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Das einsame Haus
Nadja und Udo hatten sich in der fremden Umgebung total verfahren. Seit zwei Stunden irrten sie auf Nebenstraßen und Feldwegen. Nadja meinte, „Udo, es ist fast Mitternacht und dunkel. Lass uns zurückfahren. Wir kommen bestimmt wieder zu der Ausfahrt, die ich dir vorhin vorgeschlagen habe. Sie mal, wir wissen nicht, wo wir sind und weit und breit ist kein Haus zu sehen.“
„Das würde ich gerne tun, aber vergiss nicht, wir sind mehrmals abgebogen. Nicht zu vergessen die Feldwege. Keine Ahnung, wo wir in dieser Dunkelheit landen, wenn wir zurückfahren. Und schließlich führt jeder Straße irgendwo hin. Ich in schon froh, dass diese Straße asphaltiert ist. Darum bin ich sicher, dass diese Straße zu einem Gasthaus oder einem Dorf führt.“
Udo hatte recht. Einige Minuten später sahen sie in der Ferne einen Lichtschein.
Beim Näherkommen erkannten sie ein Haus. Das einzige Haus auf der einsamen Landstraße mit einer schwachen Lampe über der Haustür. Nadja konnte sich nicht erklären, warum sie sich freute und gleichzeitig ein beklemmendes Gefühl hatte. Das war doch, was sie sich wünschte. Endlich Leute, die sie nach dem Weg fragen konnte. Ihren Gedanken nachhängend, meinte Udo, „wir sind gleich da. Ich gehe zum Haus und frage nach dem Weg und wartest im Auto.
In der Dunkelheit konnte Udo nicht erkennen, dass diese asphaltierte Straße abrupt endete und jetzt mit Schlaglöchern übersät war. Ein starker Ruck, das Auto schlingerte und kam zum Stehen. Erschrocken hielt sich Nadja am Arm ihres Mannes fest. „Was war das? Hast du etwas überfahren?“
„Beruhige dich, ich glaube ein Reifen ist geplatzt. Das hat uns gerade noch gefehlt.
Jetzt sitzen wir hier mit einer Reifenpanne und ohne Wagenheber. Den habe ich meinem Bruder geliehen und noch nicht zurückbekommen. Der wird sich auch nicht ändern, alles ausleihen und nichts zurückbringen.“
Seine Ahnung wurde bestätigt. „Schöne Bescherung. Es hilft nichts, ich muss zu dem Haus gehen.“ Entschlossen ging Udo über die Straße und blieb vor einer Umzäunung stehen. Ein Gartentor versperrte den weiteren Weg. Er überlegte, sollte er das Gartentor öffnen? Oder rufen? Erschrecken wollte er die Leute um diese Uhrzeit nicht. Zögernd öffnete er, mit quietschendem Geräusch, das Tor. Wie von Zauberhand stand ein älterer Mann in der Tür.
Nadja blieb voll Unbehagen im Auto. Um sich abzulenken, zählte sie die Schritte, die Udo bis zum Haus zurücklegte. Das waren genau 35 Schritte. Im schwachen Licht erkannte sie, wie ihr Mann mit einem älteren Herrn sprach. Wortfetzen flogen zu ihr, die sich nicht richtig verstehen konnte. Sie sah beide Männer ins Haus gehen. Die Tür schloss sich.
Nadja ließ die Haustür nicht aus den Augen und fühlte sich in der Dunkelheit unbehaglich. Sich Mut zusprechend, dachte sie daran, dass alles bald ein Ende hat. Sie dachte an Ihr Haus und ein wohliges Bad. Inständig hoffte sie, dass es in diesem abgelegenen Haus ein Telefon gab. Und wenn, welche Werkstatt würde mitten in der Nacht einen Reifen wechseln? Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Udo aus dem Haus gestürzt. Nadja öffnete die Fahrertür, sodass Udo schnell einsteigen konnte. Sie ahnte, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
Udo schmiss sich auf den Fahrersitz, drehte den Zündschlüssel und wollte fahren, um den grausigen Schauplatz so schnell zu verlassen. Fluchend begriff er, dass sie nicht fahren konnten.
„Du zitterst, als hättest du Gespenster gesehen? Was war denn in dem Haus?“
„Was ich soeben erlebt habe, kannst du dir nicht vorstellen. Dass das unglaublich!“
Umständlich holte Udo eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche, klopfte eine Zigarette heraus und schob sie sich mit zittrigen Fingern zwischen die Lippen. Nadja sah ihren Mann von der Seite an, merkte wie verstört er war und ließ ihn rauchen. Ein husten, spucken und fluchen riss Nadja aus ihren Gedanken.
„Was ist mit dir? Möchtest du etwas trinken? Hier, nimm die Flasche Wasser. Ein Rest ist noch drin.“
„Keine Sorge, habe aus Versehen meinen Filter angezündet.“
Er öffnete das Fenster und schleuderte angewidert die Zigarette auf die Straße. „Am besten ich gebe das Rauchen auf.“
„Nun, nachdem du dich beruhigt hast, möchte ich endlich erfahren, was da los war. Konntest du eine Werkstatt anrufen?“
„Das war nicht möglich. Kein Telefon.“
Udo setzte sich angespannt aufrecht und versucht ein Lächeln, was kläglich misslang.
„Der Mann, der mich eingelassen hat, war sehr freundlich. Er bat mich ins Haus und stellte mich seiner Frau vor. Geduldig hörten sie mir zu und versprachen auch zu helfen. Ich fragte nach einem Telefon. Da sagte die Frau, wir haben kein Telefon. Ich fragte dann, wie sie mir dann helfen wollten, ich brauche eine Werkstatt? Wie soll ich ohne Wagenheber einen Reifen wechseln? Der Mann fasste mich wortlos am Ärmel und zog mich mit. Ahnungslos ging ich mit ihm in den Keller.“
Ohne ihren Mann zu unterbrechen, hörte Nadja auf aufmerksam zu und bemerkte, wie seine Anspannung wuchs. Udo atmete mehrmals tief durch, bevor er weiter sprach.
„Also, wir gingen in den Keller, der war so ungewöhnlich, wie ich ihn noch nie einen Keller gesehen habe. Wir gingen einen langen Gang entlang. Auf der rechten Seite sah ich mehrere kleine Räume mit einem Gitter als Tür davor. Und die ganze Zeit irritierten mich undefinierbare Geräusche. Ich konnte nicht ausmachen, was das war. Am Ende des Ganges kamen wir an eine stabile Tür, die der Mann wie einen Safe öffnete. Ein Rädchen rechts herum, links, du weißt schon. Dahinter nochmals eine normale Tür. Du kannst mir glauben, mir war da schon ganz schön mulmig. Da ich hinter dem Mann stand, konnte ich nicht erkennen, was sich in dem Raum befand. Dann sagte der Mann, ich soll eintreten. Der Raum war sehr groß. Wahrscheinlich geht der Keller unter dem Haus weiter. Ich gehe einen Schritt vor und bleibe fassungslos stehen. Was ich sah, war so grausig, dass ich so schnell ich konnte, aus dem Haus lief. Das ist die ganze Geschichte. Und einen Wagenheber habe ich auch nicht.“
„Was hast du denn gesehen? Waren dass Kriminelle? Oder waren da Menschen gefangen? Spann mich nicht auf die Folter und sage endlich was du gesehen hast!!
Allmählich gewann Udo seine Fassung wieder und meinte, „in dem Kellerraum waren die merkwürdigsten Gegenstände. An der Decke baumelten Schrumpfköpfe, präparierte kleine Tiere und viele andere Gegenstände, die ich so schnell nicht erkennen konnte. Die Schrumpfköpfe waren schon schaurig anzusehen, aber das Schlimmste stand in einer Ecke.“
Udo sah seine Frau an. „Da stand eine Leiche. Weiß wie eine Wand, als wäre alles Blut entzogen. Eine männliche Leiche ohne Kleider. Es läuft mir jetzt noch kalt über den Rücken.“
Nadja bekam jetzt richtig Angst, als sie sah, wie sich die Haustür öffnete und der Mann herauskam. Als er das Auto erspähte, gestikulierte er wild mit den Armen und rief, „hallo, junger Mann. Kommen Sie zurück, ich will Ihnen doch helfen! Glauben Sie mir. Hier kommen Sie sonst nicht weiter!“
Er wartete noch ein Weilchen und schlurfte schließlich resigniert ins Haus zurück.
„Udo, was sollen wir tun?“
„Komm, wir steigen leise aus, nehmen unsere Decke vom Rücksitz und bleiben über Nacht da drüben, geschützt zwischen den Büschen. Da werden sie uns nicht finden. Bei Tag sieht alles besser aus.“
Der Morgen fing ebenso furchtbar an, wie der Abend endete. Nadja schrie, klammerte sich an ihren Mann und konnte sich kaum beruhigen.
„Was ist lo...!“ Udo schreckte hoch. Das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Ohne Aufforderung hoben sie langsam die Hände. Gemeinsam standen sie auf und ließen die Gewehrmündung in den Händen der Frau nicht aus den Augen.
Wütend, mit zusammengebissenen Zähnen gingen sie ergeben mit der Frau zurück ins Haus.
Überaus freundlich wurden sie von dem Mann begrüßt.
„Guten Morgen, bitte setzen Sie sich. Es tut uns sehr leid, Sie unter diesen Umständen zum Frühstück zu bitten. Ich nehme an, sonst wären Sie unserer Einladung nicht gefolgt.“
Nadja und Udo setzten sich an den reichhaltigen und liebevoll gedeckten Frühstückstisch.
„Henkersmahlzeit," zischte Nadja Udo zu.
„Keineswegs.“ Schmunzelte die Frau. „Mein Mann wird Ihnen alles erklären.“
„Liebe Gäste,“ begann der Mann feierlich. „Bitte sehen Sie mich nicht so entrüstet an. Sie sind willkommene Gäste. Angst brauchen Sie nicht zu haben. Meine Frau ist Ärztin, ich bin Geologe. Beide im Ruhestand. Als Geologe habe ich in der ganzen Welt gearbeitet und wertvolle Raritäten erworben. Die Arbeitsbedingungen waren für meine Gesundheit nicht immer förderlich. Sehen Sie sich meine Hände an. Gicht und Rheumaknoten. Deshalb sollten Sie den Wagenheber und Werkzeug selbst aus dem Keller holen.
Nachdem Sie so überstürzt wegliefen, ist uns klar geworden, dass wir Sie erschreckt haben.“
„Warum ist der Keller so gesichert?“
„Gesichert? Welche Frage! Die Raritäten selbstverständlich. Gerne hätte ich Ihnen meine Kostbarkeiten gezeigt.“
„Dann sind wir ja beruhigt,“ meinte Udo. „Aber ich verstehe trotzdem einiges nicht. Warum habe Sie das nicht gleich gesagt und mich am Ärmel gezupft damit ich mitkommen? Und warum haben Sie nicht gesagt, das im Keller ein Wagenheber ist?“
Der Mann sah Nadja und Udo ganz entgeister an und meinte, „da habe ich nicht nachgedacht. Für mich war das selbstverständlich!“
„Und im Nachhinein wundere ich mich, dass Sie sofort die Haustür öffneten, bevor ich am Haus war. Haben Sie eine Kamera im Haus?“
„Nein. Das Gartentor ist unsere Alarmanlage. Die quietscht so laut, das jeder Einbruchversuch daran scheitert. Und während ich mit Ihnen vor der Tür gesprochen habe, stand meine Frau mit einem Gewehr hinter mir. Wir sind hier nicht ängstlich, aber man kann nie wissen, wer vor der Tür steht.“
„Da haben Sie recht.“
„Eine Frage habe ich noch,“ mischte sich Nadja ein. Wieso ist der Keller größer als ihr Haus? Und ich verstehe auch nicht, warum Sie so abgelegen wohnen mit Ihren wertvollen Raritäten. Wer das weiß, kann Sie überfallen und niemand wird Sie vermissen.“
„Das ist richtig. Als wir jung waren, standen hier etwa zehn Häuser. Dieses ist das Elternhaus meiner Frau. Wie ich schon sagte, waren wir in der ganzen Welt unterwegs. Wo ich als Geologe gearbeitet habe, hat meine Frau als Ärztin gearbeitet. Das war ideal. Wenn wir zwischendurch nach Hause kamen, brachten wir alles hier im Keller unter.
Das Unglück passierte, als wir zu einer neuen Arbeitsstelle fuhren. Es gab hier einen furchtbaren Brand. Bis die Löschfahrzeuge hier waren, war alles zerstört bis auf dieses Haus.
Das Haus direkt neben uns war einsturzgefährdet und wurde abgerissen. Wir waren nur zwei Wochen weg. Danach sind die Eltern meiner Frau in eine andere Stadt gezogen und wir haben das Haus und den Keller von dem Nachbarsgrundstück behalten. Das ist schon sehr lange her. Das ist auch der Keller mit den Gittern vor den Türen. Was da früher gelagert war, ist uns nicht bekannt. Damals hieß es, die Häuser sollten wieder aufgebaut werden und einige Neubauten dazu. Passiert ist nichts. So sind wir hier geblieben. Aus diesem Grund wohnen wir auch so abgelegen. Um den furchtbaren Zustand der
Straße kümmert sich niemand. Selten das sich jemand hierher verirrt.“
„Und wo führt die Straße hin?“
„Wenn Sie etwa fünf Kilometer geradeaus weiterfahren, gabelt sich die Straße. Fahren Sie nach links, kommen Sie auf einen Feldweg den die Bauern befahren und ins Feld führt. Da geht es nicht weiter. Biegen Sie rechts ab, kommen Sie nach ungefähr zehn Kilometern zu einer Gaststätte. Von da aus können Sie sich orientieren und nach Hause fahren.
„Gerne, aber ohne fahrbares Auto ist das schlecht.“
„Ich fahre Sie“, meinte die Frau, „das ist kein Problem.“
„Oh, das ist ja prima, freute sich Nadja. Damit habe ich nicht erwartet, das Sie ein Auto besitzen.“
„Naja, ganz so hilflos sind wir auch nicht. Hin und wieder fahren wir in die Stadt. Aber nicht sehr oft. Wir legen aber Wert darauf, das unser Auto immer in einem guten Zustand ist.
Jede Woche werden uns Lebensmittel geliefert. Dann gebe ich eine Einkaufsliste wieder mit für das nächste Wochenende. Das funktioniert sehr gut. Außerdem bekommen wir jeden Dienstagabend Besuch. Unser Freund ist auch Arzt. So haben wir eine gute ärztliche Kontrolle. Sie sehen, alles ist geregelt. Aber jetzt liebe Freunde gehen wir zusammen in den Keller und ich werde Ihnen alles zeigen.“
Udo drehte sich zu Nadja und meinte, „ich verstehe nicht, was gestern in mich gefahren ist. Heute sieht alles so friedlich aus. Nun gut, ich muss zugeben, die vergitterten Türen haben mich irritiert und meine Nerven haben mir einen Streich gespielt.“
„Das wäre mir bestimmt auch passiert.“
„Sehen Sie hier.“ Der Mann zeigte auf eine Zementnaht auf dem Boden. „Hier war die Mauer zum Nachbarhaus, die ich entfernt habe. Deshalb ist der Keller doppelt so groß wie unser Haus.“
Als der Mann den gesicherten Kellerraum öffnete, betrat Nadja neugierig als Erste den mysteriösen Raum aus dem Udo geflohen war. Sie konnte ihren Mann verstehen.
„Und hier ist das Wertvollste, was Sie gestern so erschreckt hat.“ Voller Stolz zeigte der Mann auf die Schrumpfköpfe, erklärte ausführlich die Fundorte und zeigte auf die Arbeiten seiner Frau. Lebensechte Nachbildungen aus Wachs.
Interessiert hörten Sie den ausführlichen Erläuterungen zu, während Nadja furchtlos zu der vermeintlichen „Leiche“ ging.
Das ist das Hobby meine Frau. Wachsfiguren. Diese hier ist noch nicht fertig.“
„Die Geräusche? Die sind jetzt auch zu hören! Was ist das?
„Wir haben keinen Strom. Das ist ein Aggregat.“
„ Ich muss für gestern Abend entschuldigen,“ meinte Udo zu dem Mann. Bestimmt habe ich Ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wie konnte ich mich so tölpelhaft verhalten.“
„Gehen wir wieder nach oben. Meine Frau wird sicher schon warten. Eine Autokarte haben wir auch. Übrigens, wohin wollen Sie denn fahren? Wo wohnen Sie? Ich meine, in welcher Stadt?“
„Keine Stadt. Wir wohnen in einem kleinen Dorf mit Namen Oberndüsel.“
„Was? In Oberndüsel wohnen Sie? Das ist nicht wiet von hier. Da Fahren sie nicht bis zum Gasthaus, wie ich vorhin empfohlen habe. Sie fahren auf dem Weg zurück, von wo Sie kamen. Dann bleiben Sie auf der asphaltierten Straße, bis zur zweiten Abbiegung. Halten Sie sich rechts und schon sind Sie da. Höchsten in zwanzig Minuten. Ach so, geht ja nicht. Meine Frau bringt Sie nach Hause. Und Ihr Auto holen Sie später.“
„Wenn Sie mir den Wagenheber ausleihen, werde ich den Reifen wechseln. Den Weg werden wir dank Ihrer Hilfe, schon finden.
Während Udo den Reifen wechselte, unterhielt sich Nadja angeregt mit der Frau. Am liebsten hätte sie noch lange so sitzen bleiben mögen, aber der Abschied nahte.
Nadja und Udo waren sich einig. Das waren sehr nette, interessante Leute.
„Wir kommen wie versprochen zurück und werden unsere interessanten Gespräche fortführen. Wir wohnen ja nicht weit entfernt. Das wird kein Abschied für immer sein.“