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Das blaue Dings
Aufgeregt lief Gustav um dieses neue Gebäude herum.
Gleich dreimal.
Er hatte es entdeckt und wer es findet, darf es auch behalten – weiß doch jeder!
Er umrundete es ein viertes Mal. Einmal im Leben hatte er etwas besonderes und nicht dieser doofe Rafael!
Bei der fünften Runde ahnte er schon, dass irgendetwas nicht stimmte.
Beim sechsten Mal war er sich sicher: dieses Gebäude hatte keinen Eingang, kein Fenster, kein gar nichts.
Er lief noch ein siebtes Mal um dieses hellblaue Dings ohne Öffnung, das mitten auf seiner Wiese gelandet war.
Gustav setze sich auf einen Stein und schlug zwei seiner Beine übereinander.“Pfff! War ja klar!“ maulte er leise. „Da hab ich einmal Glück und dann so was!“
Er streckte seine Fühler und schmollte.
Ganz langsam nistete sich Wut in seinem Bauch ein.
Bestimmt steckte wieder Rafael dahinter!
„Rafael,“ motzte er mit gerümpften Mandibeln vor sich hin, „wie das schon klingt! Ein Marienkäfer mit wunderschönen Punkten, der fliegen kann und den sogar die Menschen mögen!“
Ja, er war wütend! Richtig wütend. Stinksauer, um genau zu sein!
Er sprang von dem Stein, nahm Anlauf, rannte los und trat so fest er konnte gegen das blaue Dings.
Der Schmerz fuhr ihm durch den linken kleinen Fuß durch das ganze Bein und fast bis in den Rückenpanzer.
Kleine Blitze tanzten vor seinen Augen. Nach kurzer Zeit fühlte sich der Fuß ganz taub an.
Und das blaue Dings hatte nicht einmal ein Geräusch gemacht!
Gustav stiegen vor lauter Wut Tränen in die Augen. Er trat zwei Schritte zurück, dann rannte er mit gesenktem Kopf gegen das Dings. Mit lautem Rumms landete er auf dem Rücken.
Ausgerechnet auf dem Rücken!
Jede Assel lernte als aller erstes in der Asselschule, dass DAS niemals passieren durfte!
Gustav zappelte wild mit Armen und Beinen. Dann hielt er still und lauschte, doch außer seinem eigenen Herzklopfen konnte er nichts hören. Er zappelte wieder, diesmal noch wilder, bis er ganz außer Atem war. „So wird das nichts, Gustav!“, schalt er sich selber.
„Und alles nur wegen Rafael! Immer alles wegen Rafael!“
Gustav verschränkte all seine Arme und Beine.
„Schwung!“ schoss es ihm durch den Kopf, „es muss einfach klappen, sonst...“
Gustav hatte das Gefühl, als würde es immer enger in seinem Hals. Er hatte Angst.
Er verlagerte sein Gewicht auf die linke Seite. Dann auf die rechte und wieder auf die linke. So schaukelte er von einer Seite auf die andere, immer schneller: hin und her, hin und her.
Erleichtert spürte er, wie der nächste Schwung ihn auf die Kante seines Panzers hob, versuchte mit aller Kraft, sich auf den Bauch zu drehen. Dann fiel er zurück.
„Ich weiß, dass das geht!“, stieß er zwischen den Mandibeln hervor.
Er lag ganz still, sammelte noch einmal alle Kraft und kippte nach rechts. Als er am höchsten Punkt war, warf er sich auf die linke Seite. Rumms lag er bäuchlinks im Gras.
„Hallo?“, hörte er eine dumpfe Stimme. „Hallo? HALLO!“
Gustav sah sich um.
„Ist da jemand?“, fragte er erschrocken zurück.
Gustav wurde es plötzlich heiß und kalt zugleich, sein Brustpanzer kribbelte und er ließ die Fühler hängen . „Rafael!“, flüsterte er.
War er also tatsächlich schon wieder hereingefallen?
„Hallo! Dem Himmel sei Dank! Hilfe! Ich wurde entführt, verschleppt! Eingesperrt! Man hält mich gefangen! HILFE!“
Die Stimme kam aus dem Dings!
„Rafael?“
„Ja! JA! Ich bin hier! Gustav? Bist du das Gustav? “
Ohne zu antworten setzte sich Gustav wieder auf den Stein.
Missmutig starrte er auf seinen viertrechten Fuß, den, der hinten so ein bisschen krumm war.
Rafaels Füße waren alle ebenmäßig und schwarz und sie glänzten sogar ein bisschen.
"Was, wenn es stimmt?", dachte er. "Was wenn Rafael wirklich gefangen ist?"
Und wenn er ihn nun einfach in dem Dings ließ?
Ihm konnte ja keiner etwas vorwerfen, er hatte ihn ja schließlich nicht eingesperrt und das Dings hatte keine Öffnungen, danach hatte er bereits gesucht.
„Gustav?“ Rafaels Stimme klang verzweifelt.„Gustav!“
Der Assel-Junge seufzte und sprang von dem Stein.
„Ja“, rief er missmutig, „ich bin ja hier. Wie bist du denn überhaupt da hinein gekommen?“
Neugierig drückte Gustav sein Ohr an die blaue Dingswand.
„Na so, wie Marienkäfer immer in alles hinein kommen. Ich hab nicht aufgepasst, ein Kind hat mich gesehen und kaum, dass ich ach du Krabbelkäfer sagen konnte, saß ich auch schon in diesem schwarzen Loch. Zusammen mit zwei Stöckchen, einem Gänseblümchen und ein paar gepflückten Grashalmen. Weißt du vielleicht, warum sie immer Grashalme dazulegen? Glauben sie, ich häkel mir daraus Socken?“ Rafael war jetzt richtig in Rage und er sagte noch vieles mehr, doch Gustav hörte gar nicht zu.
War es vielleicht doch nicht so toll, ein Marienkäfer zu sein?
Dass er fliegen konnte, schien ihm jedenfalls in diesem Moment nichts zu nützen.
Doch bevor er diesen Gedanken zu ende denken konnte, sackte die Erde etwas nach unten.
Und dann noch einmal.
Gustav schmiss sich auf den Boden und legte die Fühler ganz flach an den Panzer.
„Menschen!“, rief er fast starr vor Schreck. Gustav nahm all seinen Mut zusammen erhob sich und rannte so schnell er konnte zurück zu dem Stein. Er grub wie wild mit den Erstarmen, zog seinen Brustschild ein und quetschte sich in die kleine Lücke.
Er verschluckte sich fast, so schnell ging sein Atem.
Er spürte, wie das Blut in seinem verletzten Fuß pochte und seine Fühler zuckten nervös hin und her.
„Normalerweise stecken sie mich in ein Glas und kommen mit ihrem Gesicht ganz nahe, gruuuselig, sag ich dir! Meistens sind es eklige Gurkengläser. Du hast ja keine Ahnung, wie die stinken! Manchmal nehmen sie auch Marmeladengläser, die riechen wenigstens gut! Sie stechen Löcher in den Deckel, weißt du?“ Rafael redete und redete und Gustav spürte mit jedem Beben, wie die Menschen näher kamen.
„Achtmal bin ich diesen Monat schon knapp entkommen!“
Gustav presste sich immer noch an den Stein. Asseln steckte keiner in ein Glas, nicht einmal ohne Blümchen, Gras und Stöckchen. Mit Asseln machten Kinder ganz andere Dinge!
Gustav lugte unter dem Stein hervor. Zwei riesige Menschenkinder blieben direkt vor dem Dings stehen!
Das erste Menschenkind hockte sich vor das blaue Dings, in dem Rafael gefangen war und hob es an einer Seite vorsichtig an.
„Er ist noch unter dem Eimer! Hast du das Gurkenglas? Nun mach schon!“
Gustav wusste, das er JETZT eine Entscheidung treffen musste.
Er hatte das Gefühl, dass ihm keines seiner Beine gehorchen wollte.
Aber er konnte Rafael doch nicht einfach im Stich lassen! Selbst wenn der ein blöder Angeber war.
Er rannte los und schrie so laut und gefährlich er konnte.
Er kletterte auf den rosigen Kinderfuß und brüllte und schrie.
Endlich: das Menschenkind sah auf seinen Fuß und schrie ebenfalls. Es sprang auf und schlug wie wild mit seinen zwei Armen nach Gustav. Mit dem Handrücken stieß es gegen das blaue Dings und das Dings, das Eimer hieß, fiel um.
Gustav hörte, wie Rafael surrend die Flügel bewegte – dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er die Augen wieder aufschlug, saß Rafael vor ihm.
„Danke“, sagte er leise. „Danke, dass du mich gerettet hast!" Er malte mit einem seiner perfekt geformten Beine Linien in die Luft. Dann sah er hoch. "Ach wär ich doch auch so wie du!"
Gustav blinzelte. „Wie ICH?“
„Ja,“ murmelte Rafael. „Du traust dich sogar ins Freie, wenn die Sonne scheint und die Menschenkinder draußen sind. Du passt in jede Ritze und du hast diesen tollen grauen Panzer.“
Gustav starrte Rafael misstrauisch an. Der Marienkäfer sah aus großen, schwarzen Augen zurück.
„Ach das,“ sagte Gustav und dachte bei sich: „Vielleicht ist es doch nicht so schlecht, eine Assel zu sein.“