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Das Baumhaus
Ich finde den Lichtschalter nicht, zu lange Zeit bin ich von hier fort gewesen. Ich warte, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und arbeite mich in Trippelschritten zum Eingang vor. Die Tür knarrt, als ich sie öffne. Ich erkenne die transparente IKEA-Lampe gleich wieder, das Bravo-Poster mit den Backstreet Boys, den beleuchtbaren Globus, auf dem ich mir Weltreisen ausdachte. Seit meinem Auszug vor gut zwanzig Jahren steht noch alles am alten Platz, Mutter hat aus meinem Kinderzimmer ein Museum gemacht. Die Vorstellung, in diese geblümte Bettdecke zu sinken, in staubigen Tagebüchern und Alben alten Erinnerungen nachzuspüren, wirkt jetzt, da ich mein Zimmer vor mir sehe, befremdlich. Ich reiße die Fensterflügel auf, aus dem Fensterrahmen kommt mir Staub und abgeblätterter Lack entgegen.
Ich zünde eine Zigarette an und blicke hinunter in den Garten. Er macht einen vernachlässigten Eindruck: die Bäume verwildert, der Putz von der Grenzmauer abgebröckelt, der Rasen inzwischen eine Wiese. Mutter scheint mit der Pflege des Grundstücks, früher Aufgabe meines Vaters, überfordert zu sein. Dort unten, erinnere ich mich, stand einmal mein blaues Trampolin. Ich sprang darauf so hoch ich konnte, weit in den Himmel hinauf. Ich wollte damit meinem Vater imponieren, der das Trampolin und ein Baumhaus gemeinsam mit mir gebaut und mich gegen Mutters Widerstand wie einen Jungen erzogen hatte. Immer wieder stritten meine Eltern, nicht nur in Fragen meiner Erziehung, oft hörte ich Mutters Schimpfen durchs ganze Haus, auch wenn Vater gar nicht anwesend war. Und je mehr Mutter schimpfte, umso mehr zog sich Vater zurück. An einem Samstagmorgen herrschte plötzlich eine verstörende Stille im Haus. Ich fand Mutter weinend am Küchentisch. Ohne jede Ankündigung hatte Vater seine Frau und sein zehnjähriges Kind verlassen. Wir hörten erst Wochen später von ihm, als er schon in einer anderen Stadt wohnte und ein neues Leben begonnen hatte.
„Einfach alles hinter sich lassen“, murmle ich vor mich hin, wie ich es in letzter Zeit oft tue. Mir scheint, als versuchte ich mir Mut zuzusprechen für einen Plan, der vielleicht schon im Ansatz gescheitert ist. Wie kam ich nur darauf, den erhofften Abstand hier zu finden? Ausgerechnet hier, wo ich nach einem zähen Abgrenzungskampf mit fünfzehn Jahren das Weite suchte und nach dem Umzug zu Großmutter das Stigma des „boxbeinigen Einzelkindes“ hinter mir ließ?
„Aber es ist doch immer alles beruflich glatt bei dir gelaufen, Susan“, höre ich wieder meine Mutter erstaunt in den Hörer rufen, als ich ihr vom gescheiterten Aufstiegsversuch erzählte. „Nimm einfach ein paar Wochen Urlaub und zieh solange nach Hause!“ Nach Hause? Seit meinem Auszug habe ich mich hier doch nur noch gelegentlich blicken lassen, gerade so oft, um kein schlechtes Gewissen zu bekommen.
Doch zu meinem eigenen Erstaunen zögerte ich nicht lange und nahm Mutters Angebot an. Ich sagte mir, Mütter sind froh, wenn ihre Kinder bei ihnen Unterschlupf suchen, und gescheiterte Töchter freuen sich über jedes Obdach, das sie willkommen heißt. Erst heute weiß ich die wahren Gründe für meine rasche Einwilligung: Mutter fragte als einzige nicht nach dem Grund meines Scheiterns. Und die Hoffnung, meine schwierige Beziehung zu ihr doch noch zu reparieren, hatte ich nie aufgegeben.
Mir fällt wieder auf, wie feucht und abgestanden die Luft in meinem Kinderzimmer ist. Ich erinnere mich, dass ich als Teeny oft auf mein Baumhaus flüchtete, wenn mir im Zimmer unwohl war. Mein „Haus“, wie ich es nannte, war eher ein Verschlag, aus Brettern alter Euro-Paletten auf dem Ahornbaum zusammengezimmert. Innen kleidete es Vater wie eine richtige Wohnung mit Teppich aus. Dort lag ich in den Ferien, las Abenteuergeschichten und blickte hinaus auf Wiesen und Felder, meine „Prärie“. Mein Haus hatte sogar ein wasserdichtes Dach, in den Sommermonaten übernachtete ich manchmal dort oben.
Ich ziehe an meiner verglimmenden Zigarette und suche die Baumreihe nach dem Baumhaus ab. Nur mit Mühe kann ich den Ahorn von den anderen verwachsenen Bäumen unterscheiden. Er ist von dichtem Efeu überwuchert, seine Äste ragen Mitleid erregend in den Himmel. Ich muss tief Luft holen, denn mein Haus ist unter den Ranken des Efeus vollständig verschwunden.
Der Anblick erinnert mich unwillkürlich an das, was gerade in meinem Leben geschehen ist. Hoch hinausgewollt und tief gefallen. Bisher hatte ich mich immer erfolgreich durchs Leben geschlagen: Gymnasium, Abitur, Studium, danach eine feste Stelle. Keiner im Betrieb wunderte sich, als ich mich mit Mitte dreißig für den Posten der Personalchefin bewarb. Ich hatte schließlich Günter hinter mir, diesen Endfünfziger mit Seidenschal, der schon Mitglied des Vorstands war, als ich mit 25 in die Firma gekommen war. Er schien an mir ein Narren gefressen zu haben, hob bei jeder Gelegenheit meine Verdienste für die Firma hervor und bot mir bei der Weihnachtsfeier unerwartet das Du an.
Eines Tages lud mich Günter zum Abendessen ein, wie er sagte, um mir vertrauliche Informationen über meine Bewerbung zu geben. „Nicht hier, wir könnten gesehen werden“, flüsterte er mir vertraulich zu. „Ich kenne ein kleines Landhotel weiter draußen, es wird dir gefallen.“
Die Vorstellung, allein mit einem älteren Unbekannten in einem Landhotel einschließlich Übernachtung zu verbringen, weckte mein Misstrauen. ich zögerte, gab vor, mich gerade um meine kranke Mutter zu kümmern. Ich erwog sogar, Erkundigungen über Günters Vorgeschichte einzuholen, verwarf dies aber, um meine Karrierepläne nicht zu gefährden. Doch Günter blieb hartnäckig: „Es geht um mehr als um den Posten des Personalchefs“, sagte er mit dem Finger am Mund und mit nach oben gezogenen Augenbrauen. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck von meinem Vater, wenn er mir ein Geheimnis andeutete. Unsittliche Avancen durch diesen korrekten, fast etwas schüchternen Mann waren für mich unvorstellbar. Und falls doch, würde ich mich als selbstbewusste Frau zur Wehr setzen können.
Ich schrieb Günter und sagte das erste Wochenende nach den Sommerferien zu. Als ich in seinen Wagen einstieg, dachte ich kurz an „Pretty Woman“ - nur, dass der Typ neben mir 20 Jahre älter war und mich als Mann kein bisschen interessierte. Meine Zweifel kehrten schlagartig zurück, als mir beim Einchecken eine Visitenkarte in die Hände fiel. Unter dem Namen des Etablissements stand ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz mit der Inschrift „Hotel d‘amour“. Ich versuchte ich mich zu beruhigen und traf mich wie verabredet zum Abendessen, das sich als ein mehrgängiges Candlelight-Dinner entpuppte. Ich blieb auf der Hut, trank wenig Alkohol und wich keinen Millimeter von meiner Berufsrolle ab. Gleichzeitig versuchte ich, Günter so viele Details wie möglich zu entlocken. Doch außer der Aussicht auf seine Protektion, die er beim Anstoßen noch einmal bekräftigte, erfuhr ich nichts. Nach dem Dessert sagte er mit gespielter Beiläufigkeit: „Ich hab‘ noch Lust auf Sauna - kommst du mit?“
Sein plumper Vorstoß machte mich sprachlos. Er hatte es also doch darauf angelegt. Von ihm und meiner eigenen Menschenkenntnis erschüttert, warf ich meine Serviette auf den Tisch. Das halb gefüllte Weinglas fiel um, ein Rotweinfleck fraß sich in die weiße Tischdecke. Ich stand auf, beobachtete aus meinen Augenwinkeln Günters offenen Mund und weit aufgerissene Augen und ging wortlos ich auf mein Zimmer. Am nächsten Morgen stand ich früh auf und ließ mich von einem Taxi nach Hause bringen.
Vor mir spielt sich wieder diese Szene ab, die sich nie zugetragen hat: Günter nackt neben mir mit grauen Haaren auf der Brust. Ich sehe sein lüsternes Augenzwinkern, während er die Sanduhr umdreht und mir leise zuflüstert: „Wenn die durch ist, sehen wir uns in der Kabine.“
Die Vorstellung ließ mich nicht mehr los in den Nächten, und an den Tagen aß ich schlecht. Ich wartete auf den Ausgang meiner Bewerbung, doch keiner erwähnte sie mehr, als habe sie nie existiert. Günter, dessen Büro am Ende desgleichen Korridors lag, sah ich nur noch von hinten. Plötzlich war ich mir der Angemessenheit meiner Reaktion nicht mehr sicher. Meine Freundinnen versuchten, mir die Zweifel auszureden: „Und was hättest du stattdessen tun sollen - mit ihm in die Sauna gehen und danach ins Bett steigen?“ Doch je länger sich die Bewerbung hinzog, umso mehr peinigten mich meine Bedenken. Schließlich musste ich mir eingestehen, dass ein anderer, schwacher und unsicherer Teil meiner selbst wieder freigelegt worden war und sich immer mehr Raum nahm.
Eines Morgens wurde ich zum wöchentlichen Management-Meeting einbestellt. Sollte nun der erlösende Moment gekommen sein? Doch es stellte sich heraus, dass man jemanden fürs Protokoll brauchte, weil die Sekretärin kurzfristig erkrankt war. In der Sitzung ging es um die im letzten Quartal eingebrochenen Absatzzahlen, Günter wurde um eine Einschätzung gebeten. Er beendete seine Stellungnahme mit den Worten: „Jeder Erfolg hat auch seine Grenzen, nicht wahr?“ Dabei drehte er sich zu mir um und suchte den Kontakt zu meinen Augen. Ich blickte nach unten, meine Finger krümmten sich und versagten mir den Dienst. Jetzt wusste ich, dass meine Bewerbung vom Tisch, meine Karriere gestoppt war.
Ich blicke wieder auf die erdrosselten Äste, das vom Efeu verschlungene Baumhaus und fühle, wie erstmals nach dem Vorfall Wut in mir hochsteigt. Ich versuche, tief Luft zu schöpfen, doch mein Atem stockt. Ich kann nicht noch länger auf diesem Pulverfass sitzen, ich muss etwas Befreiendes tun. Mir fällt plötzlich mir die Säge ein, diese gelbe Baumsäge, mit der Vater und ich die Bretter für das Haus zurecht gesägt hatten. Ich muss sofort hinunter in den Keller und sie suchen.
Ich finde sie am Fuß des Holzstapels, der von alten Spinnweben überzogen ist. Ich reiße die Kellertür auf, eile zu dem verwilderten Hain und suche nach dem Parasiten, der den Stamm und die Äste meines geliebten Ahornbaums abschnürt. Schließlich finde ich ihn. Erleichtert stelle ich fest, dass seine Saugwurzeln auf der Rinde sitzen und nicht in das Holz des Ahorns eingewachsen sind. Vorsichtig säge ich eine Wurzel nach der anderen ab. Am Fuß des Ahorns sammeln sich weiße Späne, als hätte es gerade frisch geschneit. Der Schweiß trieft mir von der Stirn in die Augen, doch ich kann jetzt wieder frei durchatmen.
Beim Abendbrot erzähle ich Mutter von meiner Entdeckung. „Aber Susan“, sagt sie überrascht. „Efeu macht doch gar keine Bäume kaputt - es sei denn, die sind schon vorher krank gewesen.“ Ich versuche mich an den Stamm und die Äste zu erinnern. Tatsächlich schien der Baum noch gesund zu sein. Ich stelle mir vor, wie ich die vertrockneten Ranken des Efeus im nächsten Frühjahr herunterziehe. Und darunter kommt mein geliebtes Baumhaus wieder zum Vorschein.
Mein Angebot, bei der Pflege des Gartens künftig zu helfen, lehnt Mutter stolz ab.