen“, sagte sie zu sich. Aber die Tränen versiegten nicht, auch dann nicht, als sie ihr Handy nahm und Nicks Nummer wählte. Ein Piepen, noch eins, dann hörte sie seine Stimme, tief und beruhigend.
„Hey Schatz, was ist denn los?“
„Wir tun es. Wir fahren.“
Nick schwieg eine Weile, sie hörte nur das weiße Rauschen der Verbindung. „Okay“, sagte er.
„Warum gehst du nicht an dein Telefon?“, fragte Nick. Er musste brüllen, um gehört zu werden. Die Musik im Club war laut, laut und pulsierend. Scheinwerfer warfen bunte Lichter über die Menschenmenge, fingen sie in einem Netz aus Musik, Tanz, Alkohol und dem Vergessen. Die Luft vibrierte von der Bewegung, dem Schweiß, dem Lachen von Mädchen und dem Geruch der Menschenmenge. Sie sprangen, rissen die Arme nach oben, tobten wie ein Meer inmitten eines Sturms. Hier gab es keine Leere, keinen Meteoriten, nur das Hier und Jetzt und den nächsten Beat.
„Hab's weggeschmissen“, sagte Sven. Nick und Sven waren Kollegen gewesen, vor dem Meteoriten und der Erkenntnis, dass niemand mehr Klempner bräuchte.
„Warum?“
„Es ist das letzte Wochenende. Dienstag ist es soweit!“, rief Sven und riss seinen Arm in die Luft, ein Shotglas in der Hand. Die Umstehenden jubelten, prosteten ihm zu. Nick roch Schweiß, die Hitze und den Alkohol. „Wat willste denn?“, fragte Sven. Seine schulterlangen Haare klebten in seinem verschwitzten Gesicht.
„Ich brauche dein Auto.“
„Wat?“
„Dein Auto.“
„Das hab ich schon verstanden, aber warum?“
„Ich will wegfahren.“
„No shit, Sherlock! Wohin?“
„Frankreich.“
Sven sah ihn an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte. „Weißte warum wir hier feiern?“ Er streckte den Zeigefinger in die Luft und kreiste damit. „Wir feiern, damit wir nicht an den Scheiß denken müssen, Mann. Und dann kommst du und erinnerst mich daran. Keeper, Whiskey! Zwei Gläser!“
Der Keeper nickte, Nick hob die Hand. „Für mich nicht.“
„Komm, mach dich locker. Warum willste denn da runter fahren? Da ist's bald vorbei. Ich meine, so richtig, für immer. Du bist doch ein gut aussehender Typ, warum bleibste nich hier? Trinkst und vögelst, bis dir das Dach auf den Kopf fällt?“
Nick ließ den Blick über die Menge schweifen, sah hübsche Frauen, leicht bekleidet. Eine Brünette tanzte direkt vor seiner Nase. Sie hatte die Augen geschlossen, fühlte den Rhythmus und lies die Hüften kreisen. Sie trug ein weißes Tanktop, vom Schweiß durchnässt. Er konnte ihre Brustwarzen sehen. Dunkle Kreise unter weißem Stoff. Etwas Animalisches regte sich in ihm, es kribbelte in seinem Schritt bei der Vorstellung, sich in die Menge zu stürzen, sich treiben zu lassen, diese Unbekannte zu küssen, zu berühren. Sie öffnete die Augen, sah ihn, kam näher. „Hey, Süßer.“ Sie streichelte seine Schulter, lächelte unsicher. Er blickte ihr in die Augen. Sie waren giftgrün. „Bock zu ficken bis die Erde brennt?“, fragte sie.
Nick konnte Svens Lachen hören und ihr Lächeln sehen. Ein Mädchen-von-nebenan-Lächeln. „Nein, aber danke für das Angebot.“
„Schade. Aber vielleicht überlegst du es dir noch anders?“
„Vielleicht.“
Als sie ging, streifte sie mit den Fingerspitzen seinen Oberschenkel. Sie schlenderte zurück zur Tanzfläche, begann wieder zu tanzen und das Leben zu spüren, das noch in ihr steckte. Es spielte Stadtaffe von Peter Fox. Affen feiern auch, wenn sie traurig sind.
„Gott, wie kannst du da nein sagen?“, fragte Sven.
Rehbraune Augen, blonde Haare. „Ist doch egal. Also, was ist mit deinem Auto?“
„Warum meins? Klau dir doch eins!“
Nick starrte ihn an.
„Oh, Mister Gesetze-gelten-selbst-wenn-die-Welt-untergeht. Schön, hier isser.“ Sven warf den Schlüssel auf die Theke. „Brauch ich eh nicht mehr.“
Nick nahm den Schlüssel und klopfte Sven auf die Schulter. „Danke, wirklich.“
„Trinkste wenigstens was mit mir?“, fragte Sven.
„Nein, ich trinke nicht, weißt du doch.“
„Warum nicht? Ideale? Scheiß doch drauf! Meine Ex war Vegetarierin, bis zu der Nachricht. Dann hat sie Fleisch gefressen wie nix Gutes, war ihr voll egal. Komisch, diese Ideale.“
Altes Holz, Dunkelheit, Zinnsoldaten. „Das ist nicht der Grund.“
„Whatever. Schon komisch, was der Meteorit alles verändert hat. Kannst dich noch an die Nachricht erinnern?“
„Sicher.“
„Tod aus dem Kuiper-Gürtel haben sie es genannt. Als ob das ne Sau interessiert. Ich will gar nicht wissen, wie groß das Ding ist oder ob der Feuerball einen Durchmesser von vierhundert Kilometern hat. Ich meine, wenn dir jemand ne Knarre an den Schädel hält, fragst du dich ja auch nicht, wie das Teil funktioniert. Du hast einfach Schiss und weißt, dass irgendein Mist passieren wird.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Theke.
„Hast du was genommen?“, fragte Nick.
„Sicher, ist ja nicht so, als ob das noch irgendwen interessiert, die Bullen nich und meiner Gesundheit erst recht nich. Is doch alles egal. Ob ich mir das H drücke oder Pillen einwerfe, es is so oder so bald vorbei. Es ist wie die Regierung gesagte hatte, kurz bevor man nichts mehr von ihr hörte. Keine Panik, keine Hektik, wir überstehen das. Nun, letzteres war ne Lüge, klar, aber keine Panik, da bin ich dabei. Ich meine, was bringt es denn, nach Afrika oder Asien zu flüchten? Die Leute da, die leben wie die Legehennen, seitdem immer mehr Flüchtlinge eintreffen. Ich sage dir, wenn erstmal der Staub kommt, dann gibt's da nur Mord und Totschlag, das is sicher. So wie es hier war, bevor die Leute gechekt haben, dass das sinnlos ist und abgehauen sind.“
Sie schwiegen eine Weile, lauschten der Musik und der Menge. „Mach‘s gut. Pass auf dich auf, hörst du?“, sagte Nick schließlich.
Sie nickten sich zu und Nick ging. Vorbei an halbnackten Frauen, vorbei an apathischen und fröhlichen Gesichter und vorbei an der Möglichkeit, die Zeit zu vergessen.
„War ein schönes Leben!“, rief Sven und hob das Whiskeyglas in die Höhe, das ihm der Barkeeper gebracht hatte.
Anna spürte die glatte Oberfläche der Scheibe und die sanfte Vibration des Autos. Es war später Nachmittag, sie musste eingeschlafen sein.
„Na, endlich wach?“ Nick saß am Steuer und lächelte. „Wir haben Deutschland verlassen. Willkommen in Belgien.“
Trauer erfasste Anna, tief in ihrem Innern. Sie hatten Deutschland verlassen. Für immer. Ihre Heimat lag hinter ihr. Berlin mit seinen Bewohnern und ihrer Wohnung und die Lausitz, in der sie aufgewachsen war. Morgen wäre es soweit, das Ende des Sommers. Anna wollte weinen, aber sie konnte nicht. Sie lehnte sich wieder mit der Stirn an das Fenster, sah Wiesen und Wälder, Teiche und kleine Bauernhöfe. Und die Leitplanke. Sie zog sich durch ihr Blickfeld wie ein graues Band. „Können wir über Land fahren?“, fragte sie.
Sie spürte Nicks Blick auf ihrem Hinterkopf. „Es ist die Leitplanke, nicht wahr? Sie erinnert dich an den Unfall.“
Es war ein schwüler Abend gewesen, an dem man das aufziehende Sommergewitter förmlich hatte riechen können. Die bunten Windräder, die ihre Mutter in die Blumentöpfe gesteckt hatte, drehten langsam ihre Kreise. Spatzen saßen auf den Gartenmöbeln, zwitscherten und zuckten mit den Köpfen. Die Gänseblümchen hatten den Rasen in einen Teppich aus weiß und grün verwandelt. Anna hatte auf einer Decke gelegen und in den Himmel gestarrt. Wolken waren vorbeigezogen, wurden zahlreicher und grauer. Anna war aufgestanden und hatte sich wieder angezogen. Das Bräunen hatte sich nicht gelohnt, keine Ablenkung gebracht. In der Küche hatte sie das Telefon genommen und ihre Mutter auf der Arbeit angerufen.
„Ja?“
„Mama?“
„Anna, was ist denn?“
„Heiko hat mit mir Schluss gemacht.“ Die Gedanken daran taten weh.
„Was? Warum denn?“
„Er hat eine andere.“
„Oh Schatz, das tut mir leid.“
„Könntest du heute früher Feierabend machen? Ich brauch wen zum Reden, bitte. Mir geht's echt beschissen.“
Eine Weile herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Wir haben hier echt noch zu tun, haben einen Auftrag reinbekommen“, sagte Annas Mutter schließlich.
„Bitte, Mama.“
„Okay, der Chef hat noch was bei mir gut, da kann ich sicher mal zwei Stunden früher gehen.“
„Danke, ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch, bis gleich.“
Anna hatte aufgelegt und in den Garten geblickt. Der Himmel war dunkelgrau geworden, fast schwarz. Und als sie den Fernseher anmachte, hatte es angefangen zu regnen. Schwere Tropfen prallten auf die Fenster und die Windräder im Garten drehten sich so schnell, dass sie fast abhoben. Es saßen keine Spatzen mehr im Garten, die Gänseblümchen waren nicht mehr schön und Annas Leben hatte sich verändert.
„Möchtest du was essen?“, fragte Nick.
„Nein.“ Belgien zog vorbei. Die Sonne ging unter. Sie waren auf einer Landstraße. Anna konnte kleine Dörfer sehen, weit entfernt. Sie wirkten wie Ansammlungen von Puppenhäusern, zerbrechlich und unwichtig. „Was ist aus deinen Eltern geworden?“, fragte Anna. „Ich meine, du weißt von meiner Mutter, aber du hast mir nie erzählt, was mit deinen Eltern ist.“
Nick blickte auf die Straße. „Sie sind beide tot“, sagte er leise.
„Wie sind sie gestorben?“
Nick schenkte Anna einen flüchtigen Blick. „Mein Vater hat gerne Bourbon getrunken, weißt du. Eines Tages war es zu viel für ihn.“
„Und was war mit deiner Mutter?“
„Ich war noch klein, ich weiß es nicht genau. Sie ist vom Balkon gestürzt. Starb im Krankenhaus. Ich kann mich noch an die Gerüche erinnern und an ihr Gesicht. Es war ganz blau und angeschwollen.“
Sie fuhren von einem Dorf ins nächste, sahen keine Menschenseele, keine Fahrzeuge. Es gab nur sie, Getreideäcker und die Straße. Anna klappte die Sonnenblende herunter und blickte in den Spiegel. Sie sah müde aus, abgekämpft, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. In der rechten Ecke des Spiegels hing ein Bild. „Wer ist das?“, fragte sie.
„Emily, Svens Ex.“
„Sie ist hübsch.“
„Ich frage mich, warum er noch ein Bild von ihr hat.“
„Vielleicht liebt er sie noch.“
Nick zuckte mit den Schultern. „Möglich.“
„Warum haben sie sich getrennt?“
„Nun, genau weiß ich es nicht, aber Menschen verändern sich, wenn sie wissen, dass sie bald sterben werden.“
„Oder das Wissen bringt nur etwas zum Vorschein, was schon lange da ist.“
Nick blickte weiter auf die Straße und antwortete nicht.
Es war Nacht und sie hielten an. Sie waren schon in Frankreich, nur noch wenige Stunden trennten sie von ihrem Ziel. Aber Anna wollte die letzte Nacht nicht im Auto verbringen, mit nichts außer dem Lichtkegel der Scheinwerfer vor Augen. Sie hatte Nick gefragt, ob er anhalten könne, ob er mit ihr die Nacht verbringen wolle, nur sie und er unter dem Sternenhimmel. Er hatte zugesagt.
Sie lagen im Wald, über ihnen Baumkronen und die Sterne zwischen den Blättern. Anna legte den Kopf auf Nicks Brust, spürte wie sein Körper sich bei jeden Atemzug hob und senkte. Sie blickte in den Nachthimmel, sah das Meer aus leuchtenden Punkten und fragte sich, welcher der Meteorit wäre. Vielleicht der blinkende, vielleicht der rötliche, vielleicht keiner. Im Endeffekt änderte es nichts. Sie lag mitten im Wald und könnte nichts dagegen tun, so wie sie nichts gegen den Unfall ihrer Mutter hätte tun können oder gegen ihren Tod. Sie blickte in die Unendlichkeit des Universums und fragte sich, warum das Schicksal so spielte wie es spielte. „Was meinst du, gibt es da oben jemanden?“, fragte sie.
„Meinst du sowas wie Gott oder Aliens?“
„Kann doch sein, dass da mehr ist.“
„Mehr als was?“
„Mehr als Zeit und Schicksal und Vergänglichkeit.“
„Vielleicht, vielleicht nicht. Wir werden es nie erfahren, fürchte ich.“
„Weißt du, manchmal denke ich nach, vor allem seit dem Unfall. Ich sehe häufig nach oben und denke, es gibt so vieles, das wir nicht begreifen können.“
„Was denn zum Beispiel?“
„Das Schicksal. Glaubst du an Seelenwanderung?“
„Sowas wie Wiedergeburt? Dass meine Seele nie stirbt und ich als ein anderes Lebewesen weiterlebe?“
„Genau. Was wäre, wenn es irgendwo da draußen Leben gibt und unsere Seele zu den Sternen wandert, nicht nur auf der Erde verweilt? Und es gibt die perfekte Anzahl an Seelen im Universum, keine zu viel, keine zu wenig. Was wäre, wenn das Schicksal nur ein natürlicher Mechanismus ist, der das Gleichgewicht der Seelen im Universum bewahrt? Vielleicht müssen wir ja sterben, damit irgendwo da draußen etwas Neues entstehen kann … Ich finde, das ist ein tröstlicher Gedanke.“
Sie schwiegen eine Weile.
„Ich bin nur ein Klempner, was weiß ich schon von Seelen und Schicksal und den Sternen“, sagte Nick. „Wer kann sowas wissen? Alles, was ich weiß, ist, dass diese Nacht uns gehört. Morgen werden wir uns auf eine Wiese legen, nur wir zwei, und auf ihn warten. Ich liebe dich, weißt du das?“
Anna hörte seinen Herzschlag, roch sein Aftershave und lächelte. „Ich dich auch.“
Sie küssten sich und Anna streichelte über seinen Bauch. Der Wind raschelte in den Bäumen, der Ruf einer Eule hallte durch den Wald und Grillen zirpten ihr Lied. Als Anna Nicks Atem in ihrem Nacken und seine Hände auf ihren Brüsten spürte, war das Schicksal unwichtig und es zählte nur der Moment.
Die Tür der Abstellkammer war aufgegangen und das helle Licht des Tages hatte Nick geblendet. „Hast du Hunger?“, hatte seine Mutter mit sanfter Stimme gefragt.
Nick hatte schnell geblinzelt und versucht, seine Augen an das Licht zu gewöhnen. „Nein.“
„Hast du wieder Pipi gemacht?“
„Ja.“
Er hatte die Hand seiner Mutter auf seinem Kopf gespürt. „Nicht schlimm, Schatz. Komm, wir gehen in dein Zimmer und ziehen dir was Frisches an. Und dann spiel ich mit dir und den Dinos, okay?“
„Okay.“
Der Brontosaurus hatte auf dem Kopf eines T-Rex herumgekaut, als seine Mutter Nick Cornflakes brachte. „Hier, versuch ein bisschen was zu essen.“
Er hatte den Löffel genommen und gelbe Inseln in einem weißen See gesehen. Er stockte. „Mami, warum gibt es keine Dinos mehr?“
„Das weiß man nicht genau, aber es sehr wahrscheinlich, dass ein Meteorit sie tot gemacht hat.“
„Was ist ein Meteorit?“
„Das ist ein riesiger Stein, der vom Himmel fällt.“
„Und warum ausgerechnet auf die Dinos?“
„Das weiß ich nicht.“ Sie hatte gelächelt, gelächelt wie ein gefallener Engel, voller Trauer und dem Wunsch nach besseren Zeiten. „Aber sie sind nicht wirklich weg, oder?“, hatte sie gesagt. „Du hast deine Spielsachen, die dir sagen, wie sie ausgesehen haben. Es gibt Filme und Bücher und Knochen unter der Erde. Ich glaube, etwas verschwindet nie vollständig. Etwas bleibt immer zurück. Man muss es nur finden, irgendwo, irgendwann; und wenn du es gefunden hast, wirst du es nie vergessen, es bleibt immer in deinen Erinnerungen.“
Dann hatte sie nicht mehr gelächelt, sondern Nick traurig angeblickt, als hätte sie damals schon gewusst, dass sie bald nur noch eine Erinnerung sein würde. Sie hatte sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht gewischt und aus ihren rehbraunen Augen waren Tränen gekullert.
Nick trat auf die Bremse. „Wir sind da, das Ende der Straße.“
„Es sind so viele“, sagte Anna. Die Autobahn erstreckte sich bis zum Horizont und eine endlose Schlange von Fahrzeugen mit ihr. „Wie viele Kilometer sind es denn noch bis nach Bordeaux?“, fragte sie.
„Laut Navi knapp zweihundert.“
Anna starrte ihn fassungslos an, Nick starrte zurück. „Sie sind alle gekommen, um hier zu sterben“, flüsterte sie.
Sie gingen über den Asphalt, die Fahrzeuge flirrten in der Sommerhitze. Nick sah in die Fenster von Autos aller Formen und Farben und mit den verschiedensten Kennzeichen. Er sah Handys, Portemonnaies und Taschen. Kein Auto war abgeschlossen. Nick hörte seinen Atem und spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn lief. Er hörte Stimmen.
Ein Tal erstreckte sich vor ihnen, jenseits der Autobahn. Unzählige Menschen standen auf den Wiesen, in den Wäldern, in kleinen Städten. Es war wie ein Feld aus schwarzen Punkten, das ständig in Bewegung war. Dennoch war es ruhig, die Brise trug nur vereinzelte Stimmen zu ihnen. Italienische, englische, französische. Nick nahm Annas Hand, spürte ihre sanfte Haut und ihren Schweiß. „Lass uns runtergehen.“
Die untergehende Sonne tauchte die Welt in Orange. Anna und Nick wanderten durch die Menge, sahen Greise, Liebende und Familien mit Kindern. Mittlerweile war die Menge in Schweigen verfallen. Hundertausende blickten andächtig zu Boden oder starrten voller Erwartung in den Himmel. Nur der Wind war zu hören. Er raschelte durch die Bäume.
Nick und Anna blieben stehen. Ein kleines Mädchen mit rosafarbenen T-Shirt weinte leise neben ihnen und eine schwangere Frau murmelte vor sich hin, legte dabei ihre Hand auf den Bauch. Die Menge stand still, keiner bewegte sich, keiner sprach. Eine letzte Schweigeminute. Liebende hielten sich die Hände, und Eltern pressten ihre Kinder fest an sich, gaben ihnen Trost. Nick sah, dass Anna bei diesem Anblick die Tränen zu kommen drohten. Er wusste, dass sie an ihre Mutter dachte und sich Vorwürfe machte, weil niemand bei ihr gewesen war, als sie starb.
Zu gerne hätte er ihr die Wahrheit erzählt, ihr erzählt, dass er die Hand ihrer Mutter gehalten hatte, während er ihr die Spritze gegeben hatte. Die Erlösung, ihre und seine. Er hatte im Internet recherchiert, war in das Krankenhaus gegangen und hatte den Medikamentenschrank unbeaufsichtigt und aufgeschlossen vorgefunden. Nick hatte Annas Mutter angesehen, während er ihr die Spritze gab. Er hatte keine Reaktion vernommen und doch wusste er, dass sich etwas verändert hatte. Er glaubte, gesehen zu haben, wie das Leben aus ihr wich. Er hatte das lange Piepen des EKGs gehört, das Geräusch des Todes. Keiner war gekommen, um nachzusehen, keinen hatte es gekümmert.
Niemand zückte ein Handy oder ein Fotoapparat, als der rote Schweif am Horizont auftauchte. Es gab keinen Grund. Sie blickten nur andächtig gen Himmel, verfolgten das stille Schauspiel.
„Er ist früh dran“, sagte Anna.
Nick drückte ihre Hand fester und sah ihr Profil, ihre Haare und ihre Augen. Nick lächelte, während der Meteorit die Erdatmosphäre hinter sich brachte und für wenige Sekunden am Himmel sichtbar wurde. Pechschwarz und unförmig. Ein letztes Aufatmen, ein letzter Blick in die untergehende Sonne und dann schloss Nick die Augen. Er sah keine Abstellkammer, keine Zinnsoldaten, nur die rehbraunen Augen seiner Mutter, die Annas so ähnlich waren. Die Hitze prickelte auf seiner Haut und die Luft roch anders, nach Tau und Morgenröte, als wäre ein neuer Tag angebrochen.