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Das dritte Grab
Die Kirchenglocken hatten schon lange zur Mitternacht geschlagen, als wir den alten Friedhof erreichten. Wir suchten das Grab des Zacharias Greif. Nach jahrelanger, mühsamer Suche, hatten wir vor einigen Monaten endlich den ausschlaggebenden Hinweis in einem alten Kirchenregister gefunden. Während ich im Schein der Laterne versuchte die alten Inschriften auf den Grabsteinen zu entziffern, musste ich an die vergangenen Monate denken.
In ganz Deutschland hatten wir nach Anhaltspunkten gefahndet. Unsere Spurensuche führte uns bis in den Süden Frankreichs und den nördlichsten Zipfel der Niederlande. Zacharias Greif war einer der schillernsten Persönlichkeiten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Er war ein gebildeter Mann, der ganz Europa und einige Teile Asiens bereiste. Doch sein eigentliches Schaffensgebiet lag im Süden Deutschlands, wo er als Berater einiger angesehener Persönlichkeiten und als Alchemist tätig wurde. Wir konnten seinen Weg von Dresden, wo er unter mysteriösen Umständen und im Zusammenhang mit einem tragischen Unfall in der Sakristei „Maria Hilf“ flüchtete, über Paris verfolgen. In Paris beschäftigte er sich mit den Lehren des Magnetismus, erzielte anscheinend beträchtliche Erfolge und stellte unglaubliche Theorien über die Beschaffenheit des Todes an. Die Gründe für sein Abreisen, zwischen 1768 und 1771, sind uns unbekannt und erst 1780 tauchte er in Südbayern wieder auf. In den dunklen Jahren seiner Abwesenheit muss er ein beträchtliches Vermögen angesammelt haben, denn er war in der Lage einen einsam gelegenen Gutshof von enormem Ausmaß zu kaufen. Doch schon nach wenigen Monaten hatte sich Zacharias Greif, durch die absonderlichen Vorkommnisse auf seinem Land und seine blasphemischen Äußerungen im Bezug auf die Allmacht Gottes, höchst unbeliebt gemacht.
Um 1783 tauchten die ersten versteckten Andeutungen auf, dass es auf dem Greifenhof nicht mit rechten Dingen zuging. Zu dieser Zeit muss Zacharias Greif, zumindest in der gemeinen Bevölkerung, schon höchst verhasst gewesen sein. Im Laufe der nächsten Jahre sollte die Abneigung in blanken Hass umschlagen, der dann in jener Nacht im Jahre 1789 gipfelte. Aus den spärlichen Aufzeichnungen alter Tagebücher, oft nicht mehr als die Niederschriften diverser Gerüchte, haben wir annähernd rekonstruieren können, was in diesen Jahren geschah.
Ein dumpfes Stöhnen riss mich aus meinen Gedanken. Sebastian, mein brüderlicher Freund, war über einen Wurzelstrunk gestolpert und erhob sich nun leise fluchend. Wir befanden uns im ältesten Teil des Jahrhunderte alten Friedhofs. Alles wirkte hier ein wenig vernachlässigt. Wurzeln riesiger Kastanien erstreckten sich bis weit in die, vom Gras überwucherten, Wege. Ein wohliger Schauer überkam mich, als ich mich in der uralten Anlage umsah.
Das war es, was wir gesucht hatten. Den unheimlichen, ja morbiden Nervenkitzel, den man nur an Schauplätzen furchtbarer Greultaten, empfinden kann. Als Söhne angesehner Familien hatten wir das Glück unser Leben, dank finanzieller Unabhängigkeit, so zu gestallten, wie es uns gefiel.
Der eigentümliche Duft alter Kerker, dass Betasten rostiger Folterwerkzeuge und das Heraufbeschwören der Leiden, welche die Gemarterten erdulden mussten, verschafften uns einen sinnlichen Rausch, wie man ihn sonst nur durch die Einnahme bestimmter Substanzen erhält.
Während dunkle Wolken über den Himmel rasten und das blasse Licht des Vollmondes allem ein gespenstiges, kränkliches Aussehen verlieh, machten wir uns wieder auf die Suche. Der Wind spielte mit den Wipfeln der Bäume und das beständige Wispern der Blätter begleitete uns wie der erbarmungswürdige Gesang fluchbeladener Seelen.
So, oder so ähnlich, muss es auch in jener verfluchten Nacht im Jahre 1789 gewesen sein, als die aufgebrachten Bauern, unter der Führung des Bischofs Bennedikt Amseln und des Schmiedes Alfons Berner, den Greifenhof stürmten. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich daran denken musste, was die stupiden Bauerntölpel und der weltentrückte Bischof gefunden haben mochten.
Wenn unsere Nachforschungen korrekt waren, dann muss Zacharias Greif seinen „Forschungen“ weiterhin nachgegangen sein. Auf jeden Fall brachte man ihn mit dem Verschwinden zahlreicher Dorfbewohner in Verbindung. Ach, ich kann mir ausmalen, wie es zu diesen Anschuldigungen kam…
Durch ein bekanntes Symbol wurde ich aus meinen Träumereien gerissen. Auf einem verwitterten Grabstein prangte das Zeichen des Bischofsstabes. Da der Stein ansonsten ohne Zierrat war, konnte es nur der Hinweis sein, nachdem wir so lange gesucht hatten. Endlich waren wir unserem Ziel nahe. Doch wir mussten uns beeilen, denn die Nacht schritt unaufhaltsam voran. Schnell maßen wir, den Grabstein als Mittelpunkt nehmend, einen Kreis von zwanzig Metern Durchmesser ab. Innerhalb des Kreises musste sich der nächste Hinweis befinden. Im Licht der Laternen wurden wir schnell fündig. Dieses Mal war es Sebastian der die Symbole von Hammer und Amboss entdeckte. Der Legende nach wurde Zacharias Greif zur Strafe für seine widerwärtigen und gottlosen Taten in ein Gefängnis gebannt, dass von Vertretern der Weltlichen und Geistlichen Macht geschützt wurde. Was lag da näher als die Zeichen eines Bischofs und eines Schmiedes zu nehmen? Die Wahrzeichen der Männer, die ihn zu Fall gebracht hatten? Schnell spannten wir eine Schnur zwischen den beiden Fundorten. Irgendwo auf der so entstandenen Graden musste der letzte Ruheplatz des Zacharias Greif liegen. Sofort begann Sebastian systematisch seinen Spaten entlang der Schnur in den Boden zu rammen, und ich tat es ihm gleich. Nach wenigen Minuten stieß ich auf einen harten Widerstand. Gemeinsam schritten wir den Fundort ab und stießen immer wieder unsere Schaufeln in den Boden. Auf diese Art wollten wir die Größe des gefundenen Objektes messen. Bald hatten wir, anhand der gleichmäßigen Form und der Ausmaße, die Gewissheit, dass sich unter unseren Füßen das Ziel unserer Begierde befand. Aufgeregt machten wir uns an die mühsame Arbeit. Ich bin mir sicher, dass wir beide das gleiche dachten. Wenn ich mir das angespannte, wahnsinnig grinsende Gesicht Sebastians wieder vor Augen führe, weiß ich, dass auch er daran dachte, welch ein Höhepunkt die sterblichen Überreste des verruchten Zacharias Greif für unsere kleine und aufreizend beklemmende Sammlung sein würde.
Nach einiger Zeit hatten wir eine steinerne Platte von zwei mal einen Meter fünfzig freigelegt. Mit den Handflächen reinigten wir sie grob von der Erde und legten eine eingemeißelte Inschrift frei. Im Schein unserer Lampen lasen wir:
„In Gott ist das Leben und das Sterben.
Ewiglich mag das Leben in Gott seyn. Ewiglich soll das Sterben in Gott seyn.“
Grinsend sahen wir uns über die Platte hinweg an. Diese Bauern müssen ihn wirklich gehasst haben, wenn sie ihn sogar über den Tod hinaus verfluchten und seinen Begräbnisplatz vor der Nachwelt versteckten. Der Gedanke an die Furcht, die er dem einfältigen Volk eingeflösst haben musste, trieb mir einige wohlige Schauer über den Rücken.
Die Platte war schwer, doch nach einigen Versuchen gab sie nach und schwang zur Seite. Zu unserer Verwunderung fanden wir jedoch keinen Sarg. Die steinerne Kammer war etwas kleiner als die Abdeckplatte und gänzlich leer. Dafür entdeckten wir zwei eiserne Klammern, die auf dem Boden angebracht und in die Wände mündeten, sowie einige Steigeisen, die aus der Wand, am Fuße des Rechteckes, ragten. Beherzt sprang Sebastian hinunter und schlug mit seinem Spaten auf die Klammern ein. Ein plötzlicher Windstoß, der mir die Haare ins Gesicht wehte, ließ mich zurückzucken. Sebastian stieß eine spitzen Schrei aus- dann war Stille. Mühsam richtete ich mich wieder auf und wollte in die Grube blicken, als der widerliche Gestank, der mir entgegen strömte, mich erneut zurückweichen ließ. Gott, was zur Hölle konnte so einen bestialischen Gestank ausströmen? Leise rief ich nach meinem Freund, bekam jedoch keine Antwort. Nach einigen Minuten war der üble Geruch nicht mehr gar so schlimm und ich beugte mich wieder über den Rand. Im Schein der Laterne konnte ich Sebastian, in verkrümmter Haltung, auf dem Grund einer kleinen Kammer erblicken. Dieser Narr, dass hat er nun davon! Vermutlich hat er sich einige Knochen gebrochen.
Vorsichtig, um nicht das Schicksal meines Freundes zu Teilen, kletterte ich zu ihm hinunter. Übelkeit stieg in mir auf. Je tiefer ich hinunter kam, umso schlimmer wurde der ekelhafte Gestank nach Fäulnis, Moder und Verwesung. Als ich auf den morschen Holzbalken, die den Boden bildeten, stand, musste ich mich keuchend übergeben. Ich war einiges absonderliches gewöhnt, doch der Geruch schien mir die Sinne rauben zu wollen.
Nachdem ich mir mit dem Hemdärmel über den Mund gewischt hatte, kümmerte ich mich um Sebastian. Sein Zustand war schlimmer als erwartet. Sein Atem ging flach und stoßweise und er war ohne Bewusstsein. Überaus vorsichtig tastete ich ihn ab. Als sich seine geborstenen Rückenwirbel unter meinen Fingern bewegten, konnte ich ein entzücktes Keuchen nicht mehr unterdrücken. Der arme Tropf hatte sich das Rückgrad gebrochen.
Ein Rascheln hinter mir ließ mich herum fahren. Im Schein der Laterne konnte ich einen wuchtigen steinernen Tisch erkennen, auf dem ein seltsames, braunes Gebilde lag. Vorsichtig schritt ich näher und konnte mir plötzlich ein lautes Lachen nicht mehr verkneifen, als ich erkannte, was dort festgeschnallt und geschunden lag. Ich lachte, bis mir die Tränen kamen. Gott, was war das herrlich!
Interessiert beugte ich mich über den mumifizierten Körper, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Den Oberkörper hatte man, mit eisernen Klammern, an den Tisch geschmiedet und zusätzlich kurze Stangen, an den unmöglichsten Stellen, durch das Fleisch, in den Tisch, getrieben. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich, dass man ihm spiralförmige, schmale Stäbe durch die Ohren in den Schädeln gebohrt hatte. Doch das kurioseste war das seltsame metallische Gebilde, das man ihm durch den Anus einführte.
Gerade wollte mich erneut ein Lachanfall krümmen, als die lederartige, vertrocknete Hand hochschnellte und mich am Hemd packte. Entsetzt sah ich, wie sich die eingesunkenen Augenlieder hoben und mich wahnsinnige, gelbliche Augen anstarrten. Die Haut, durchsichtig wie Pergament, spannte sich und riss an einigen Stellen, als sich ein Mund voller schwarzer Zähne öffnete. Ein so abartiger, stinkender Brodem entströmte dem vergammelten Rachen, dass mir fast die Sinne schwanden. Als dann eine verwesende Zunge mühsam versuchte Wörter zu formen, die das, seit dreihundert Jahren, sterbende Gehirn schon vergessen hatte, packte ich die poröse Knochenhand und riss sie mitsamt dem Arm aus dem Schultergelenk. Ihr Anblick löste ein Kichern aus, von dem ich mich gar nicht erholen wollte. Doch dann bemerkte ich, dass der vertrocknete Leichnam des Zacharias Greif zu mir sprach.
„ Aaaa…die Magnete…sind die Ewigkeit…es gibt keine Sonne mehr- aahh und auch keinen Gott- nur die Magnete…“, Stöhnend sank der skelettierte Schädel zurück und starrte an die gegenüberliegende Wand. Ich folgte seinem Blick und sah die lebensgroße Zeichnung eines Menschen. Nachdem ich sie mit der Lampe beleuchtete, erkannte ich, dass Zacharias Greif seine Studien so gut wie beendet haben musste, als er in die Hände seiner Häscher viel. Jetzt wurde mir alles klar und ich erinnerte mich…
In New York konnten wir vor einiger Zeit einige Briefe ersteigern, die wir Zacharias Greif zuordneten. Darin beschreibt er einem befreundeten Gelehrten, wie man Sterbende am Leben erhalten kann, indem man ihnen an ganz bestimmten, nur dem Eingeweihten bekannten, Körperstellen magnetische Stangen und Zapfen in den Körper versenkt. Dies diene dazu, um die lebenserhaltenden Körpersäfte in andere Regionen umzuleiten und so eine rasche Genesung herbeizuführen. Natürlich müsse er noch anstrengende Studien durchführen um die Wirkung der Magnete auf die einzelnen Todesarten zu testen –doch in einigen Jahren, so könne er sich vorstellen, sei er in der Lage selbst schwerste Kopfverletzungen zu heilen oder Verhungernde und Verdurstende am Leben zu erhalten.
Die Vorstellung, wie er unter der stupiden bäuerlichen Gemeinde gewütet haben muss, brachte mich zum Lachen.
Der Bischof und der Schmied hatten ihn mit seinen eigenen Studien bestraft. Ich konnte mir ganz genau vorstellen, wie sie ihn, im Schein der Pechfackeln, hier herunterschleppten, der muskulöse Schmied das winselnde Wesen mit eisernen Riemen an den Tisch schmiedete, um ihm dann, mit vereinten Kräften und nach den Zeichnungen des Zacharias Greif, die magnetischen Bolzen in den Körper zu rammen. Zur Zeit der Inquisition war das ein ganz normales kirchliches Verhalten, doch der gute Bischof war vermutlich aus einem anderen Holz geschnitzt als die katholischen Würdenträger damals. Denn entsetzt über ihre eigene Tat, müssen sie fluchtartig das Weite gesucht haben und dabei die Skizze vergessen haben.
Die Vorstellung der Schmerzen und der Schreie verschaffte mir eine fast sexuelle Befriedigung. Unendlich angeregt drehte ich mich zu dem Tisch um und begann langsam, die lebenden Überreste des Zacharias Greif in Stücke zu schlagen. Das Winseln und Heulen, dass aus der vertrockneten Kehle wich, ließ mir vor Glück die Knie weich werden und ich begann ein kleines Liedchen zu pfeifen, während unter meinen Finger Knochen um Knochen zu Staub zerfiel.
Nachdem ich den Tisch von Staub, Knochen und dem anderen Jahrhunderte alten Dreck gereinigt hatte, stellte ich den Schädel des Zacharias Greif so auf, dass er mir bei meiner Arbeit zuschauen konnte, und sammelte dann alle magnetischen Stangen, Zapfen und Stäbe ein. Dann machte ich mich ans Werk…
Der Morgen graute schon, als ich müde und verdreckt, aber auch unglaublich befriedigt, aus der Kammer empor kletterte. Nur oberflächlich beseitigte ich die Spuren unseres nächtlichen Besuches, denn in der folgenden Nacht musste ich wieder kommen. Ich musste Sebastian holen. Ach, mein Sebastian, du erfreust mich nun seit vielen, vielen Jahren…