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Das blaue Kornblumenfeld
Der Wind pfeift und grollt. Er kommt vom Meer. Von dem tiefen, dunklen, blau glänzend und funkelnden Gewässer. Ritterlich reitet er über die unaufhaltsamen Wellen. Im letzten Moment fliegt er davon. Genau dann, wenn die weiss schäumende Gischt auf die scharfen und spitzen Klippen trifft und dort bitterlich zerbricht. Wenn tausende Wasserperlen verrückt durch die Luft tanzen. Wenn das Meer sich fluchend und wild kreischend zurück zieht.
Dann fliegt er davon. Streift über das ruppige Gestein. Wirbelt feinen hellen Sand auf und fliegt davon. Er saust über rote Dächer. Weht durch Gassen und Strassen. Erklimmt steile Felswände und rutscht auf ihren runden Buckeln herab. Kämpft sich durch kahle Eislandschaften und ringelt sich um hohe Bergspitzen. Er schaukelt über smaragdgrüne Seen und Flüsse und saugt den Duft von frischem Fischfleisch in sich auf.
Er zieht weiter, über trostlose graue Betonbauten und kleine einfache Hütten.
Streichelt über sattgrüne Hügel und bunte Wiesen. Schelmisch wie ein Kind, schleicht er durch einen grossen dunklen Wald und lässt die schweren, alten und knorrigen Äste stöhnen. Braust durch die hohen Baumwipfel und Kronen.
Wild und Kräftig zieht er an den Bäumen. Türmt sich auf und kracht scheppernd auf die Erde nieder. Schleudert wütend Laub und Stöcke in die Höhe und lässt die Luft erzittern. Rennt über Lichtungen und Feldwege. Zischt schreiend durch Büsche und Dornenhecken. Aber auf Zorn folgt Leid. Ein Schauer ergiesst sich über das Land.
Doch ihm ist es egal. Er dreht sich um und wirft keinen Blick mehr zurück. Er rauscht vorbei. Zieht über stinkende Höfe und rauchende Fabriken. Die Rohre ragen wie Zahnstocher in den Himmel. Fettige dunkle Wolken quellen aus ihnen hervor. Sie kleben wie frischer Schneckenschleim.
Aber er lässt sich nicht stören, fliegt immer weiter, nichts scheint ihn aufhalten zu können. Und doch wird er schwächer.
Denn auch er wird einmal enden. In einem blauen Kornblumenfeld. Dort wird er die Blumen und das Gras sanft schaukeln lassen. Liebevoll werden sie seinen ruhigen Walzer tanzen. Dort wird er enden, im blauen Kornblumenfeld. Zwischen den blauen Blüten und den struppigen Gräsern.
Weit weg vom Meer, eine lange Reise hinter sich. Im blauen Kornblumenfeld. Zwischen geschmeidigen Faltern und plumpen Hummeln, dicken Käfern und zierlichen Spinnen. Am Ende der Welt.
Im blauen Kornblumenfeld.
Ja, dort wird er enden.