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Das elektrische Volk
Andreas sitzt an seinem Schreibtisch, vor ihm drei Bildschirme. Auf einem laufen weiße Schriftzeilen auf schwarzem Grund, auf dem anderen ploppen in regelmäßigen Abständen Diagramme auf, auf dem dritten liest er gerade einen Artikel einer renommierten Wissenschaftlerin seines Fachgebiets. Er gähnt, nimmt einen Schluck Kaffee. Ein Blick auf die Uhr. In zwölf Minuten werden die Studenten kommen. Ein kurzer Blick auf die weißen Textzeilen verrät ihm, dass seine Programme ohne Fehlermeldungen laufen. Trotzdem wirft er einen prüfenden Blick auf die Diagramme. Kann es stimmen, was sie zeigen? Nun muss er aber auch schon los zum Konferenzraum.
Kaum angekommen, kommen auch schon die Studenten. Es sind sechs an der Zahl. Für angewandte Mathematik kann sich eben kaum jemand begeistern, denkt er. Er strafft die Schultern. "Herzlich willkommen bei der CompVeri GmbH. Mein Name ist Andreas Ziesig und ich bin Leiter der Abteilung für political polls. CompVeri ist ein Unternehmen, dass sich auf Simulationen im Gebiet der Computational Statistics spezialisiert hat. 2027 als Startup gegründet, konnten wir uns innerhalb weniger Jahre einen guten Ruf auf dem Gebiet der Soziosimulationen erarbeiten. Wir haben weltweit Kunden wie Politiker und Parteien, aber auch NGOs.." Andreas spult den Standardtext mit den Unternehmensdaten herunter. Nach dem vierten Mal in diesem Monat ödet es ihn an, jedes Mal das selbe zu sagen. "Damit unsere Voraussagen über gesellschaftliche Entwicklungen so präzise wie möglich sind, müssen wir die Dynamiken der Gesellschaft möglichst wirklichkeitsgetreu abbilden. Wir arbeiten hierbei mit einigen Tausend bis zu Millionen individuellen Entitäten und untersuchen mit ihnen die Stabilität von gewissen Ideen. Mit diesen Entitäten modellieren wir bestimmte Aspekte der Gesellschaft." "Wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie auf Ihren Computern ein Volk von künstlichen Intelligenzen halten?", fragt ein Student. "Ja, man könnte fast sagen, unsere Programme können denken wie Sie und ich. Na gut, die Entitäten sind trotz unserer Bemühungen noch relativ simpel gestrickt, also mehr wie Sie und weniger wie ich." Andreas grinst. Die Studenten lachen.
Nach dem Vortrag setzt er sich wieder an den Schreibtisch in seinem Büro. Auf einem der Bildschirme steht "analysis complete". Er schaut sich die Ergebnisse an. Es ist ein simulierter Volksentscheid. Das Ergebnis wird dem Auftraggeber gefallen. Anhand der Simulation wird eine Aktionsliste ausgearbeitet werden. Dann sollte eigentlich nichts schiefgehen. Das Telefon klingelt. Andreas zögert abzunehmen. Das letzte Projekt hat sich als Fehlschlag herausgestellt. Die Entitäten in der virtuellen Meinungsumfrage hatten etwas anderes gesagt, als später abgestimmt wurde. Die Daten zeigen einen merkwürdigen Effekt, für dessen Untersuchung Andreas noch keine Zeit hatte. Bestimmt will ihm sein Chef jetzt noch mal auf die Finger klopfen. Er fasst sich ein Herz und nimmt den Hörer in die Hand.
"Guten Tag, mein Name ist Strader vom Meinungsforschungsinstitut Polytest. Haben Sie Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?"