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Das Buch auf der Parkbank
Jean-Pierre begann ein Buch zu lesen, das auf einer Parkbank lag. Er nahm es mit, da niemand erschien, der es vermisste. Es weckte ihm die Erinnerung an eine eigene Reisegeschichte, welche er vor fünf Jahren erfolglos Verlegern anbot. Eigentlich war es nicht seine Geschichte, er zeichnete sie anhand der Erzählungen seines Vaters auf. Dieser war, bevor er Jean-Pierres Mutter kennenlernte, einmal durch die Toscana gereist und arbeitete zwischendurch im Tagelohn für Weinbauern, obwohl dies nicht sein Beruf war. Die Erlebnisse seines Vaters faszinierten ihn als Jugendlichen sehr. Sein Vater versprach ihm, diese Reise einmal mit ihm zu wiederholen. Leider kam es nicht mehr dazu, da dieser schwer erkrankte und bald starb. Selbst trat er die Reise nie an, lieh sich aber in der Bibliothek Bücher über die Toscana aus. Anhand von Fotografien in den Büchern konnte er die Erlebnisse seines Vaters noch besser nachvollziehen und sie festhalten.
Auf dem Titelblatt war eine südliche Landschaft mit Blick auf das Meer abgebildet, über der »Nathalie Déon« und »Fahrt durch die Provence« aufgedruckt war. Gemäss der Zusammenfassung auf der Rückseite hatte die Autorin, welche in Paris lebt, ihre eigentümlichen Erlebnisse bei einer Reise durch Südfrankreich darin festgehalten.
Jean-Pierre hatte bereits etliche Seiten gelesen, als er stutzte. Déon berichtete von einem aufkommenden Gewitter. Einer der Erntehelfer blickte besorgt zum Himmel, der immer düsterer wurde. In der Nähe vom Meer trat der Regen oft sintflutartig auf. Plötzlich erhellte ein Blitz die Landschaft, unmittelbar von einem schaurigen Donnergrollen gefolgt. Der Blitz schlug in einen alten Olivenbaum ein, der nicht allzu weit entfernt stand, und teilte ihn. Es war ein Glücksfall, dass nicht einer der Erntehelfer getroffen wurde. Diese packten schnell ihre Sachen und eilten zu ihren Autos.
Diese Episode hatte er geschrieben. Nicht wörtlich gleich, doch in der Schilderung übereinstimmend. Sein Vater hatte dies selbst erlebt. Er begann, die Seiten überfliegend zu lesen. Die Orts- und Personennamen waren anders, aber in einigen Teilen entdeckte er ihm bekannte Übereinstimmungen von Erlebnissen.
Da war auch diese unheimliche Nacht. Sie schilderte die Übernachtung in einem kleinen Gebäude, welches mit der Rückwand am Hang angebaut war. Mitten in der Nacht hörte sie Geräusche auf dem Dach. Es war ein Trippeln und Rascheln, als ob jemand darüber huschte. Sie war sehr erschrocken gewesen und zog sich die Decke über den Kopf, damit rechnend, dass Einbrecher eindringen würden. Erst am nächsten Tag erfuhr sie vom Vermieter, dass es Ratten gewesen sein mussten, die sie hörte. Auch dieses Erlebnis hatte sein Vater ihm erzählt, jedoch etwas anders ausgeschmückt.
Beim Weitersuchen stiess er auf das Ereignis vom Erntefest. Der Gutsbesitzer hatte alle Erntehelfer, aber auch Nachbarn und Freunde zu einem grossen Fest eingeladen. Der Sohn des Gutsbesitzers hatte dies zum Anlass genommen, sich zu verloben. Auf dem Höhepunkt des Festes sahen sie in der Nacht plötzlich weit entfernt einen hellen Feuerschein. Bei einem Nachbarhof brannte ein Gebäude. Alle eilten sofort dorthin, um zu helfen.
Er stellte noch weitere Übereinstimmungen fest, wie etwa das Missgeschick des alten Landstreichers, der sich versehentlich selbst in einer Vorratskammer einschloss, in die er eingebrochen war. Oder auch die merkwürdige Geschichte mit den Rosen auf dem Grab des ehemaligen Dorfwirtes, der keine Angehörigen hatte. Niemand im Dorf wusste, wer von Zeit zu Zeit die Rosen dorthin legte. Es wurde aber über eine Romanze aus der Jugend des Wirts spekuliert, deren Blüten nun verspätet wieder trieben.
Einige Erlebnisse waren ihm nicht bekannt, die Autorin musste diese selbst hinzugefügt haben. Er war nun aber sicher, dass das Buch weitgehend nach seinem damals eingereichten Manuskript verfasst worden war. Man hatte zwar vieles umgeschrieben, und die Geschichten von Italien nach Frankreich verlegt, aber ebenso in eine mediterrane Umgebung.
Im Wandschrank begann er nach seinem Manuskript zu suchen. Es war eine indirekte Erbschaft seines Vaters. Unter den Papieren war nichts. Die Absagebriefe der Verlage, welchen er das Manuskript einreichte, waren vielleicht auch noch vorhanden. Doch darüber war er sich nicht mehr ganz sicher. Er war damals sehr enttäuscht gewesen, über die kurz formulierten Abweisungen. Wenn ein Brief des Verlags dabei war, der das Buch von Déon editierte, hätte er ein Beweisstück, das sie sein Werk missbrauchten. Obwohl er die ganze Wohnung auf den Kopf stellte, fand er nichts.
Auf dem Dachboden hatte er ein Abteil, in dem er nicht mehr verwendete Sachen verwahrte. Es war inzwischen zwar schon später Abend, doch er ging auch dorthin, um nachzusehen. In zwei Schachteln waren ausgetragene Kleider. Ein Koffer, der schwer war, enthielt Bücher, deren Vorhandensein er schon vergessen hatte. Er nahm Band um Band heraus, sich an die Inhalte erinnernd. Zuunterst stiess er auf sein Manuskript, welches in einen Schnellhefter eingebunden war.
Seite um Seite überflog er seine Aufzeichnungen. Zu jeder Episode, die er auch im Buch der Déon gefunden hatte, mit dem Bleistift jeweils ein bestätigendes Häkchen notierend. Er war sehr aufgeregt, da er nun einen Beweis für wesentliche Übereinstimmungen hatte, auch wenn die Absagebriefe nicht mehr vorlagen.
An Einschlafen war nicht zu denken, nervös blätterte in den Seiten. Die Erinnerung daran, wie er sich die Personen und Örtlichkeiten damals vorstellte, immer wieder Änderungen daran vornahm, da ihm Eigenheiten zu ungenau waren, war wieder gegenwärtig. Er wollte sich nun genau überlegen, welche Schritte er unternehmen musste und was er fordern sollte. Am angemessensten schien ihm, man würde richtigstellend sein Manuskript als Buch veröffentlichen.
In den frühen Morgenstunden, er war doch noch eingeschlafen, schreckte er auf. Draussen war es noch Dunkel. Im Schlaf war ihm ein Gedanke gekommen, der ihn bestürzte. Er griff zu seinem Manuskript und dem Buch der Déon. Im Buch fand er schnell die Geschichte der Rosen. Nun blätterte er hastig in seinem Manuskript. Noch ein zweites Mal begann er es von vorn durchzusehen, diese Begebenheit fehlte. Zur Sicherheit schaute er sich die Seitenzahlen in seinem Manuskript an, sie waren durchgehend. Erneut griff er zum Buch der Déon, sich darauf konzentrierend, welche Inhalte er von seinem Vater kannte und kennzeichnete sie nummerierend. Alsdann nummerierte er auch im Manuskript die mit Häkchen bezeichneten Geschichten. Er fühlte sich erleichtert, alle Geschichten im Manuskript waren mit einer Zahl versehen. Als er das Buch erneut durchblätterte, stellte er verwirrt fest, dass dort höhere Zahlen vorhanden waren als in seinem Manuskript. Er begann, die markierten Erzählungen miteinander zu vergleichen. Nicht nur die Begebenheit mit den Rosen fehlte in seinem Manuskript, auch die Sache mit dem Sonnenbrand war darin nicht vorhanden, ebenso die Erfahrung mit dem abgestandenen Wasser im Brunnenschacht. Ihm wurde unwohl. Es waren Erzählungen seines Vaters, doch er hatte diese damals nicht aufgeführt.
Lange brütete er darüber nach und verglich nochmals alles. Es gab keine andere Lösung. Mit zittrigen Händen blätterte er die ersten Seiten des Buches um, bis zum Impressum. Es war vor einem Jahr in einer Neuauflage erschienen, doch die Erstausgabe datierte etliches vor der Zeit, als sein Vater ihm seine Geschichten zu erzählen begann.
Jean-Pierre fühlte sich Elend, seine Gefühle schwankten zwischen Enttäuschung und Zorn. Alles deutete darauf hin, dass sein Vater die Geschichten im Buch von Nathalie Déon gelesen, und diese ihm als angeblich eigenes Erleben während seiner Reise durch die Toscana schilderte. Doch sagte er dies wirklich so? Waren seine Formulierungen nicht neutral gewesen, sodass die Episoden auch jemand anders erlebt haben könnte? Sein Zorn wandelte sich in Zweifel, die Idealisierung seines Vaters musste ihm einen Streich gespielt haben. Es wäre wohl ein Plagiat gewesen, hätte ein Verlag sein Manuskript als Buch gedruckt.
Das Manuskript gab er noch am gleichen Tag in eine Buchbinderei, um es mit einem wertvollen Einband zu versehen. Er fühlte sich wieder versöhnt mit seinem Vater und sah es als Abbitte, indem er dessen Nacherzählungen in dieser Form als Erinnerung bewahren wollte.