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Das Bananengummiboot reitet in den Sonnenaufgang
Sarah grinste ihn herablassend an, während sie einen ihrer üblichen Späße vollzog, von denen er sich mittlerweile fragte, welcher Mensch außer vielleicht ihr selbst noch über diesen traurigen Clowns-Klamauk lachen sollte.
Sie hatte sich auf das Geländer der Brücke gesetzt, die Arme zu den Seiten weggespreizt, das Gewicht so weit es eben ging nach hinten verlagert und alberte dabei dem herbeigerufenen Suizid-Beauftragten wie ein unwissendes Kind hektisch entgegen.
Ein todesmutiger Balance Akt, aufgeführt vor einem unsichtbaren Publikum. Niemand würde schreien, wäre gar schockiert, wenn sie jetzt abstürzte; auf dem harten Asphalt aufschlug, vielleicht überlebte und dann anschließend von einem heranrasenden LKW in unzählige, bizarr anmutende Fleischstückchen zerfetzt wurde.
> Lediglich ein kleiner Schubser, nicht mehr <
Nur eine Frage von Sekundenbruchteilen und das Thema ' Sarah ' hätte sich endgültig erledigt. Keine Vorwürfe mehr, niemals wieder ihr unerträgliches Geschwafel, ihr Hohn, ihr Zynismus.
Alle Probleme ließen sich durch eine flüchtige Bewegung eines Armes, ein kurzes Zusammenarbeiten von Muskelsträngen, einfach so lösen; als hätten sie keinerlei tiefgreifenden Bestand.
Klug genug wäre Phil ja durchaus gewesen, nur der Mut, der fehlte ihm. Wie immer schon.
Als er sechs Jahre alt gewesen war und sein Vater der gesamten Familie beim Abendessen stolz verkündet hatte, wieviel Provision diesesmal für ihn herausgesprungen sei und das es im Sommer ab nach Spanien ginge, war Phil von einer unverhofften, drastischen Wut erfüllt gewesen.
Er hatte den kleinen Wohnwagen in Holland geliebt, ganz im Gegensatz zu seiner Schwester und dementsprechend waren ihre Klagen in Hinsicht eines weiteren, diesbezüglichen Urlaubes ausgefallen.
Tag für Tag; ohne Unterbrechung.
Solange, bis sein Vater sich zu dem Entschluss durchgerungen hatte, ausgerechnet in diesem Jahr besonders viel Geld verdient zu haben. Ganz nebenbei bemerkt, korrigierte er auch gleich die ' blödsinnige Schwärmerei ' eines eigenen Segelbootes ins Nirvana.
> Die Mama und ich, wir haben uns da nur ein Hirngespinst in den Kopf gesetzt, wir sparen das viele Geld lieber für wichtigere Dinge > , waren seine ungefähren Worte für einen zerschmetterten Kindheitstraum gewesen.
Natürlich war von der angeblichen Rekordsumme, die es sich auf dem Sparkassenkonto gemütlich gemacht haben sollte, später kein Wort mehr gesprochen worden und so war dieser offensichtliche Betrug im stillen Einverständnis aller beteiligten Parteien zu tode geschwiegen worden.
Es war das Jahr, in dem seine große Schwester 'Jessi' ihre erste ernsthafte Liebe gefunden hatte und mit ihr auf einem kitschigen Bananengummiboot in den Sonnenuntergang 'geritten' war.
Ein krimineller Motivateur, der heute im Gefängnis saß und sich in diesem Augenblick vermutlich an der spanischen Strafvollzugsküche satt aß.
Die Karrikatur einer kurzen Leidenschaft, für die seine Eltern so viel geopfert hatten.
"Was ist los, du Angsthase?", riss Sarah ihn fast schon brutal aus seinen Gedanken, während sie sich von dem rostigen Eisen herunterschwang, um wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen.
Phil sah sie an. Sie grinste noch immer. Das strähnig blonde Haar klebte an der unreinen Haut ihrer Stirn und die enge Jeanshose, sowie das straff anliegende Top, täuschten die Illusion eines annähernd makellosen Körpers hervor.
Tatsächlich war der blasse Teint ihrer Beine von Pickeln übersät, wurden die schlaffen Brüste bloß durch den Push-Up BH in Form gebracht.
Wenn er nachts neben ihr lag, stank sie abscheulich nach sämtlichen Arten bakterienbevölkerten Schweißes.
"Nichts ist los. Ich kann es halt nicht abhaben, wenn du solche Kunststücke vollführst.", entgegnete er kühl.
> Und deine Pussy wird nachher wieder wie ein verwesender Thunfisch riechen > , fügte er in Gedanken hinzu.
Sarah schritt auf ihn zu und umarmte ihn.
Nicht herzlich, eher so wie ein Fußballstar irgendeinen Fan liebkost, während sämtliche Kameras der wichtigsten weltweiten Sportsender Live dabei sind.
Für sie handelte es sich um eine Pflichterfüllung, einen gesellschaftlichen Zwang, den hageren Sohn einer mittelständischen Familie gelegentlich mit gespielten Andeutungen der Zuneigung bei Laune zu halten.
Geliebt hatte sie Phil noch nie und er wusste das.
Vor vier Jahren war Sarah mit ihrer Mutter nach Neuss gezogen. Ihr Vater war Anfang der achtziger Jahre an Lungenkrebs gestorben und sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern.
Damals war sie ihm unglaublich schön erschienen. Ein klein gewachsenes, zierliches Mädchen, das sich eisern Stufe für Stufe unter der Last schwerbeladener Reisetaschen den Weg hinauf in den vierten Stock gebahnt hatte. Viel zu stolz um sich zu beschweren. Ihre Haare - zu dieser Zeit noch weitaus kürzer - waren zu einem Zopf gebunden und sie duftete angenehm nach Vanilleparfüm.
Phil hatte sich gleich in sie verliebt.
Heute hingegen war von der ehemaligen Anmut fast nichts mehr übriggeblieben. Es widerte ihn an zu sehen, wie sie sich nach jedem Kerl den Hals verrenkte, der ihr auf der Straße über den Weg lief und zumindest halbwegs passabel aussah. Sie pflegte sich nicht mehr und der bezaubernde Duft von einst, war mittlerweile dem säuerlichen Geruch gewöhnlicher Körperausdünstungen gewichen.
Aus Mitleid war sie mit ihm zusammengekommen und aus Mitleid würde sie ihn wieder verlassen.
Im Grau der sterilen Autobahnbrücke inmitten dieses verregneten Oktobernachmittages, wurde ihm diese Tatsache so schmerhaft bewusst, dass er sie endlich als Realität akzeptierte.
"Setz dich nochmal kurz hin und streck die Beine aus. Ich glaube du hast Hundescheiße unter den Schuhen.", sagte er Sarah zum Abschied.
*****
Es war kurz nach neun.
Richtiges Tageslicht drang zu dieser Jahreszeit fast keines in das enge Schlafzimmer. Dennoch war es hell genug um sich in der chronischen Unordnung zurechtfinden zu können; zumindest wenn man mit dieser vertraut war.
Er vermied es mit einem gezielten Schritt direkt aus dem Bett aufzustehen, zu oft schon hatten solche Versuche böse für ihn geendet.
Stattdessen setzte er zu einem kleinen Sprung in Richtung des Kleiderschrankes an und landete sicher auf einer zwar verdreckten, aber ansonsten freien Fläche des Teppiches.
Nachdem er sich zum Lichtschalter hervorgetastet, anschließend motivationslos geduscht und die Zähne geputzt hatte, schlenderte er in das kleine Wohnzimmer.
"Guten Morgen, mein Sonnenschein.", begrüßte ihn das Wrack, welches früher einmal seine Mutter gewesen sein mochte, mit einem verzweifelten, zahnlosen Lächeln.
"Hast du gut geschlafen?", fragte sie ihn, während ihre ausdruckslosen Augen von einem kurzen Leuchten erfüllt wurden, als sie in ihrem Blick an einer auf dem Tisch stehenden Flasche ' Jägermeister ' hängenblieben; dem Gehirn beinahe gleichzeitig den Befehl vermittelteten die Hände in Aktion zu rufen, den Mund zu öffnen.
"Sicher.", drangen seine Worte in den Ablauf ihrer vollautomatisierten Trinkmotorik.
"Dein Vater hat mal wieder seine Arbeit verloren. Herr Elert hat mich vorhin angerufen und es mir erzählt. Der Drecksack sitzt nur noch in der Kirche, stundenlang. Kümmert sich sonst um gar nichts mehr.", nuschelte sie ihm entgegen, während sie den Kräuterschnaps zurückstellte.
"Ich mags nicht, wenn du so schlecht über Papa redest. Außerdem säufst du zuviel!", erwiderte er schroff.
Phil ließ sich in den alten Sessel fallen, der in vergangenen Zeiten einmal ein Gefühl von Gemütlichkeit vermittelt hatte, jetzt aber nur noch wie vergessener Sperrmüll lieblos in der Ecke stand und vergammelte.
"Ich habe die Fenster geputzt. Den ganzen Morgen. Ich bin nicht faul, ich trinke ab und an einen Schluck. Kannst du mir das verübeln? Dein Erzeuger sitzt in der Kirche und zweifelt an uns beiden. Früher hat er die Bibel bloß gebraucht, um einen kaputten Tisch zu stützen. Ich kümmere mich wenigstens um dich. Hast du gewusst, dass gegenüber jetzt neue Leute einziehen? Du hast gesagt, dort würde niemand neues reinkommen. Wieso lügst du deine Mutter an?"
Er schwang seine Beine über die ausgefranste Lehne und richtete sich auf.
"Ich habe dich nicht angelogen.", log er.
"Ich habe bloß angenommen, die Wohnung würde eine zeitlang leerstehen."
Renate stand auf. Ihre Beine waren von Krampfadern überzogen. Ihr aufgeschwollenes Gesicht war entstellt von ebensovielen geplatzten Äderchen; und Narben, die sie sich bei zahlreichen Stürzen im nahenden Delirium zugezogen hatte.
"Dein Vater ist ein Scheusal. Er hat uns verlassen. Ist einfach so abgehauen. Mich hat der Tod deiner Schwester genauso mitgenommen, wenn vielleicht auch auf eine andere Art. Wieso hat er uns nicht geglaubt? Dieser Rodriguez sitzt im Knast und trotzdem hat er dich für ihren Unfall verantwortlich gemacht. Du hättest ihn gebraucht, in dieser schweren Zeit. Als deine Freunde gestorben sind, habe ich dir beigestanden, obwohl ich sie nie mochte. Ich habe dir niemals die Schuld daran gegeben, und jetzt Sarah! Kaum ist sie tot, zieht dort eine neue Familie ein. Als wenn es nie geschehen wäre."
Phil ließ den Sessel hinter sich, kuschelte sich vorsichtig an seine Mutter heran.
"Du weisst, dass ich Jessika damals von dem Boot geschmissen habe, oder?"
Renate schmiegte sich fast ein wenig zu sanft an seine Brust.
"Natürlich, du hast getan, was du tun musstest.", flüsterte sie ihm zaghaft ins Ohr.
Dann ließ er wieder ab von ihr.
"Kann es sein, dass du die linke Scheibe vergessen hast? Sie ist immer noch schmutzig."
Ohne noch ein Wort zu sagen, prüften die kümmerlichen Überreste seiner per Gesetz anerkannten Erziehungsberechtigten das Gesagte nach.
Der korpulente Hintern drängte sich vor seine Nase.
Klug genug wäre Phil ja durchaus gewesen, nur der Mut, der fehlte ihm. Wie immer schon.
Er tat es dennoch.
***
"Was ihr Sohn nicht alles sieht.", strahlte Sarah der Karrikatur einer einstmals hübschen Frau entgegen.
Dann fiel sie.
Völlig mühelos im Vergleich zu Jessika, zu seinen Freunden.
Renata hatte sie nicht untertauchen müssen, um wie vor so vielen Jahren, Phil´s Wutausbruch zuende zu bringen.
Sie hatte nicht eine solche Kraftaufbringung benötigt, wie damals , als sie seine Freunde in der verschlossenen Ferienhütte verbrennen lassen hatte.
Diesesmal war ein kurzer Schubs ausreichend gewesen und für diesen würde er sich rächen.
Denn er liebte Sarah noch immer.