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Das Beben des Verstandes
Du wirst sterben.
Ein Gedanke, der dich längst nicht mehr erschaudern lässt. Es ist eine simple Gewissheit, die sich in Furcht kleidet. Du siehst von deinen Schulbüchern auf, erschlagen von Fakten, Daten und geheimnisvollen Formeln einer dir fremden Welt.
Du schließt die Augen und blickst in deinen Kopf. Einst gab es nur einen großen Superkontinent. Dieser zerbrach. Wie dein Verstand. Und das Beben in deinem Verstand verursacht Schmerzen. Du weißt, du kannst die Welt nicht besiegen. Unüberwindbare Hindernisse stellen sich dir in den Weg. Das Zeitalter der Freuden, der Triumphe, der Begierde zu leben ist fahle Erinnerung, begraben unter Tonnen an Verantwortung.
Niemand wird sich die Mühe machen, nach dir zu forschen. Du bist vergessen. Bereits morgen bist du vergessen.
Der Mond, dieses der Erde entrissene Fleisch, speit kalte Dunkelheit über dich und die Deinen.
Kälte.
Du musst dich endlich befreien, von dieser Kälte. Du stürmst hinaus in die Nacht, lässt alles verlorene Wissen hinter dir. Nichts hält dich. Diese tote Scheibe über dir kündet vom Ende der Welt. Dein Herz pumpt unaufhörlich Blut. Du schnappst nach Atem, alsbald du auf die Straße blickst: Metallene Monstren blenden dich, warten auf dich, warten auf dein Fleisch. Sie belauern dich. Und du weißt: Jeder Schritt könnte dich in den Abgrund reißen. Der Asphalt unter dir scheint das Tor zur Unterwelt zu sein. Lichtkegel bohren sich in deinen erkaltenden Leib. Wütend kreischen diese Wesen hinter dir. Bewerfen dich mit Worten, die dir so fremd sind, wie die Welt, in die du ahnungslos hinein geboren wurdest.
Die Deinen gehen an dir vorbei, und du möchtest dein Elend in ihre Gesichter rufen. Aber das Getöse, Gekreische, diese Kakophonie deiner Welt, die dir so fremd geworden ist, erstickt dich.
Du resignierst.
Du senkst den Kopf. Du verweigerst dich diesem hässlichen, dunklen Antlitz der Deinen. Sie sind eine gigantische Woge des Fleisches. Morgen werden ihre Gerippe zu Staub zerfallen. Worte quillen aus ihren Mündern. Du verstehst nicht, was sie sagen. Du begreifst nicht, weshalb sie es sagen.
Du vernimmst ein Lachen. Es klingt wie Donnergrollen. Du hast den Punkt erreicht, an welchem sie bizarren Entitäten gleichen, die deine Gedanken in sich sammeln, um dich zu vernichten. Sie sind die Götter der neuen Zeit. Sie herrschen über dich. Sie sind vom Olymp herabgestiegen; Sie haben Tempel erschaffen, die deinen Leib verschlingen und dein zermahlenes Fleisch ausspucken.
Du opferst deinen Verstand auf dem Altar des Wahnsinns, um Ihre Gunst zu gewinnen. Du ahnst, dass es falsch ist; Aber ihr geheiligtes Blut flutet deinen nutzlosen Leib; Ihr geheiligtes Fleisch bedeckt deine sündhaften Knochen.
Sie sagen dir, du stündest in ihrer Schuld. Du betest sie an, aber deine Fürbitten schmerzen. Bittere Worte in deinem Mund. Du kannst es nicht länger verleugnen: Du bist von ihrem Glauben, diesem falschen Glauben abgefallen. Doch du kannst nicht obsiegen.
Du senkst deinen Kopf.
Sie werden dich bestrafen, das weißt du. Du hebst den Kopf und starrst in den Schlund der Hölle. Finstere Dämonen wuseln durch die Eingangspforte. Dein Atem stockt dir. Du musst dich abwenden. Sie beobachten dich. Sie harren deiner Seele. Nein, du kannst sie nicht bekämpfen. Ihre Riten, ihre tausendfachen Bibeln, ihre digitalen Mythen zwingen dich in ihren Bann.
Du kennst ihre Worte. Es sind die Gesetze der Götter: Tue dies, besiegle dein Schicksal mit Seelenblut, sprich dies, sprich das, ergreife unsere Hand, tue Buße, sei unser Diener, unser Gefangener, gib uns deinen Leib. Und: Gib uns deine Gedanken. Und deine Ängste. Und deine Freuden. Gib.
Du erzitterst, und es ist nicht der kalte Regenschleier, der dich gegen deinen Willen mit Kälte füttert. Du sehnst dich nach Freiheit, doch das Opfer ist hart bemessen: deine Existenz.
Aber existierst du real? Die Erkenntnis erschüttert dich. Dein Ich wird in Worten, Sätzen, Kommentaren, Zahlenkolonnen, Daten erfasst. Du bist ein Blatt Papier, mehr nicht. Und dieses Blatt Papier werden deine Götter mit einem Achselzucken zerknüllen. Ich war niemals real.
Sie haben dich von Geburt an allem beraubt, was dieses Ich entstehen hätte lassen können. Du bist ihr Leib, ihr Fleisch, ihr Blut, ihre Gedanken. Du bist nicht real. Du bist eine abstrakte Vorstellung. Morgen wirst du vergessen sein. Morgen wirst du niemals existent gewesen sein.
Du setzt dich auf eine Parkbank, schlägst deine Hände schützend vor dein Gesicht und weinst den Schmerz des Begreifens, während deine Götter Kraft aus deiner Schwäche beziehen.
Eine Bogenlampe erhellt kurz ein menschliches Gesicht. Es ist nur ein kurzes Aufflackern, dessen du gewahr wirst. Die Illusion eines Ich. Dein Verstand driftet weiter auseinander. Deine Götter trösteten dich, sagten dir, eine Hand werde sich auf deine Schulter legen und dir warmherzig zusprechen.
Und plötzlich überströmt dich Hass. Als wäre dein Blut durch Gift ersetzt worden, spürst du diesen unmenschlichen Hass durch deine Adern fließen. Dein Gesicht - endlich ist es dein Gesicht! - spiegelt sich in einer Pfütze.
Du bist schmutzig, zerrinnst in winzigen Kreisen. Die Luft, die du atmest, brennt wie Feuer in deinen Lungen. Flammen züngeln hoch, verzehren dich in ihrem Verlangen nach einem Ende deiner Demütigungen. Du brichst vollends auseinander. Du weißt, dass es Zeit zu handeln ist.
Du bist eine Flammensäule des Hasses, stehst auf, starrst in dunkle Gesichter, in schwärzeste Finsternis. Du blickst in einen Abgrund unauslotbarer Tiefe. Einen Wimpernschlag lang wird heute zu gestern und morgen zu heute. Ihr Fleisch verfault an ihrem Leib. Nichts erinnert dich an deine Existenz. Du bist bloß ein einsamer Gedanke inmitten einer sterbenden Zivilisation.
Du weißt, es ist Zeit zu gehen. An deinen Fingern klebt Blut.
Du gehst.