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Das Ende der Dunkelheit
Die letzte siegreiche Schlacht des Langen Krieges war unlängst geschlagen, als Benkawar der Vorstellung anheimfiel, ein Rama zu sein, ein Auserwählter der Ahnengeister. Die arakischen Feinde waren in ihre Heimat jenseits der Weißen Berge geflohen und hatten ein zerstörtes Land und ein hungerndes Volk zurückgelassen.
Die Männer saßen schweigend um ein Lagerfeuer im Wald. Sechs an der Zahl, hatten sie seit dem Morgengrauen ihre Fallen inspiziert und waren mit drei Hasen, einem Auerhahn und einem Fasan belohnt worden. Viel zu wenig für ein ganzes Dorf. Die Bäume verloren gerade die letzten Blätter und sahen aus, wie Benkawar sich fühlte. Überall sah er nur Tod, Verfall und Verwesung. Die Gesichter der Männer waren eingesunken und ihre Blicke leer. Bis auf einen halbwüchsigen Knaben waren sie alle Greise, denn starke, erwachsene Männer gab es nicht mehr. Von allen Kriegern ihres Dorfes war er allein mit der Siegesnachricht zurückgekehrt und hatte von dem Überfall auf das Dorf erfahren. So war es ihm wenigstens erspart geblieben, seiner Frau vom Tod Jarmuks in der Schlacht zu berichten, ihres einzigen Sohnes.
„Wir sollten eines der Tiere opfern“, sagte er.
Die anderen schauten ihn an, als wäre er soeben aus einem Loch in der Erde gekrochen. „Wofür?“ fragte Korwasch. „Wir haben so schon nichts mehr zu essen.“
„Und warum ist das so? Warum fangen wir nichts? Drei Hasen und zwei Vögel, das hätte ich normal nach drei Tagen allein gehabt. Aber wir sind sechs Leute, wir haben überall Fallen“, sagte Benkawar. „Wo sind die Tiere hin?“
Edri schaltete sich ein. „Die Wölfe haben sie geholt. Und Berglöwen. Und jetzt die Hunde, die überall herumlaufen. Du hast doch die Kadaver selbst gesehen.“
„Sie sind hinter allem her, was sie jagen können“, sagte Korwasch. „Was sie uns noch übrig lassen, ist zu wenig. Wir müssen sie jagen. Vertreiben. Töten. Sonst –“ sagte er und brach ab.
Benkawar sah Orannar und Tuk an, die bis jetzt geschwiegen hatten. „Ori, wie siehst du das? Wir konnten uns immer auf den Wald verlassen. Aber jetzt ist er leer. Warum ist das so? Ich sag euch, wieso. Unsere Ahnengeister sind uns nicht mehr wohlgesonnen. Wir müssen wieder Opfer bringen, um sie zu besänftigen.“
Dann meldete ausgerechnet Gran sich zu Wort. Der schüchterne Junge sprach ansonsten nur selten.
„Ich hab von meiner Mutter geträumt“, sagte er. Er zeigte auf einen kleinen, feuerroten Vogel, der auf einem Zweig saß. „Sie war ein Vogel. Genauso einer wie der da.“
„Deine Mutter war ein Vogel?“ fragte Orannar.
„Ja. Es war ein Vogel, aber es war auch meine Mutter. Ich konnte ihre Stimme hören. Sie hat gesagt, dass – dass es ihr gutgeht. Und dass die Geister mich beschützen werden.“ Er drehte sein Gesicht von den anderen weg und wischte sich eine Träne mit dem Ärmel ab. „Ist das wahr? Werden sie uns beschützen?“
Verlegen schwiegen die Männer. Tuk legte seine Hand auf Grans Schulter und rüttelte sanft.
Benkawar griff den Faden auf. „Vögel bringen doch Botschaften an die Geister“, meinte er. „Der Geist eines Vogels wird unsere Gebete überbringen.“ Auf den Fasan konnten sie am ehesten verzichten, da er am kleinsten war. Außerdem hatte er ein schönes Gefieder, das müsste den Geistern doch gefallen.
„Gran, geh und such uns noch etwas Holz. Wir brauchen ein Feuer, das ordentlich brennt.“ Er hielt den toten Vogel ein Stück über dem Feuer, um ihn etwas abzutrocknen.
Gran hatte bald eine hübsche Sammlung Holz zusammen, so dass sie ein ordentliches Feuer bauen konnten, das lichterloh brannte. Benkawar hielt den Fasan über dem Feuer und sprach ein paar Worte: „Hört, Ihr Geister, unsere Ahnen! Uns geht es sehr schlecht. Wir brauchen Eure Hilfe, um den Winter zu überstehen. Bitte seid uns gnädig!“
Dann waren die Anderen an der Reihe. Orannar überlegte, was er sagen sollte. Ihm fielen nur Benkawars Worte ein, die im Grunde alles sagten: „Bitte seid uns gnädig!“ murmelte er. Einer nach dem anderen baten sie die Geister um Gnade. Schließlich legte Benkawar den Fasan ins Feuer. Der Duft des garenden Fleisches erinnerte die Männer wieder an ihren Hunger. Trotzdem blieben sie, bis der Fasan nur noch ein verkohlter Klumpen war. Nur Korwasch nahm es Benkawar übel, dass sie den Vogel einfach verbrannt hatten. Er sprach kein Wort mehr.
Inzwischen war es später Nachmittag. Die Gruppe machte sich auf, ins Dorf zurückzukehren. Gran, der das Gefühl hatte, dass die Älteren die Opfergabe hauptsächlich seinetwegen geleistet hatten, blieb hinter den Männern zurück. Er zögerte, den Ort mit dem feuerroten Vogel zu verlassen, obwohl dieser schon längst weitergeflogen war.
Die Männer mochten ungefähr die halbe Strecke ins Dorf zurückgelegt haben, als sie einen tiefen Schrei hinter sich hörten. Der Krieg saß noch allen in den Knochen, und sie erschraken, als sei ihnen ein Höllenbiest auf den Fersen. Dann hörten sie Gran hinter sich rufen: „Ori! Ben! Kommt schnell!“
Die fünf alten Männer rannten los, und bald begegneten sie Gran auf dem Pfad, der eifrig gestikulierte und ihnen bedeutete, dass sie ihm folgen sollten. Nach einigen Schritten bog er ab und führte sie an eine Stelle am Fuß eines Felsens, an dem ein riesiger Bär lag. Er blutete aus dem Maul und der Schnauze, atmete aber noch in kurzen Zügen. Mit jedem Atemzug röchelte es leise.
„Der ist runtergefallen“, sagte Gran. „Ich hab seinen Schrei gehört, als er abgestürzt ist. Ich war direkt unterhalb, auf dem Pfad.“
Die Männer zogen ihre Messer und schlichen sich vorsichtig heran. Der Bär hob den Kopf und versuchte aufzustehen, brach aber alsbald wieder zusammen. Sein Versuch, ihnen brummend zu drohen, endete kläglich im röchelnden Husten, das noch mehr Schleim herauswarf. Edri näherte sich von der Rückseite, während die Anderen die Aufmerksamkeit des Bären auf sich zogen, aber keiner traute sich heran, um ihm den Todesstoß zu geben.
Es war Gran, der die Lösung fand. „Achtung“, sagte er, spannte seinen Bogen und ließ einen Pfeil aus drei Schritt Entfernung los. Er war ein guter Schütze und erwischte ihn im Nacken, knapp hinterm Kieferknochen. Der Bär zitterte kurz und lag dann still.
An diesem Abend waren alle Sorgen vergessen. Bei der Schlachtung wollten alle Hand anlegen, und niemand musste sich hungrig schlafen legen. Gran wurde für seinen Fund als großer Jäger gelobt, und sein Gesicht leuchtete mit dem Feuer um die Wette. Wie es ihm als Todesschützen zustand, bekam er das Bärenherz und das gewaltige Fell zugesprochen. Den Ahnengeistern wurde gedankt, dass sie den Menschen wieder wohlgesonnen waren. Die Männer warfen verstohlene Blicke auf Benkawar und wunderten sich. Ihm selbst fiel irgendwann an dem Abend auf, dass er jemanden lachen hören konnte, und verblüfft stellte er fest, dass er vergessen hatte, wie das klingt.
Der Winter kam, und mit ihm der Schnee. Sie zehrten von dem großen Tier und boten den Geistern ihre Opfergaben dar. Es fiel an Benkawar, die richtigen Worte zu solchen Anlässen zu finden. Aber selbst ein so großer Fang konnte sie nicht ewig satt machen. Gegen Mittwinter waren ihre Vorräte wieder leer. In den Fallen verfing sich gelegentlich ein Hase oder Huhn, in den Reusen ab und zu ein Fisch. Benkawar sorgte trotz der Proteste der hungrigen Dorfbewohner dafür, dass die Ahnengeister versorgt wurden, auf dass es ihnen nicht noch schlechter gehe. Ansonsten war das Überleben ihr Geschäft. Sie schabten Rinde von den Bäumen, um etwas zu essen zu haben. Sie schmeckte bitter und bekam ihnen nicht, da sie Magenkrämpfe davon bekamen, aber der Hunger war schlimmer. Er war ihr ständiger Begleiter, der sie unerbittlich an Körper und Seele peinigte, auch der Schlaf bot keine Flucht. Manchmal aßen sie Schneebälle oder schnitten Tierhäute in feine Streifen, die sie kauen und schlucken konnten. Sechs Kinder verloren sie in diesem Winter.
Die Tage wurden länger, und der Schnee schlich so lautlos davon, wie er gekommen war. Eines Morgens erwachte Benkawar vom schwachen, aber ständigen Klopfen an der Tür zu seiner Hütte. An der Schwelle stand Orannars Frau Schora in der Dämmerung. Schora die Schöne nannten sie sie einst, mit Augen wie schwarzen Perlen in einem Ring aus Bernstein. An diesem Morgen sah er nur das Weiße in ihren Augen, das sich hellgrau gegen den tiefen Schatten ihrer Augenhöhlen absetzte.
„Hast du Ori gesehen?“ fragte sie mit gedämpfter Stimme.
„Was ist mit ihm?“
„Er ist nicht da. Ich bin aufgewacht, und dann war er einfach weg. Ich hab‘ schon überall gesucht.“ Sie zog das dünne Fell, das sie um ihre Schultern trug, enger an sich.
„Komm rein“, bat Benkawar. „Es ist zu kalt draußen. Ich mache Feuer.“
Doch Schora wollte nicht. „Du musst mir helfen, Ben, bitte. Er war die letzte Zeit so komisch. Er sitzt nur da den ganzen Tag und will nichts mehr essen, selbst wenn wir was haben. Die Kinder sollen alles haben, meint er. Und jetzt ist er weg.“
Sie stellten einen kleinen Suchtrupp zusammen. Benkawar, Edri, Gran und zwei kleinere Jungen marschierten in den immer noch winternackten Wald, als die Sonne über die Berge emporstieg. Von einem Felsvorsprung oberhalb des Dorfes sahen sie ihre kleinen, runden Hütten, von Torf und Gras fast vollständig bedeckt, so dass sie alle wie kleine Ahnenhäuser aussahen, in denen die Toten ruhten. Rauch stieg aus ihnen auf und suchte seinen seelengleichen Weg in den wolkenlosen Himmel. In der Ferne sahen sie die Berge so weiß, dass die Augen schmerzten, scheinbar zum Anfassen nah. Benkawar ließ seinen Blick über den Kamm auf der anderen Talseite wandern, wo die Bäume noch im Schnee steckten.
Zwischen den Bäumen sah er einen hellen Flecken, der sich zwischen den Bäumen bewegte. Wahrscheinlich ein Tier, aber er kannte kein Großwild mit Winterfell. Den Umriss konnte er nicht klar erkennen, aber es war so groß wie ein Bär oder Elch. Er wollte es den Anderen zeigen, aber sie waren weitergezogen, und so blieb die Gelegenheit aus.
Der Pfad führte sie an eine Stelle, an dem der Fluss sich durch eine enge Schlucht presste, um sich dann mit großem Getöse über eine Felskante zu stürzen. Unterhalb des Wasserfalls erblickten sie ihn auf dem Bauch liegend am Ufer einer Schotterbank, den halben Kopf unter Wasser.
„Wie ist das passiert?“ fragte Edri. „Was hat er unten am Fluss gewollt, mitten in der Nacht?“
„Vielleicht … das?“, antwortete Benkawar.
Die beiden Männer schauten sich an. Edri hatte einen angewiderten Ausdruck im Gesicht. „Was soll das?“
„Er wollte nichts mehr essen und hat gesagt, die Kinder sollen alles haben. Und dann ist er heute Nacht verschwunden. Ist das so schwer zu glauben?“
„Erzähl mir nicht, was ich glauben soll“, sagte Edri und suchte mit den Jungen einen Weg die steile Böschung hinunter. Mit Hilfe der Jungen schafften sie es, den eiskalten Körper einige Ellen aus dem Wasser zu ziehen. Damit war der einfache Teil schon erledigt. Selbst ohne den Leichnam würde aber der Weg zurück auf den Pfad eine Qual werden, so schwach wie sie waren.
„Wir müssen ihn hier lassen“, sagte Benkawar. „Wir werden es nicht schaffen, ihn da hochzuziehen. Lasst uns hier eine Mulde machen und ihn zudecken. Vielleicht können wir ihn ein andermal holen.“
Edri presste die Lippen zusammen. „Du willst ihn einfach wie ein Stück Treibgut da lassen, und dann? Was willst du Schora erzählen? Er gehört ins Ahnenhaus.“
Benkawar zog ihn ein paar Schritt zur Seite, damit die Jungen nicht mithören konnten. „Vielleicht ist er einfach weitergetrieben.“
„Was ist eigentlich mit dir los? Du hast wohl Moos im Schädel“, zischte Edri zurück. „Ori war dein Cousin, und dein Freund, dachte ich. Und jetzt willst du ihn an die Fische verfüttern!“
Also schleppten sie ihn hoch, der so abgemagert war wie sie selbst und gerade deshalb so unerträglich schwer. Als sie oben am Pfad ankamen, war es schon Nachmittag. Tegwar, der kleinste der Jungen, wurde vorausgeschickt, um Hilfe zu holen, da sie alle mit ihrer Kraft am Ende waren.
Tuk brachte ein altes Fell mit, in dem sie die Leiche besser transportieren konnten.
Am Felsvorsprung überm Dorf machten sie wieder Pause. Die Leiche lag auf dem Rücken und hielt die Arme fromm an die Seiten gepresst. Das Fell war zur Seite gerutscht, und Benkawar sah Orannars Gesicht, vom Schleppen angekratzt, aber ansonsten friedlich. Sie hatten vergessen, seine Augen zu schließen. Oder vielleicht waren sie unterwegs wieder aufgegangen. Sie schienen in den Himmel zu gucken, als würde er darauf warten, die Sterne zu sehen. Zum ersten Mal seit der Schlacht weinte Benkawar, während Edri ihm mit steinerner Miene zuschaute.
Sie legten die Leiche ohne Zeremonie ins Ahnenhaus, da die Todesstarre verhinderte, dass sie den Körper in die erforderliche hockende Position bringen konnten. Nachher zogen sich die Anderen in ihre Hütten zurück, aber Benkawar blieb noch draußen, den Vollmond bewundern. Er hatte schon immer den Mond gemocht, die kleine Schwester der Sonne.
Leise Schritte holten ihn aus seinen Gedanken. Das weiße Tier war da, mitten im Dorf, und schlich anmutig zwischen den Hütten umher. Es war ein Elch, der hier und da an den torfbedeckten Wänden schnüffelte. Benkawar ging vorsichtig auf ihn zu und ließ das Tier neugierig an seiner Hand riechen. „Was bist du für ein Wesen? Bist du ein Geist?“, flüsterte er und versuchte es zu berühren. Der Elch ließ es nicht zu und zog sich zurück, aber nicht weiter als notwendig. Benkawar zitterte inzwischen vor Kälte, aber er spürte es nicht, so sehr zog ihn das Tier in seinen Bann. Fortan dachte er ständig an das wundersame Tier und wünschte sich, es wiederzusehen.
Einige Tage später wurde Orannar feierlich in die Ahnengalerie aufgenommen. Im Ahnenhaus trommelte Benkawar auf eine an einem Holzring aufgespannte Ziegenhaut, während die anderen Männer summten. Sie warfen Kräuter ins Feuer, die in den Augen brannten und ihnen die Sinne vernebelten. Von draußen drangen die Stimmen der singenden Frauen herein und vor ihm tanzten die Flammen. Er sprach zu den Geistern, und ihre Stimmen antworteten, aber er hörte nicht ihre Botschaft. Ihre Worte waren so unfassbar und flüchtig wie der Rauch. Nach und nach verstummten sie. Aus dem Feuer blieben nur noch glühende Kohlen übrig, die Frauen waren irgendwann in ihre Hütten verschwunden und die Männer schliefen ein.
Als Benkawar erwachte, sah er durch die Öffnung in der Decke das erste Licht des neuen Tages. Er hatte Durst, seine Augen brannten und sein Bauch schmerzte vor Hunger. Auf wackeligen Beinen machte er sich gerade auf, zu seiner Hütte zurückzukehren, als er den weißen Elch wieder sah, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er ging auf das Tier zu und blieb bewundernd vor ihm stehen.
„Psst! Ben!“ flüsterte jemand von hinten. Es war Gran, halb versteckt hinter einer Hütte, mit seinem Bogen in der Hand. Er winkte Benkawar, dass er zur Seite gehen sollte. Weiter hinten kam gerade Edri aus dem Ahnenhaus. Als er die Situation erfasst hatte, wies auch er Benkawar mit einer Handbewegung an, das Schussfeld freizumachen. Dahinter kam auch noch Korwasch aus dem Ahnenhaus und gesellte sich zu ihnen, während er sich den Schlaf und den Rauch aus den Augen rieb.
„Was macht er denn da?“, flüsterte Korwasch.
„Keine Ahnung“, flüsterte Edri zurück. „Sag ihm, er soll weggehen!“
Benkawar blieb ungeachtet des heftigen Winkens der Anderen vor dem Elch stehen. Dann richtete Gran sich auf und spannte den Bogen zum Schuss. „Nein!“ rief Benkawar und hob die Arme. Gran zuckte leicht, als er die Sehne losließ, und der Pfeil zischte an Benkawars Kopf vorbei. Der Elch prustete und machte sich trabend auf und davon. „Nochmal! Du hast ihn nur gestreift!“ rief Edri aufgebracht. Gran legte noch einen Pfeil an, aber der Elch lief schnell davon. Der nächste Schuss traf ihn am Hinterbein, schien aber keine größere Wirkung zu haben. Er lief weiter so schnell es seine langen Beine erlaubten.
Edri war außer sich vor Wut. „Was machst du denn da, du verhexter Idiot!“ Rasend gestikulierend kam er auf Benkawar zu. „Was soll das? Hast du jetzt deinen Verstand komplett verloren?“ Aus den Hütten tauchten die Frauen und Kinder auf, um zu sehen, was los war. Alle Augen waren auf Benkawar gerichtet, während die Frauen und Kinder langsam näher kamen. „Warum hast du das getan? Sag was!“, brüllte Edri.
Hilfesuchend flackerte Benkawars Blick zwischen den versammelten Leuten hin und her. Er wusste nicht, was er sagen sollte oder wollte. „Ich … es war … ein weißer Elch … “
„Ein weißer Elch!“, brüllte Edri, sprang ihn an und schlug ihm ins Gesicht. Er war alt und vom Hunger geschwächt, aber Benkawar schmeckte das Blut von seiner geplatzten Lippe. „Was soll das heißen, ein weißer Elch? Was tut das zur Sache, welche Scheißfarbe er hat? Während wir am Verhungern sind!“ Er verpasste ihm einen Fußtritt. „Du blödes Arschloch!“
Korwasch kam jetzt auch näher. „Den ganzen Winter haben wir unser Essen für deine verhexten Geister geopfert. Verbrannt. Vernichtet. Immer das Gleiche. Aber deine Brüder und Schwestern, die Kinder, wir sind dir egal.“
„Das ist nicht wahr“, verteidigte Benkawar sich. „Es ging doch um –“
„Um die Geister, ja, das wissen wir“, sagte Edri. „Sie müssen ja besänftigt werden. Aber Korwasch hat Recht. Was mit Ori war, war dir ja auch egal. Den wolltest du wieder in den Fluss schmeißen.“
„Was?“, unterbrach Schora. „Aber ihr habt ihn ja zurückgebracht?“
„Klar haben wir das“, sagte Edri, ohne den Blick von Benkawar abzuwenden. „Aber nicht, wenn es nach ihm gegangen wäre. Er wollte ihn einfach verschwinden lassen!“
Schora wandte sich an Benkawar. „Ist nicht wahr. Ben! Sag, dass das nicht wahr ist!“
Benkawar brachte nur ein Krächzen hervor. „Wir sind am Ende. Alle. Ori zu holen, hat uns fast umgebracht. Das war zu viel. Ich wollte ihn nicht verschwinden lassen, nur ein bisschen warten. Ihn da lassen, bis wir mehr Kraft haben.“
„Und lässt den Elch laufen! Mitten im Dorf, direkt vor deiner Nase! Aber jetzt reicht’s mir mit deinen bescheuerten Einfällen“, rief Edri und zog sein Messer.
Benkawar wich zurück, wollte sagen, dass sie Edri bändigen sollten, als etwas gegen seinen Kopf knallte. Er sah Schoras weinendes Gesicht. Sah, dass sie sich bückte, um noch einen Stein zu pflücken. Weda, die auch ein Wurfgeschoss suchte. Und Gran, der einen Pfeil aus seinem Köcher herauszog. Er zog sich zurück, wich einem Stein aus, den irgendjemand geworfen hatte. Schließlich drehte er sich um und rannte los, so schnell er konnte. Angst wallte in ihm auf, wie damals in der Schlacht. Steine flogen an ihm vorbei, und er erwartete jeden Augenblick, von einem Pfeil durchbohrt zu werden. Ungebremst warf er sich in den Fluss und paddelte mit Händen und Füßen. Schlotternd erreichte er das andere Ufer. Erst dann wagte er es, sich wieder umzudrehen. Seine Verfolger waren auf halbem Weg zum Fluss stehen geblieben. Für einen Augenblick keimte in ihm Hoffnung auf, dass er jetzt zurückkehren konnte, aber dann kamen noch mehr Steine geflogen. Sie landeten harmlos im Fluss, aber die Absicht war deutlich genug.
Alles, was er bei sich hatte, war ein dünnes Wams, eine Hose, Mokassins und sein Messer. Unten am Ufer konnte er seine brennenden Augen ausspülen und seinen Durst löschen. Während er trank, sah er auf einem Stein einen Tropfen Blut. Vielleicht war der Elch schwerer verletzt, als er angenommen hatte. Er beschloss, ihn aufzuspüren. Falls er ihn wiederfand, könnte das seine Rettung sein.
Die Fährte führte ihn in immer höhere Lagen. Das Fortkommen war langsam, und er fror, denn das Wetter war wolkig und kühl. Hier oben lagen noch Schneereste zwischen den Bäumen, und es dauerte nicht lange, bis er vor einer geschlossenen Schneedecke stand. Entkräftet setzte er sich hin und aß etwas Schnee gegen den Durst und den Hunger, als er jemanden kommen hörte.
Sie waren leise, wie Männer auf der Jagd es gewohnt sind, aber er hörte das leise Klappern von Holz gegen Holz von ihren Waffen. Zweifellos waren es seine Leute, die ebenfalls hinter dem Elch her waren. Was sie machen würden, wenn sie ihn fänden, wollte er lieber nicht wissen. Also schlich er sich auf und davon, weg von den Elchspuren, und achtete darauf, den Schnee zu meiden. Hoffentlich waren sie am Elch mehr interessiert als an ihm.
Hinter einem Felsvorsprung blieb er auf der Lauer. Kurz darauf kamen sie. Tuk, Korwasch, Edri und Gran. Sie machten Halt, wo Benkawar eben gesessen war. Eine Weile unterhielten sie sich angeregt, wobei sie immer wieder ihre Köpfe umdrehten und den Blick durch den Wald schweifen ließen. Dann liefen sie weiter durch den Schnee, immer den Elchspuren hinterher.
Benkawar lief weiter, blieb aber unterhalb der Schneekante, damit seine Spuren nicht so leicht zu finden wären. Sein einziges Ziel war nur noch, am Leben zu bleiben.
Das Wetter wurde kälter und ein Wind zog auf. Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Ohne Unterschlupf würde er nicht mehr lange überleben. Die Rettung kam, als er eine steile Klamm erreichte, an deren innerem Ende ein riesiges Loch im Berg klaffte. Als er in der Öffnung stand, stellte er fest, dass die Höhle weitaus tiefer war, als er zuerst gedacht hatte, und ging hinein. Nach wenigen Schritten war der tosende Sturm nur noch ein fernes Summen. Dunkelheit umschloss ihn wie eine Decke, beruhigte ihn und machte Kälte und Hunger vergessen. Die Höhle schien kein Ende zu haben, und er ging weiter, blind, aber furchtlos.
Er dachte an Orannar mit dem sanft ruhenden Sternenblick. Genauso hatten Jarmuks Augen nach der Schlacht ausgesehen. Der Junge hatte ihn gerettet, als er um ein Haar von einem Arakier erschlagen worden wäre. Einen Augenblick lang hatte er nichts anderes gesehen als diese hässlich glänzende Lanzenspitze, die gleich in seinen Brustkorb eindringen würde, und er war zu langsam gewesen, um sie abzuwehren, würde es nicht schaffen. In seiner Erinnerung spielte sich alles ganz langsam ab. Sein Sohn hatte sich dazwischen geworfen, um die Lanze mit einem Hieb seines Schilds abzuwehren. Der Arakier hatte ihn aber kommen sehen, die Lanze blitzschnell zurückgezogen und nochmal zugestoßen. Jarmuk hatte durch seine ungestüme Bewegung seine Brust bloßgelegt, und die Lanze war bis zum Schaft in ihn eingedrungen. Benkawar hatte mit seiner Axt dem Mann das Knie und dann den Schädel zertrümmert, aber sein Sohn war zusammengesunken und auf dem Rücken liegen geblieben. In dieser Pose hatte Benkawar ihn nach der Schlacht gefunden, mit dem Blick in den Himmel und ganz friedvollen Augen, als lauschte er den zirpenden Grillen nach einem harten Tag auf den Feldern.
Die Welt war ganz still geworden. Als er zurückblickte, sah er, dass die Öffnung schon ganz entfernt zurücklag, nicht größer als sein Daumen am ausgestreckten Arm. So tief war die Stille, dass er seinen Atem und sogar seinen Herzschlag hören konnte. Immer weiter ging er hinein, und seine Erinnerungen verblassten mit dem Schwinden des Tages und der Welt jenseits der Höhle. Um ihn herum war nichts als ewige Nacht, und außer der Gewissheit seiner eigenen Gedanken schien ihm nichts mehr real, sondern nur ein seltsamer Traum, und er blickte nicht mehr zurück. Allein die Idee, dass es ein Zurück gab und dass dort etwas anderes als das lautlose Nichts zu finden sei, schien ihm fremd. Irgendein Gedanke regte sich am Rande seines Bewusstseins, aber er konnte ihn nicht festhalten. Ein weißes Tier, vielleicht, von seiner Herde verstoßen und tot auf einer Wiese, mit sanften Augen, die die Sterne beobachteten. Der Gedanke entwich ihm wieder, und er wusste nicht, was das alles ihm bedeuten sollte. Es gab nur noch seine Schritte, und auch die hörte er bald nicht mehr, und die Dunkelheit um ihn war alles, was es gab, und dann war auch die Dunkelheit zu Ende.