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Das Ende der Fahnenstange
Das Ende der Fahnenstange
Er geht gesengten Hauptes und mit hängenden Schultern, jeden seiner Schritte mit Bedacht setzend über ein Bahngleis. Es regnet und zwar in Strömen. Das ist ihm völlig egal. Selbst wenn es Wackersteine regnen würde, er ginge weiter seinen Weg. Das Ende des Weges ist völlig offen. Alles was er weiß ist, dass es kein Zurück gibt. Im letzten Jahr hatte er alles verloren. Zuerst seinen Job, dann sein Hab und Gut (inklusive einer tollen Villa) und zu guter Letzt auch noch seine Frau.
Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Er hatte einen gut bezahlten Job als Anlageberater bei einer renommierten Bank. Sein Einkommen war recht ahnsehnlich und die Branche boomte. Eines Tages kam er auf die Idee, sein Insiderwissen doch für seine Zwecke einzusetzen. Seinen besten Freund benutzte er hierzu als Strohmann. Der Ahnungslose war sich nicht im mindestens darüber im Klaren, wie sehr er missbraucht wurde. Seine Randgeschäfte verhalfen ihm in kürzester Zeit zu einem kleinen Vermögen. Hätte er es doch dabei belassen und seine aufkeimende Gier unterdrückt.
Sein Job berechtigte ihn, mit dem Vermögen vieler Kleinanleger zu jonglieren – natürlich zu deren Gewinn. Irgendwann fiel es ihm ein, kleinere und auch größere Beträge seiner Kundschaft zu entwenden und für sich „arbeiten“ zu lassen – immer mit dem guten Willen, das geliehene Geld beizeiten zurückzuzahlen. Wäre ja auch alles gut gegangen, hätte es nicht diese unsägliche Finanzkrise im September 2008 gegeben. Die Aktien rauschten nur so in den Keller und mit ihnen, das Vermögen, das er angehäuft hatte und seine heimlichen Darlehen. Es kam so, wie es kommen musste – er flog auf. Noch am selben Tag bekam er die fristlose Kündigung und die Gewissheit für seine Untreue angezeigt und angeklagt zu werden.
An diesem Tag kam er früh nach Hause. Bettina, seine Frau – sie waren nun schon seit zwanzig Jahren verheiratet – stand mächtig aufgebrezelt vor ihm und riss erstaunt ihre wunderschönen veilchenblauen Augen auf. „Wieso kommst du denn schon nach Hause? Habe ich irgendetwas nicht auf dem Schirm? Ich bin mit Angela verabredet und schon so gut wie weg.“ „Bitte bleib hier und setz dich erst einmal hin. Ich habe was Wichtiges mit dir zu besprechen.“ „Das hat ja wohl Zeit bis heute Abend.“ Bettina drehte sich mit diesen Worten um und wollte geschwind zu Tür hinaus. Ihr Mann hielt sie fest und ließ sie erst wieder los, als er ihr die ganze Geschichte – streckenweise von Schluchzen und Tränen begleitet – erzählt hatte. „Das glaub ich ja wohl nicht. Bist du von allen guten Geistern verlassen worden? Aber du warst ja schon immer geldgeil. Meinetwegen hättest du das nicht machen müssen.“ „So, was glaubst du denn, weswegen ich dir all den Luxus hier bieten konnte? Du nimmst doch nicht ernsthaft an, dass ich mit meinen 10.000,--€ brutto das hier alles hätte schaffen können. Aber richtig denken war noch nie dein Spezialgebiet.“ Mit diesen Worten riss er die Haustür auf und schubste sie förmlich aus dem Haus, nicht ohne ihr höhnisch hinterher zurufen: „ Geh noch mal ordentlich shoppen. Ist ohnehin das letzte Mal.“ Er knallte ihr fast die Tür in die Hacken, rannte ins Wohnzimmer riss die Whiskeyflasche und ein Glas aus der Hausbar und schmiss sich auf die teure Designercouch. Dort goss er das Glas bis oben hin voll und stürzte den Inhalt – ohne einmal Luft zu holen – die Kehle hinab. Das tat gut. Ein weiteres Glas folgte. Nach dem dritten sank er auf der Couch zur Seite und schnarchte haltlos. Der Kater am anderen Morgen war grauslich. Von nun an ging es rasant den Bach hinunter. Ein Einkommen gab es nicht mehr – jedenfalls nicht für die Zeit der Arbeitslosengeldsperre. Das bisschen danach konnte nicht viel bewirken. Es reichte gerade für die alltäglichen Dinge des Lebens. Sein Vermögen verspielt. Die Hypothekenzinsen für die Villa nicht mehr aufzutreiben. Die Ehe nur noch ein instabiles Geflecht aus Zank, Vorwürfen, Hohn und Lieblosigkeit. Es dauerte auch genau zwei Monate als Bettina ihm mitteilte, dass sie ihn verlassen und noch am selben Tag die Scheidung einreichen würde. Von einer „guten Bekannten“ erfuhr er dann, dass seine Frau sich einen reichen Freund geangelt hatte. Wäre zwar ein alter Knacker, aber mit ordentlich Lack am Arsch. Warum wunderte er sich nicht?
Die Monate gingen ins Land und seine Lage wurde immer prekärer. Aus dem Whiskey war inzwischen Doppelkorn geworden oder billiger Weinbrand. Er hatte wieder mit dem Rauchen angefangen. Essen war nicht so wichtig. Auch sein Aussehen war einem erschreckenden Wandel unterzogen. Aus dem ehemals adrett und korrekt gekleideten Banker war ein schmuddeliger, unrasierter und leicht müffelnder Säufer geworden.
Die Villa war längst zwangsversteigert und vor vier Wochen hatte er die Räumungsklage bekommen. Morgen musste er raus. Es mutete ihn fast wie ein Hohn des Schicksals an, dass er vor einer Woche den Gerichtstermin zugestellt bekam. Erster Verhandlungstag – morgen.
Er geht weiter und weiter. Immer von einer Schwelle auf die andere tretend. Haut, Haare und Kleidung klatschnass. Schultern und Kopf gebeugt. Weiter immer weiter.
Ein lautes Stampfen und Rattern hinter seinem Rücken dringt in sein Bewusstsein. Warnende schrille Pfeiftöne wollen ihn aufrütteln. Er bleibt abrupt stehen, breitet die Arme aus, schließt die Augen und wird Eins mit der Melodie des Schnellzuges.