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Das Blumenmädchen
Für Blumen hatte er sich nie interessiert.
Aber dann begann Lidias Kaktus schwarz zu werden. Im Blumenladen stellte er den Kaktus auf die Theke.
„Das sieht nicht gut aus“, sagte das Mädchen und drehte den Kaktus vor ihren Augen. „Da haben Sie ihm wahrscheinlich zu viel Wasser gegeben. Da verfaulen dann die Wurzeln, die Fäule breitet sich aus, kriecht den Stamm hoch und ...“
Er hörte nur halb zu. Das Mädchen trug ein enges, schwarzes Kleid, armfrei, tiefer Ausschnitt. Eine Falte lag auf ihrer Stirn, Fältchen um die leicht zusammengekniffenen Augen. Ihre Haut war gebräunt, das Haar blond, unter den Fingernägeln klebte Erde.
„Also“, sagte das Mädchen und stellte den Kaktus zurück auf die Theke. „Da ist nichts mehr zu machen.Tut mir leid.“
„Danke“, sagte er. „Danke für Ihre Hilfe.“
„Gern geschehen“, sagte das Mädchen lächelnd und zeigte eine leichte Lücke zwischen ihren Schneidezähnen.
„Tschüss“, sagte er. „Und noch mal danke.“
Er verließ den Laden und warf den Kaktus im Vorbeigehen in den Mülleimer. Lidias Kaktus, den er ertränkt hatte. Aber er dachte nicht an Lidia, er dachte überhaupt weniger an Lidia als früher, er dachte an das Blumenmädchen.
Zwei Tage später betrat er wieder den Blumenladen. Das Blumenmädchen lächelte ihn an, ohne ihn zu erkennen, glaubte er zumindest. Er stellte sich vor ein Regal und betrachtete die bunten Topfpflanzen. Es roch gut in dem Laden, das war ihm beim ersten Mal gar nicht aufgefallen. Die Düfte, das Bunte, die Blumen, die Erde, die Töpfe und das Blumenmädchen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, hörte er hinter sich die Stimme, deren Klang ihm schon vertraut vorkam.
„Ich seh mich nur um“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
„Fein“, sagte das Blumenmädchen. „Melden Sie sich einfach, wenn Sie etwas brauchen.“
Er lauschte ihren Schritten nach, die sich entfernten, ihm dabei aber ganz nah ans Ohr traten. Die Schritte verstummten.
„Ach, wissen Sie“, drehte er sich um und blickte in Richtung des Blumenmädchens. „Wissen Sie ...“
„Ja?“ Heute trug sie ein hellblaues Kleid. Ihre Waden waren dicker, als er sich vorgestellt hatte. Aber die Füße in den Sandalen schmal und süß, rot lackierte Zehennägel. „Ja?“, sagte das Blumenmädchen noch mal, als es vor ihm stand.
„Rosen“, sagte er.
„Rosen?“
„Ja, ich bin auf der Suche nach Rosen.“
„Welche Farbe?“
„Rot.“
„Rote Rosen also“, sagte das Blumenmädchen und lächelte. Die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen war immer noch da. „Für die Frau?“
„Für mich“, sagte er und kratzte sich an der Schläfe. „Ich meine, für mich, damit ich sie jemandem schenken kann.“
„Wie viele?“
„Rosen?“
„Ja, ein Strauss, oder ...“, sagte das Blumenmädchen und zog ihr Knie an, um sich an der Wade zu kratzen. Dabei rutschte ihr die Sandale vom Fuß, aber nur ein wenig. „Weiße Dahlien beispielsweise, die machen sich wunderbar mit roten Rosen im Strauss.“
„Aha.“
„Und dazu gelbe Nelken.“
„Gelb find ich gut.“
„Hören Sie mal“, sagte das Blumenmädchen. „Ich stell Ihnen einen Strauss zusammen, der lässt das Herz ihrer Liebsten ...“, sie unterbrach sich kurz. „Oder ihres ...“
„Meiner Liebsten“, sagte er.
„Übergehen vor Freude. Ich verspreche Ihnen“, sie zupfte sich am Ohrläppchen. „Nein, ich garantiere Ihnen Romantik pur für einen Abend.“ Sie schnippte die Nägel von Daumen und Mittelfinger der einen Hand gegeneinander. „Mehr ist leider nicht drin. Kostet aber nur fünfundzwanzig, und weil es Sie sind, gehe ich auf zwanzig Euro runter.“
„Ich nehm den Strauss“, sagte er und zwinkerte. „Für fünfundzwanzig.“
Das Blumenmädchen riss den Mund auf und lachte. Er sah ihre zuckende Zunge darin. Ihr Gesicht schien zu leuchten. Wie alt mochte sie sein? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Achtzehn? Zu Hause stellte er den Blumenstrauß in ein Wasserglas.
Die nächsten Wochen kaufte er regelmäßig in dem Blumenladen ein. Vor seinen Einkäufen schlug er im Lexikon nach. Er kaufte Tulpen, Begonien, Gladiolen, Sonnenblumen, Nelken, Lilien, Orchideen, Petunien, Dahlien und Margeriten. Ausschließlich Schnittblumen, denen er beim Welken zusehen konnte.
„Ah, der Blumenliebhaber“, begrüsste ihn das Blumenmädchen. Er sah sich im Laden um, wieder war er der einzige Kunde. Der Laden schien nicht gerade zu florieren. „Was darf es denn heute sein?“
„Ich ...“
„Ich seh mich erst einmal um“, lachte das Blumenmädchen. „Ich weiss schon. Nur zu.“ Ihre Augen strahlten ihn an, blau waren sie, die Augen, wie Herbstenzian.
„Nein, heute nicht“, sagte er. „Heute weiss ich schon, was ich will.“
„Also?“
„Ein Strauss aus weißen, roten und gelben Lilien“, sagte er und kratzte sich hinter dem Ohr. „Ein Strauss aus Lilien in allen Farben.“
„In allen Farben also“, sagte das Blumenmädchen. „Was darf es kosten?“
Er legte fünfzig Euro auf die Theke. „Das hier.“
Das Blumenmädchen krallte sich den Schein und ließ ihn in der Kasse verschwinden. Ihre Backen waren leicht gerötet danach, wie immer, wenn sie viel Geld in die Kasse gesteckt hatte. „Dafür mache ich Ihnen den prächtigsten Strauss, den Sie je gesehen haben. Sie werden staunen.“
„Ich weiss“, sagte er.
„Ihre Geliebte kann sich wirklich glücklich schätzen. So ein Mann wie Sie.“
„Danke.“
Das Blumenmädchen verschwand im hinteren Teil des Ladens. Er holte die Geschenkkarte aus der Jackentasche, las mehrmals durch, was er darauf geschrieben hatte und legte sie zugeklappt auf die Theke.
„Na, was sagen Sie dazu?“, sagte das Blumenmädchen dann, den Strauss hochhaltend.
„Wunderschön“, sagte er.
„Ich bin selbst stolz auf mich. Aber für fünfzig Euro darf man ja auch liebevolle Arbeit erwarten, nicht wahr?“ Sie zwinkerte ihm zu, brach dann in ihr lautes Lachen aus, und er sah ihren Kehlkopf an, der hoch und runter hüpfte.
Sie reichte ihm den Blumenstrauss, er nahm ihn entgegen, steckte die Karte zwischen die Blumen und reichte ihr den Strauss zurück.
„Stimmt was nicht?“, fragte das Blumenmädchen.
„Für Sie.“
„Hm?“
„Der Strauss ist für Sie“, sagte er und blickte dem Blumenmädchen fest in die Augen. „Ein Geschenk.“
„Für mich?“
„Ja.“
„Aber ...“, sagte das Blumenmädchen. Ihr Blick pendelte zwischen dem Blumenstrauss und ihm hin und her. „Wollen Sie mich verarschen?“
„Nein.“
„Aber ...“, sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Warum?“
„Lesen Sie die Karte.“
Dann verliess er den Laden.
Drei Tage später öffnete er wieder die Tür, die ein Glöckchen bimmeln liess.
„Ah, sie sind es“, sagte das Blumenmädchen und tippte sich mit dem Zeigefinger viermal auf die Lippen. „Peter, richtig?“
„Sie haben die Karte also gelesen?“
„Klar hab ich das.“
„Und?“
„Erst mal heiße ich nicht Blumenmädchen“, sagte das Blumenmädchen. „Ich bin zwar wunderschön, aber ich heiße Marlene, klar?“
„Klar, Marlene.“
„Fein, Peter. Dann sag mal. Woher wusstest du, dass ich Lilien mag?“
„Du hast mir davon erzählt.“
„Ich rede wohl etwas viel bei der Arbeit, was?“
„Nein, gar nicht. Ich finde, du redest genau die richtige Menge.“
Marlene lachte kurz auf und warf ihre Haare über die Schultern zurück. „Natürlich findest du das, Peter, du findest mich ja auch perfekt, so wie ich bin, nicht?“
„Ja.“
„Und wunderschön? Wunderschön in meiner Natürlichkeit?“
„Ja.“
„Und wie findest du meine Brüste? Meinen Arsch?“
„Hm?“, Peter stutzte.
„War nur Spass“, lächelte Marlene. „Ich weiss ja, dass du mich ehrlich und aufrichtig und – wahrhaftig, oder? Wahrhaftig liebst.“
„Ja.“
„Das schmeichelt mir, ehrlich“, sagte Marlene und machte nebenbei etwas mit ihren Fingern, das Peter nicht sah, da sein Blick an ihren Lippen hing. „Es ist nur so. Also ich finde, du bist schon etwas zu alt für mich, oder?“
„Ich bin achtunddreissig.“
„Eben. Du bist alt. Es ist komisch für mich, wenn du ...“
„Soll ich gehen?“, unterbrach Peter.
„Das habe ich nicht gesagt. Ich mag dich ja, irgendwie. Es ist nur so.“ Sie wuschelte sich durch die Haare und ließ ihre Hand dann auf dem Hinterkopf liegen. Sie rasierte sich die Achseln, aber das wusste Peter schon. „Ich brauche Zeit - ich bin nicht so spontan, wie du meinst. Und ja, ich will erobert werden. Ich kann dir nichts versprechen, du bist doch schon sehr alt, aber ich erlaube dir, dass du mir weiterhin Blumen schenken darfst. Und vielleicht ...“
Peter legte fünfzig Euro auf die Theke.
„Lilien?“, fragte Marlene.
„Lilien“, sagte Peter.
Zehn Lilientage später wechselte der Geschmack von Marlene. Es folgten zwölf Gladiolentage. Am dreizehnten Gladiolentag fragte Marlene nebenbei: „Bist du reich?“
„Reich nicht, aber ...“
„Also kein Millionär, oder so?“
„Nein, das nicht.“
Es folgten die Rosentage, siebzehn an der Zahl. „Die Rosen sehen etwas welk aus, oder?, fragte Peter dann.
„Findest du?“, sagte Marlene und errötete leicht. „Hab ich aber vorhin erst frisch gemacht, den Strauss.“
„Nein, hast du nicht“, sagte Peter und fischte seine Karte von gestern zwischen den Blumen heraus.
„Ich habs mir überlegt“, sagte Marlene. „Du darfst mich zum Essen einladen. Chinesisch. Ich hab voll Bock auf Chinesisch. Hol mich gegen acht vor dem Laden ab, ja?“
Nach dem Schnaps auf vollen Magen, tischte Marlene die Geschichte auf.
„Das tut mir leid“, sagte Peter. „Ich wusste ja nicht.“ Er holte kurz Luft. „Und die Beerdigung ist morgen?“
Zweihundertfünfzig Euro kostete der Kranz.
„Ist schön geworden“, sagte Peter am nächsten Tag im Blumenladen. „Du bist wirklich geschickt.“
„Danke“, sagte Marlene.
„Wenn ich dich zur Beerdigung begleiten soll, dann sag es einfach.“
„Nein, ich schaff das alleine.“
„Trotzdem, ruf mich an, wenn du was brauchst. Ich bin für dich da. Das weisst du, oder?
„Ich weiss.“
Es folgten sieben Orchideentage, dann starb Marlenes Tante. Danach vierzehn Orchideentage und fünfzehn Lilientage. Am driiten Tag der Nelke, sagte Marlene: „Ich sag es nur ungern, aber irgendwie bin ich dir das schuldig, außerdem bist du der treueste Kunde ...“
„Kunde?“
„Ja, Kunde, was sonst?“, sagte Marlene und fuhr sich durch die Haare. „In zwei Wochen machen wir dicht. Dann war es das mit Irmi's Blumenladen.“
„Ich bin also nur ein Kunde für dich?“
„Oh Gott hey, ihr Männer denkt doch auch immer nur an euch selbst, oder?“
„Nein, nein“, sagte Peter. „Ich nicht, ich ...“
„In zwei Wochen ist jedenfalls der Laden dicht.“
„Und ...“, fing Peter an und kraulte sich hinter dem Ohr, bis ihm eine Frage einfiel. „Wer ist eigentlich Irmi?“
„Irmgard ist meine Mutter. Sie ist dement, weisst du. Dabei ist sie erst neunundvierzig. Also nur zehn Jahre älter als du.“
„Und jetzt?“
„Ist sie im Heim. Ich hab den Laden übernommen. Aber du siehst ja, nichts los hier. Keiner will mehr Blumen kaufen.“
„Ich schon.“
„Ja, weil du mich liebst.“ Marlenes Augen funkelten ihn an, ihr Blick war giftig wie blauer Eisenhut.
Er verließ den Laden. Keine Selbstmordgedanken, nur Ruhe, sagte er zu seiner Ärztin. Acht Wodkatage später stand er wieder in dem Blumenladen und klatschte die Hunderter auf die Theke.
„Was willst du?“
„Deine Rose.“
„Eine Rose“, sagte das Blumenmädchen und wollte die Scheine einsacken, aber er knallte seine Faust auf die Theke, und ihre Hand zuckte weg.
„Nein, nicht eine Rose. Deine Rose.“
„Du bist besoffen.“
„Und?“, sagte er und wuchtete seine Ellenbogen auf die Theke. „Ich liebe dich trotzdem.“
„Hau ab!“
„Sind tausend Euro da, zähl nach.“
Das Glöckchen bimmelte, ein älterer Herr humpelte in den Laden. „Hallo Marlene“, jodelte der Herr fast.
„Ach, der Herr Richter“, flötete das Blumenmädchen zurück. Sie sprang hinter der Theke hervor, es gab ein Küsschen links, ein Küsschen rechts. „Sie sehen gut aus, Herr Richter.“
„Ach was, ich seh nicht mehr gut aus. Sie dafür aber umso mehr, Fräulein Marlene“, sagte der ältere Herr und im nächsten Moment bekam sein Gesicht diesen betroffenen Ausdruck, den nur alte Menschen überzeugend hinbekommen. „Es ist ja wirklich bedauerlich. Ich habe gehört, ihr Laden schliesst.“
„Keiner will mehr Blumen kaufen.“
„Ich schon“, sagte der ältere Herr und reckte sein Kinn in die Höhe. „Jetzt, hier, und gleich sofort. Einen Strauss Rosen, bitte.“
„Sie müssen ihre Frau wirklich geliebt haben.“
„Ich besuche sie j-e-d-e-n Tag auf dem Friedhof.“
Der ältere Herr stellte sich neben Peter an die Theke. Beide warteten darauf, dass Marlene ihnen die Rosen brachte.