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Das Dorf
„Verdammt, wir hätten nicht von der vorgegebenen Route abweichen sollen“, sagte Andreas. Er blickte wütend zu Birgit, die auf dem Beifahrersitz die Landkarte studierte und der er insgeheim die Schuld für ihre momentane Lage gab.
„Ich verstehe das nicht“, sagte sie. „Warum hat uns das Navi überhaupt hierhergeführt? Laut Landkarte existiert dieses Dorf gar nicht.“
„Ach nein? Dann ist das hier eine Fata Morgana, oder was?“, blaffte Andreas und stellte das Navi aus. Immerhin hatte es sie schon zum vierten Mal zu dieser Baustelle am Ortsrand geführt. Jeder Versuch einen anderen Weg zu nehmen, endete genau hier. Andreas wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn vor einigen Stunden hatte die Klimaanlage spontan den Geist aufgegeben. Jetzt fühlte es sich im Inneren des Autos an, wie in einem Brutkasten.
„Vielleicht sollten wir in diesem Nest nachfragen, wie wir wieder zur Autobahn gelangen. Was meinst du, Andreas? Außerdem habe ich Hunger und die Kinder ebenfalls.“ Auf der Rückbank fingen Laura und Mika an, ihre Mutter lautstark zu unterstützen.
„Okay, okay“, sagte Andreas genervt. Er startete den Motor und bog in die staubige, von Schlaglöchern übersäte Hauptstraße ein, die den kleinen Ort sorgfältig in zwei Hälften teilte.
Schrumpelige, kleine Häuser säumten die Straße auf beiden Seiten. In den ungepflegten Gärten wucherte das Unkraut teilweise kniehoch. Viele der von der Sonne verbrannten Rasenflächen waren lange nicht mehr gemäht worden. Zwischen einem knorrigen Baum und einer dreckigen Hauswand war eine Wäscheleine gespannt, an der einige Unterhosen und Socken wie vergessene Geister in der schwülen Sommerbrise schaukelten.
Trotzdem schien der Ort wie ausgestorben. Keine einzige Menschenseele war zu sehen. Nachdem sie die Ortsmitte erreicht hatten, steuerte Andreas den Wagen an den Straßenrand und stoppte. Birgit sah ihren Mann unsicher an.
„Ich glaube nicht, dass wir in diesem Kaff zu essen bekommen. Mir gefällt es hier nicht. Es ist unheimlich … wie in einer Geisterstadt.“
„Ich werde mich trotzdem ein wenig umsehen. Irgendwer muss ja hier sein. Ich bin gleich zurück“, sagte Andreas und stieg aus. Er überquerte die ungepflasterte Straße und marschierte zu einem Gebäude, das wie eine Kneipe aussah. Die Tür war verschlossen und als er durch eines der schmutzigen Fenster blickte, sah er nichts weiter als eine verwaiste Theke mit einigen Barhockern davor und ein paar kleine Tische in einer Nische. Niemand befand sich in dem Gebäude.
Andreas ging weiter und überblickte den Ort, dessen Namen er nicht kannte, da er kein Ortsschild besaß und der nur aus dieser einen Straße zu bestehen schien. Er fühlte sich dabei unwohl, so als wären viele Augen auf ihn gerichtet, die ihn aufmerksam musterten.
Vor einer großen Holzscheune blieb er schließlich stehen. Ihr Tor stand ein Stück weit offen und aus einem Impuls heraus blickte er hinein. Zuerst war es zu dunkel um etwas zu erkennen. Es fehlten die Fenster, die ein wenig Licht hineingelassen hätten. Dann gewöhnten sich seine Augen an die ungewohnten Lichtverhältnisse und er erkannte zu seinem eigenen Erstaunen etwa ein Dutzend neue Autos. Die Hälfte davon mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
„Birgit, komm mal eben her. Das musst du dir ansehen“, rief er über die Straße. Birgit stieg aus und kam in ihrem kurzen Kleid zu ihm gelaufen.
„Was ist?“, fragte sie, als sie Andreas erreicht hatte.
„Das ist wirklich merkwürdig“, sagte er. „Hier drinnen stehen teure Autos; vom BMW bis zum Porsche. Die passen so gar nicht zum restlichen Ort.“
„Und warum stehen die in dieser Scheune?“, fragte Birgit. Andreas zuckte mit den Schultern.
„Das soll uns egal sein. Wir holen die Kinder und sehen uns weiter um.“
Doch als sie beim Wagen ankamen, standen die Türen offen und die Kinder waren verschwunden.
„Das gibt es doch nicht. Bis vor zwei Minuten saßen sie noch brav auf ihren Plätzen“, sagte Birgit.
„Die können nicht weit sein“, sagte Andreas und blickte angestrengt die Straße hinunter, die gerade ein abgemagerter Hund mit eingezogenem Schwanz überquerte. Langsam setzten sie sich in Bewegung; Birgit auf der rechten Straßenseite, Andreas auf der Linken.
Sie riefen die Namen der Kinder und blickten in die Gärten der Häuser. Doch sie erhielten keine Antwort. Nirgendwo sahen sie eine Spur von ihnen. Irgendwann blieben sie stehen und blickten sich achselzuckend an.
Die Mittagssonne brannte und ein laues Lüftchen wirbelte einiges an Staub auf der Straße auf. Ansonsten tat sich nichts. Und doch war da dieses Gefühl, von dutzenden Augen eindringlich studiert zu werden.
Plötzlich hörte Birgit seltsame Geräusche, die von einer alten Wellblechhütte herzukommen schienen. Als sie an der linken Seite der Hütte, in der einige Gartengeräte und zwei verstaubte Fahrräder standen, vorbeispähte, erblickte sie eine Gruppe dunkler Krähen, die sich im vertrockneten Gras um einen hellen Gegenstand balgten.
„Mein Gott, was ist das denn? Das gibt`s doch nicht“, schrie Andreas, der durch ein Fenster in eines der baufälligen Häuser blickte. „Biggi, komm mal her. Das musst du dir ansehen … unglaublich.“
In dem Augenblick schrie Birgit. Sie verscheuchte die Krähen und nahm den Gegenstand, an dem die Vögel mit ihren Schnäbeln herumgezerrt hatten, in die Hand.
„Andreas, komm rüber, ich muss dir was zeigen … schnell. Es ist wichtig“, rief sie hysterisch. Andreas, der ihr eigentlich selber was zeigen wollte, rannte über die Straße und stellte sich zu seiner Frau.
„Was ist, ich habe da drüben …“, maulte er. Doch als er sah, was Birgit in der Hand hielt, blieben ihm die restlichen Worte im Halse stecken. Birgit zeigte ihm die blutverschmierte Schirmmütze ihres Sohnes. Ein langer Riss verlief über die obere Naht.
„Was ist hier los?“, fragte er entsetzt. „Auf der anderen Straßenseite habe ich durch ein Fenster eine Frau und ein junges Mädchen gesehen. Sie trugen beide Hundehalsbänder und waren mit einer langen Leine an ein Bett gefesselt.“
Dann marschierte er ohne ein weiteres Wort an seiner Frau vorbei hinter die Hütte.
„Wo willst du hin?“, fragte sie und folgte ihm.
Hinter der Hütte waren zwei alte Männer dabei ein Loch auszuheben. Ein etwa zwölfjähriger, schwachsinnig wirkender Junge schaufelte gerade ein kleineres zu. Als die Alten Birgit in ihrem Sommerkleid erblickten, grinsten sie zahnlos.
„Hören Sie…“, begann einer der beiden, „…wir wissen nicht warum, aber in unserem Dorf werden keine Mädchen geboren. Seit Jahrzehnten nicht mehr. Wenn eine Frau hierher heiratet, stirbt sie sehr schnell. Es scheint, als mag dieses Dorf keine Frauen. Also müssen wir sie … sagen wir mal … importieren.“
„Sie sind auch nicht von schlechten Eltern, Lady“, sagte der andere strahlend. Jetzt grinste auch der Junge schief.
Andreas hörte hinter sich Geräusche und als er sich umblickte, sah er etwa hundert Menschen auf der Straße stehen, die sie alle anglotzten. Es waren fast nur männliche Personen; von Kindern bis Greisen. Bis auf ein Mädchen, das sie in die Mitte genommen hatten: Laura.
Birgit starrte immer noch auf die blutige Mütze.
„Wo ist er?“, fragte sie. Ohne ihre langen Beine aus den Augen zu lassen, sagte der Alte: „Wie gesagt, wir brauchen nur Weibchen.“
Birgit starrte auf das zugeschaufelte Loch und schrie.
„Papa“, sagte Laura und streckte ihm ängstlich ihre Hand entgegen. Andreas gelangte nur einen Schritt auf sie zu, dann sprang der Junge blitzschnell mit seiner Schaufel vor und schlug ihn von hinten nieder.
Halb bewusstlos spürte er, wie ihn jemand an seinen Füßen über den trockenen Boden schleifte und ihn dann grob in das Loch warf. Benommen und unfähig sich zu bewegen, sah er, wie die Meute seiner Frau und seiner Tochter Halsbänder anlegten und sie dann wegschleppten.
Er wollte ihnen zurufen, sie sollten schnell verschwinden, doch seine Zunge schien an seinem Gaumen festgenagelt zu sein. Er hörte sein Auto aufheulen und dachte, dass sie es ebenfalls in der Scheune verstecken würden; damit sie niemals gefunden werden.
Er spürte die brennende Sonne auf seiner Haut und den brummenden Schmerz in seinem Schädel. Er sah eine dünne Wolke am ansonsten völlig blauen Himmel. Er sah das grinsende Gesicht des Jungen über sich. Und er spürte, wie der schwachsinnige Junge anfing, Erde in sein Grab zu schaufeln. Schaufel für Schaufel und fröhlich pfeifend verschloss er das Loch.