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Das Babyfon
Das Babyfon auf dem abgenutzten Küchentisch spuckte zischende und knisternde Töne. Die roten Lichtpunkte, welche die Stärke der übertragenen Geräusche anzeigten, flackerten wie eine rasche Abfolge von Blitzen. Max hatte das schon öfter erlebt. Ängstlich drückte er den Teddy an sich. Da war etwas falsch. Max konnte es nicht ausdrücken, doch irgendwo in seinem kleinen Gehirn wusste er, dass aus einem ausgeschaltetem Babyfon niemals Stimmen kommen durften. Seine Mutter war mit ihrem neuen Freund Peter streitend ins Schlafzimmer gelaufen, und Max hatte sich in die Küche mit seinem Teddy in die Küche zurück gezogen, um die Schreie nicht mehr hören zu müssen.
Das Babyfon begann Gesprächsfetzen zu übertragen und dann die Schreie.
Max drückte Teddy fester an sich. Die Lichter des Babyfons blinkten, als versuchten sie die Dringlichkeit der Nachricht zu unterstreichen.
"Bitte nicht, du tust mir weh", schrie Mama.
Die Stimmen aus dem Babyfon waren so klar, als stünden Mama und Peter direkt vor ihm. Max blieb noch eine weitere Minute wie angewurzelt stehen und hörte immer wieder die verzweifelten Schreie seiner Mutter, unterbrochen von dem Klatschen oder, noch schlimmer, den dumpfen Schlägen. Max wollte ihr helfen, doch er wusste nicht, wie. Peter hatte ihm schon einmal eine Ohrfeige gegeben, weil er bei einem Streit zu Mama gehalten hatte.
Er stürmte heulend zur Tür hinaus und flitzte den Gang entlang zum Treppenhaus. Ganz oben im letzten Stock, neben der Dachbodentür, befand sich ein dunkler, schmutziger Winkel, wo er sich verstecken konnte. Tränen benetzten seine Wangen. Den Teddy fest an sich gedrückt blieb er vor der Treppe stehen und lauschte.
Von unten hörte er Stimmen. Schnell unterschied er zwischen dem Keifen von Frau Kipplinger und Herrn Urbans hastigen Antworten. Alle Leute hatten Respekt vor Herrn Urban. Eine grässliche Narbe verunzierte sein Gesicht und alle im Haus machten einen Bogen um ihn. Nur Frau Kipplinger nicht, aber Frau Kipplinger machte nie um jemand einen Bogen.
Neugierig schlich Max runter. Den Kopf nahe am metallenen Geländer, bekam er mehr und mehr von der Unterhaltung mit.
"Was heißt, kein Geld, kein Geld? Gehen‘s zur Bank und nehmen‘s was auf. Sie haben ja das Haus als Sicherheit. Weiß nicht, warum ich mir das antue. Das kann ich Ihnen sagen, wenn sie die Arbeitslosen ansehen. Das wird Ihnen keiner machen so wie ich. Jeden Tag die Böden schrubben. Im Winter bei der Kälte raus, Schneeschaufeln."
"Die Handwerker sind ja unverschämt teuer geworden und die Hälfte der Mieter zahlt nicht."
Aufgeregt schlich Max weiter. Er war jetzt im vierten Stock und schielte um die Ecke. Herr Urban füllte den Rahmen der offenen Haustüre beinahe ganz aus. Er verdeckte Frau Kipplinger, deren Stimme immer lauter wurde.
"Ich lass mich nicht länger hinhalten. Nächstes Jahr müssen sie die Fenster tauschen und alles neu streichen lassen. Sehen‘s eh, wer schon alles hier herumläuft.
Apropos: Die Berger ist nicht mehr allein. Hat einen neuen Freund. Wenigstens ein Österreicher. Aber trotzdem. Kann der einfach hier wohnen, wenn nur sie angemeldet ist?"
Berger war der Name von Max Mutter.
"Die Berger", Herr Urban betont das „die“, "der ihr Neger davongelaufen ist?"
Plötzlich standen die Schuhmann Zwillinge hinter ihm. Max hatte sie überhaupt nicht kommen gehört.
Für einen Moment war alles still. Herr Urban und Frau Kipplinger schienen sie auch bemerkt zu haben und schwiegen. Die Schuhmann-Zwillinge, Edelhard und Gerhard, sahen Max verdutzt an. Max wusste nicht, was er tun sollte.
Die ausdruckslosen Meinen der blonden Zwillinge veränderten sich zu einem boshaften Grinsen. Max musste es nicht deuten. Sie wollten ihm den Teddy wieder wegnehmen. Sofort stürzte er los und hatte eine halbe Treppe Vorsprung. Max kleine Füße stolperten fast über die Stufen. Er musste alles riskieren, sonst war Teddy verloren. Die Schuhmannzwillinge lachten hinter ihm und kamen schnell näher. Max presste Teddy fest an sich und griff nach der Wohnungstür. Er riss sie auf und stürmte hinein. Die Tür knallte an die Kante der Kommode. Er lief durch den winzigen Vorraum in die Küche und versteckte sich hinter dem Küchentisch. Nur für den Fall, dass die Schuhmann Zwillinge in die Wohnung nachkämen. Im nächsten Moment schwang die Tür des Schlafzimmers auf. Peter kam heraus. Er hatte nur seine Unterhose an.
"Was ist jetzt wieder los, kleiner Bastard?" sagte er scharf. Er sah die offene Tür, ging hin, machte sie zu und blickte sich dann suchend nach Max um.
Max drückte sich unter den Tisch, doch leider hatte ihn Peter schon gesehen. Er zerrte ihn unsanft unter dem Tisch hervor und gab ihm eine Ohrfeige.
"Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die Tür leise zumachen sollst?"
Peter hatte ihm das noch nie gesagt, doch das würde ihm Max sicher nicht antworten. Statt dessen schoss ein Strom Tränen über seine Wangen. Max lief an Peter vorbei in sein winziges Zimmer.
"Wenn ich heute noch einen Mucks von dir höre, gibt’s was!"
Am nächsten Tag ging Peter wieder arbeiten. Er war Lastwagenfahrer und meist eine Woche unterwegs. Max fragte Mama, ob sie sie sich nicht einen anderen Freund suchen könne.
Seine Mutter sah ihn mit Tränen an und schüttelte stumm den Kopf.
Nina Berger lag im Bett und litt unter fürchterlichen Bauchkrämpfen. Sie verfluchte ihre Unvorsichtigkeit. Peter hatte sich als jähzornig und brutal entpuppt und er machte keinerlei Anstalten, das ihr zuliebe zu ändern. Jetzt war sie im dritten Monat schwanger und er wollte bei ihr bleiben, um das Kind großzuziehen. Auf der einen Seite wusste sie, dass es nicht gut gehen würde, auf der anderen Seite bezahlte Peter jetzt die Wohnung. Da sie nur das dürftige Kindergeld erhielt, hätte sie sonst bald in eine noch schäbigere Wohnung umziehen müssen. Das Babyfon am Ende des Bettes gab schnalzende Laute von sich. Nina wunderte sich, hatte sie doch den Sender am Morgen eigenhändig ausgeschaltet. Eine neue Welle stechender Übelkeit durchfuhr ihren Unterleib. Sie verwarf den Gedanken, jetzt aufzustehen und es abzuschalten und krümmte sich zusammen. Peter war in der Küche und versuchte etwas zu kochen. Nina wusste, dass es wieder Ärger geben würde. Selbst wenn Peter dieses Mal das Essen nicht verbrannte. Sie würde keinen Bissen runterkriegen und das kränkte ihn wieder in seiner männlichen Ehre. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte zurück zu ihren Eltern. Da wären sogar ihre dauernden Vorwürfe erträglicher gewesen.
"Max, geh da weg", hörte sie begleitet von knisternden Störungen aus dem Babyfon.
"Das kocht", stellte Max fest.
"Was soll es sonst machen", erwiderte Peter. "Geh doch wohin, wo du nicht im Weg stehst."
Eine Weile war es ruhig.
"Genau, zum Fenster kannst du rausschauen."
Max erwiderte etwas, das im Rauschen unterging.
"Nein, ich werde dich nicht hochheben", sagte Peter.
Etwas wurde gedrückt.
"Steig da rauf, dann kannst du rausschauen. Wenn du dich vorbeugst, kannst du besser sehen."
"Nein", antwortete Max fest.
"Klettere doch mal rauf auf die Fensterbank, da siehst du noch viel besser." Die restlichen Worte gingen wieder im Rauschen unter. Dann war die Übertragung kristallklar.
"Sehr gut machst du das. Jetzt schau mal runter. Kannst du jemand sehen? Keine Angst, da passiert nichts.“
"Ich will runter. Bitte gib den Stuhl wieder her", jammerte Max.
"Spring doch endlich raus, du kleiner Bastard, sonst setzt es eine Tracht Prügel."
"Du bist gemein. Mama!"
Nina sprang auf. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie taumelte weiter, fasste die Türklinke, riss die Tür auf. Aus der Schwärze schälte sich ganz langsam ein kleiner Fleck. Peter stand vor ihr und hielt Max in den Armen. Er schüttelte ihn und schrie:
"Wie oft soll ich dir noch sagen: Weg vom Fenster. Dort hast du nichts zu suchen."
Der Stuhl stand am Tisch, das Fenster war weit offen. Peter stellte Max auf den Boden und gab ihm zwei schallende Ohrfeigen. Max heulte und lief zu Nina, die nicht anders konnte, als ihren Tränen ebenfalls freien Lauf zu lassen.
Max steht am Hauseingang und wartet auf seine Mama. Schneeflocken tanzen vor ihm. Max streckt die Hand aus und lässt einige der Flocken darauf zergehen. Morgen beginnt der Advent. Max hofft, dass seine Mama einen Adventskalender mitbringt.
Frau Kipplinger schlurft mit einer Schneeschaufel an ihm vorbei.
"Aus dem Weg", zischt sie. Max huscht schnell zur Seite. Frau Kipplinger schließt hinter sich die Eingangstür, sodass Max nichts mehr sehen kann. Er greift zögernd nach der Schnalle. Auf der anderen Seite schabt Frau Kipplingers Schneeschaufel über den Beton.
Sie begrüßt jemand mit "Guten Tag, der Herr", Max weicht zurück und drückt sich in die dunkle Ecke neben den Postkästchen.
Herr Schuhmann geht an ihm vorbei. Er bemerkt Max nicht. Max schleicht sich wieder zur Tür. Frau Kipplingers Schneeschaufel kratzt noch immer über den Asphalt. Hinter sich hört er leise Schritte die Treppe runterkommen. Max dreht sich entsetzt um. Die Schuhmann Zwillinge sind stürmen auf Max los. Max bleibt keine andere Möglichkeit, als die Tür zu öffnen und hinaus auf die Straße zu laufen.
Er rutscht aus und fällt direkt vor Frau Kipplinger. Sein Teddy fängt die Wucht des Sturzes etwas auf. Max will sich wieder aufrappeln, doch da hat ihn einer der Schuhmann Zwillinge schon an der Hose. Während ihn ein Zwilling festhält, beginnt der andere an Max Teddy zu zerren. Max schreit und strampelt, doch die Zwillinge sind doppelt so groß wie er. Gnadenlos wird der Teddy aus seinen Armen entrissen.
Frau Kipplinger steht hinter ihnen und schaut zu.
Max plärrt so laut er kann.
"Teddy geht zurück nach Afrika", sagt einer der Zwillinge. Sie marschieren zum Hinterhof. Max folgt ihnen in einigem Abstand.
"Bitte, bitte", fleht er.
Die Zwillinge werfen sich den Teddy gegenseitig zu. Der Hinterhof wird von einer großen Mauer eingegrenzt. Ein Zwilling versucht, ihn hinüberzuwerfen. Es gelingt ihm nicht. Der zweite versucht es ebenfalls. Auch er scheitert. Dann nimmt der erste den Teddy und schmeißt ihn mit einem gewaltigen Wurf über die Mauer. Max sieht durch seine Tränen den Teddy auf der anderen Seite verschwinden. Heulend läuft er zurück ins Haus. Er öffnet die Wohnungstür, die Tränen machen ihn fast blind, und läuft gegen Peter. Ein Schwall Bier ergießt sich über seinen Kopf.
Peter gibt ihm eine Ohrfeige. Max geht zu Boden. Er kann vor lauter Tränen nichts mehr sehen.
Peter brüllt etwas, doch Max versteht nicht, was. Wieder bekommt er eine Ohrfeige. Max brüllt so laut er kann. Peter packt und schüttelt Max, sodass er einen Moment keine Luft bekommt.
"Mein Teddy ist weg. Hilf mir!“
"Sei still", brüllt Peter. Max kann nicht still sein, wenn ihn nicht wenigstens Teddy tröstet. Er läuft weinend in sein Zimmer und stolpert dabei über das Babyfon. Das Gerät wird dadurch eingeschaltet und nimmt auf.
"Teddy, Teddy! Sie haben Teddy über die Mauer geworfen!", plärrt Max.
"Halt´s Maul", brüllt Peter.
Durch die dünne Tür ist Max Weinen durch die ganze Wohnung zu hören. Peter geht in Max Zimmer und gibt ihm eine weitere Ohrfeige.
"Sei sofort still!"
„Ich kann nicht“, plärrt Max.“
"Entweder du bist sofort ruhig, oder du verschwindest."
Peter packt Max.
„Scheiß auf deinen Teddy.“
Vor Wut versucht Max mit seinen kleinen Fäusten auf Peter einzuschlagen.
Peter reißt ihn hoch und wirft ihn gegen die Wand. Max weiß gar nicht, was passiert und schon fliegt er Kopf voran zuerst auf die Wand und dann auf sein Gitterbett. Etwas kracht schrecklich und Max weiß gar nicht, wie er plötzlich auf den Fußboden gekommen ist. Er wird geschüttelt, doch alles um ihn dreht sich und er kann seine Beine nicht mehr fühlen. Etwas rinnt aus seinem Ohr, aber es tut jetzt gar nicht mehr so weh, wie zuvor. Schlimmer ist, dass er Teddy nirgends finden kann. Max wird hochgehoben und hört den Autolärm von der Straße. Ihm ist furchtbar schwindlig. Peter packt ihn und schwingt ihn zum Fenster hinaus. Max versucht sich vergeblich festzuhalten, doch dann geht es nur noch abwärts. Es spürt den kalten Wind und dann schlägt er mit voller Wucht auf den Asphalt auf.
Max wacht in einem fremden Bett auf. Überall sind blinkende Lichter und sein Kopf steckt in einem Verband. Er versucht, nach Teddy zu greifen, doch seine Hand ist eingegipst. Die andere Hand ist festgebunden und mit einem Schlauch versehen. Er schreit, doch aus seinem Mund kommt kein Laut, denn er ist zugeklebt und ein Schlauch steckt drinnen. Etwas piepst hektisch und eine Krankenschwester kommt herbeigelaufen.
"Oje", sagt sie nur und rennt schnell wieder weg.
Max fühlt etwas unter seinem Verband hervorrinnen. Max kann nichts verstehen. Ein Arzt beugt sich zu ihm und sagt:
"Ganz ruhig. Bleib ganz ruhig liegen. Das wird schon wieder."
Max versucht, noch einmal zu sprechen.
"Teddy."
"Nicht sprechen", sagt der Arzt. Die Schwester ist inzwischen wieder da.
Max sagt noch einmal:
"Teddy."
"Er möchte einen Teddy", sagt die Schwester.
Der Arzt nimmt eine Spritze und steckt sie in einen der Schläuche, die an Max eingegipsten Arm angeschlossen sind.
"Ich bringe dir deinen Teddy", sagt die Schwester. Ein zweiter Arzt kommt. Er unterhält sich leise mit dem ersten Arzt.
"Schreckliche Sache. Die Mutter liegt nebenan. Not-Kaiserschnitt. Ein kleines Mädchen. Sie weiß es noch nicht."
Max Kopf tut schrecklich weh. Wenn er nur seinen Teddy bekäme, wäre alles wieder gut, denkt er.
Die Schwester kommt und drückt ihm einen Teddy in die Hand.
Es ist nicht sein Teddy. Seiner ist doch viel dunkler und voller Flecken. Max versucht, den Kopf zu schütteln, der Teddy fällt ihm aus den Händen. Das Piepsen der Geräte wird hektischer. Max spürt etwas in sich ausrinnen. Eine Alarmglocke schwillt an.
Wo ist sein Teddy?
Die Schwester drückt Max den falschen Teddy in die Arme.
"Lassen Sie das", herrscht sie einer der Ärzte an.
Max kann nichts mehr sehen. Wo ist nur sein Teddy geblieben? Die Geräusche um ihn werden leiser. Etwas rüttelt an seiner Hand. Dann herrscht völlige Stille. Plötzlich sind die Schmerzen weg.
"Verdammt", schimpft ein Arzt. Im Hintergrund ist aus dem Piepsen ein schrilles Pfeifen geworden. Die Schwester wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Max wundert sich, warum er alles so klar sehen kann.
Die Schwester zieht ein weißes Tuch über Max und den neuen Teddy.
Nina zog die Schachtel mit Max Sachen aus dem Schrank heraus. Seit seinem Tod hatte sie alles, inklusive der Bilder, dorthin geräumt, aus Angst, Peter würde es wegwerfen. Nina sah auf das Bild von Max als Neugeborenes. Wieder kamen ihr die Tränen. Sie wischte sie mit dem Handrücken ab. Dann nahm sie das Babyfon aus der Schachtel, stellte den Sender zu Anabell ins Schlafzimmer und den Empfänger neben sich auf das Sofa. Ihre Lieblingssendung fing an.
Nina schenkte dem Blinken des Babyfons keine Aufmerksamkeit. Es knisterte mehrmals, dann war es wieder still. Die Lichter blinkten in einem hektischen Rhythmus, aber Nina bemerkte es nicht.
"Hilfe, ich kann nichts sehen."
Nina fuhr herum. Das Babyfon war still. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Max! Ganz leise und weit weg.
Nina starrte auf das Babyfon. Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt. Sie musste wieder daran denken, wie er unten auf dem Asphalt gelegen hatte. Sie schloss die Augen
"Wo ist mein Teddy. Teddy, ich brauch dich doch. Bitte komm her. Es ist so kalt hier. Und ich kann nichts sehen."
"Max?" Ihr Herz raste.
"Mama?"
Die Stimme wurde von einem grässlichen Rauschen unterbrochen, als fahre ein Zug mit zerbrochenen Rädern an Max vorbei.
"Ich kann nichts sehen. Wo bist du?"
Nina riss den Stecker aus dem Babyfon. Ihre Hand zitterte und Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Sie zersauste sich die Haare, stand auf, nahm das Babyfon und hielt es an ihr Ohr. Schließlich steckte sie das Babyfon wieder an das Netzgerät.
Nina versuchte sich auf die Serie zu konzentrieren. In Wirklichkeit lauschte sie dem Babyfon.
"Geh weg da!"
Nina konnte sich nicht rühren.
"Wer bist du? Ich will wieder heim zu Mama. Mama, bitte hilf mir!“ Max Stimme überschlug sich vor Angst.
"Max?", Nina brachte das Wort kaum heraus. Das ratternde Geräusch wurde lauter und das Babyfon verstummte nach einem letzten Aufblitzen aller Lichter.
Nina schaltete es kurz entschlossen aus. Dann holte sie sich eine Flasche von Peters Schnaps. Ihr war egal, was er sagen würde.
Nina schaltete das Babyfon die ganze Woche nicht mehr ein, doch die Erinnerung, ließ sie nicht los. Nachts glaubte sie immer wieder, Max Stimme zu hören. Peter konnte sie nichts sagen. Eine Woche später saß Nina mit Peter am Abend vor dem Fernseher. Sie sahen sich die Millionenshow an. Peter trank ein Bier, Nina ein Glas gespritzten Wein. Aus dem Schlafzimmer wimmerte Anabell. Peter stand auf und schlug die Tür zu. Nina blieb einen Moment benommen sitzen. Dann erhob sie sich und ging zu Anabell. Das Baby gluckste erfreut und ihre kleinen Finger tasteten nach Ninas Brustwarzen.
Als sie nach dem Stillen zurückkam, bemerkte sie das eingeschaltete Babyfon. Sie sagte nichts, doch sie musste immer wieder auf das eine brennende Licht blicken. Nina beschloss, dass sie noch ein Glas Wein brauchte. Sie trank es schnell aus, doch das drohende Starren des Lichtes ließ sie nicht los. Ab und zu blinkte das zweite Licht auf, ohne dass ein Geräusch aus dem Gerät drang.
Dann drang ein leises Zirpen aus dem Gerät. Ninas Herz begann lautstark zu klopfen. Peter sah sie kurz an, verzog seine Miene, und trank einen großen Schluck Bier.
Nina musste sich zwingen, nicht zum Babyfon zu starren. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass alle Lichter in hektischem Rhythmus aufblinken.
"Ja, ich sag‘s dir doch. Peter hat mich aus dem Fenster geworfen."
Als Antwort drang ein verzerrtes, sehr tiefes Krächzen aus dem Babyfon. Nina erstarrte. Peter schien es nicht gehört zu haben.
"Was, sie haben ihn nicht ins Gefängnis geworfen?" Max war empört.
Die tiefe Stimme antwortete etwas, das Nina wieder nicht verstand.
"Nein, ich hab ihn nicht gestört. Ich war doch so traurig, weil sie mir den Teddy weggenommen haben."
Nina konnte einzelne Worte der tiefen Stimme verstehen.
"Teddy ... Schuld ... Strafe."
"Nein!", schrie Max plötzlich. "Ich lüge nicht. Peter hat mich hinausgeschmissen. Ich wollte nicht springen!" Etwas Hartes klatschte gegen Fleisch. Ganz deutlich war Max Stimme zu hören. Er hatte Angst.
"Bitte geh weg. Peter ist schuld!"
Peter griff blitzschnell zum Babyfon und warf es an die Wand. Das Gerät zerbrach und die Batterien fielen heraus. Im Nebenzimmer begann Anabell zu schreien. Nina lief zu ihr, um sie zu trösten. Peter sprach den ganzen Abend kein Wort, trank nur eine Flasche Bier nach der anderen.
Beide Teile des Babyfons wanderten am nächsten Tag in die Mülltonne. Ohne Worte einigten sich Nina und Peter darauf, niemals wieder ein Babyfon zu benutzen.
Anabell versucht, sich am Stuhl in die Höhe zu ziehen. Auf wackeligen Beinen tastet sie nach dem Ding mit den grellen Lichtern, aus dem so viele interessante Töne dringen. Sie gluckst fröhlich und ergreift den Drehknopf zum Einstellen des Radiosenders. Die Stimme des Nachrichtensprechers wechselt einem pfeifenden Ton. Aufgeregt dreht Anabell weiter. In schneller Folge dringt zuerst Tanzmusik, dann wieder der Nachrichtensprecher und zum Schluss nur mehr ein undeutliches Rauschen aus dem Radio.
Hinter ihr öffnet Nina die Post. Unter ihren Augen liegen dunkle Schatten und sie sieht sehr müde aus. Peter hat sich seit drei Wochen nicht gemeldet.
Die erste unbezahlte Rechnung legt sie trotzig zur Seite. Bei der zweiten steigen ihr Tränen in die Augen und als sie die Nachricht der Bank öffnet, dass ihr Konto gesperrt ist, legt sie den Kopf auf den Tisch und lässt den Tränen ihren Lauf.
Aus dem Radio dringen schwache Stimmen. Anabell tapst mit den Fingern nach dem Lautsprecher. Ein kleiner Junge ruft aus dem Radio. Mal lauter, mal leiser.
"Hilfe," ruft er.
"Mama, hilf mir doch! Es ist so kalt hier. Und bring Teddy mit. Sie haben mir meinen Teddy genommen. Bitte bring doch den Teddy mit. Mama, warum hilfst du mir nicht?"
Die Stimme wird immer deutlicher. Anabell fingert an der Antenne herum und plötzlich ist jedes Rauschen weg.
"Mama, er sagt, du weißt alles. Du kannst es wieder gut machen. Du musst mir den Teddy bringen. Er sagt, dann kann ich vielleicht hier weggehen. Es ist so kalt und so dunkel. Bitte hol den Teddy. Er ist hinter der Mauer, wo die Mülltonnen stehen. Die Schuhmann Zwillinge haben ihn dort hin geschmissen. Mama, bitte lass mich nicht alleine."
Nina starrt verdutzt zum Radio. Anabell hat das Interesse am Radio verloren und krabbelt unter den Tisch.
"Ich weiß, dass du mich hörst, Mama. Er kann dich sehen. Bitte geh und hol den Teddy. Er ist immer noch dort. Ich halt das hier nicht länger aus."
Mit einem entsetzten Aufschrei stürzt Nina zum Radio und wirft das Gerät auf den Boden. Dabei wird der Stecker aus der Dose gerissen und das Gerät verstummt. Anabell weint hinter dem Tisch los. Nina nimmt sie und versucht sie weinend zu beruhigen. Sie will ihr den Schnuller in den Mund zu stecken, doch ihre Hände zittern so stark, dass sie es nicht schafft. Anabell nimmt ihn schließlich selbst und saugt zufrieden daran.
Nina steckt den zweiten Radio und den Fernseher aus.
Dann füttert sie Anabell. Ihre Hände zittern immer noch so stark, dass sie den Löffel kaum halten kann. Dann bringt sie das Kind zur Bett und nimmt die dreifache Dosis an Schlaftabletten.
Am nächsten Tag ist ihr Gesicht bleich und eingefallen. Sie trinkt mehrere Gläser billigen Schnaps.
Anabell schreit, weil ihre Windeln voll sind, doch Nina ist nicht in der Lage sie zu wechseln. Gegen fünf Uhr rafft sie sich auf, geht hinaus um frische Luft zu schnappen. Sie bringt die Post mit. Nachdem sie Anabell gewickelt hat, macht sie die Briefe auf. Sie wird in einem Monat die Wohnung räumen müssen. Peter, denn sie vor einem halben Jahr geheiratet hat, verlangt die Scheidung und beansprucht das Sorgerecht für seine Tochter. Nina wirft die Papiere zu Boden, zieht sich an und sucht nach Max Teddy. Draußen nieselt es und die Dämmerung ist bereits hereingebrochen. Nina findet den Teddy völlig verschmutzt in einem Strauch auf dem Hinterhof des gegenüberliegenden Hauses. Sie streichelt das durchnässte braune Fell, ignoriert Frau Kipplinger, die sie fragt, ob sie sich nicht die Schuhe abputzen könne und dann kann sie nicht mehr aufhören zu weinen.
In der kleinen Wohnung gibt sie Anabell die letzten Kekse, ruft die Polizei an und sagt, dass ein Kind alleine in der Wohnung sei. Dann nimmt sie alle Schlaftabletten, lässt die Badewanne randvoll ein und schneidet sich die Pulsadern auf. Den Teddy drückt sie sorgsam an sich.
Anabell liegt in ihrem Bettchen und starrt an die Decke. Ihre Windel ist voll. Sie hat eine Stunde geschrien, doch ihre neue Mama hat sie nicht gehört. Das Babyfon neben ihr hat das Weinen fast rauschfrei zum Empfänger im Schlafzimmer übertragen, doch Sandra kommt nicht. Anabell kann Sandra sagen. Sie sagt nicht Mama zu ihr, wie es sich Peter gewünscht hat. Peter hat ihr schon einmal eine Ohrfeige gegeben, doch Sandra hat ihn ermahnt, dass die Kleine ja nichts dafür könne.
Plötzlich jault es aus dem Babyfon. Es klingt, als falle das Gerät auseinander. Anabell hört interessiert zu.
Zuerst sind die Stimmen nur sehr leise zu hören.
„Hör auf, hör doch auf, ich will nicht“, sagt Sandra
"Blödes Weib“, antwortet die andere Stimme. „Was glaubst du, wie lange dein Freund seine Job behält, wenn ich es nicht will?"
"Arschloch", sagt Sandra. Etwas klatscht, und Sandra schreit auf.
"Du kannst nicht sagen, du hättest es nicht gewollt." Die Stimme des Mannes ist jetzt böse. Anabell hat Angst.
"Du tust mir weh!", weint Sandra.
„Gib zu, dass dir's gefällt", fährt sie die andere Stimme an. Dann hört Anabell nur mehr ein lauter werdendes Schnaufen.
Schließlich sagt einer der Männer:
"Da ist für dich. Und morgen bring ich dir wieder was zum Reinziehen mit. Bin ja nicht undankbar, mein Schätzchen.“
Der zweite sagt:
"Denk daran. Du kannst auch auf der Straße herumhängen und dein Freund gleich mit, wenn du uns nicht willst."
Dann kommen zwei Männer aus dem Schlafzimmer. Es sind Herr Urban und Herr Schuhmann. Als sie herauskommen, geht das Babyfon aus.
Nachdem sich die Türe geschlossen hat erstrahlt das Babyfon in allen Farben. Blau, rot, gelb und das viel heller als sonst.
"Anabellchen", sagt die Stimme, "es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht alleine lassen sollen." Im Hintergrund ist ein undefinierbares Murmeln zu hören. Nina scheint ihm zuzuhören.
"Ich weiß, dass ich es verdient habe", sagt sie. Und dann:
"Anabell: Du bist nicht alleine. Deine Mama schaut immer auf dich, egal was passiert. Genauso wie dein Bruder.“
Anabell sieht Sandra mit dem Herrn Urban weggehen. Anabell sagt immer artig Hallo und Auf Wiedersehen, doch Herr Urban ignoriert sie. Die Stimmen aus dem Babyfon haben ihr das beigebracht. Sandra, ihre Stiefmutter, schaut sie manchmal komisch an, wenn sie etwas tut, das sie ihr noch nie erklärt hat, doch sie hat sich inzwischen daran gewöhnt, dass die stille Anabell auf so allerlei Dinge alleine draufkommt. Letztens hat sie doch glatt mit dem Feuerzeug herumgespielt und beinahe die Vorhänge angezündet.
"Komme gleich wieder", sagt sie, und sperrt die Tür von außen ab.
Anabell weiß sich immer zu helfen. Sie jammert nie, wenn Sandra weg ist. Wieder denkt Sandra daran, wie unheimlich sie Anabell oft ansieht und wie sie nie nach etwas fragt. Andererseits ist sie froh, so eine Stieftochter zu haben. Andere Mütter können ihr Kind nicht einfach den halben Tag alleine lassen.
Als Sandras klackende Schuhe nicht mehr zu hören sind, geht Anabell zum Babyfon und schaltet es ein.
"Hast du den Zweitschlüssel?", fragt Nina.
"Ja", antwortet Anabell.
"Sehr gut. Das Feuerzeug hat sie in ihrem Nachtkästchen versteckt. Es ist ganz hinten, unter der Schmuckdose." Die Lichter des Babyfons glimmen in einem sanften Orange. Die Übertragung ist heute so perfekt, als stünde Nina direkt vor ihr.
Anabell läuft mit dem Babyfon in der Hand ins Schlafzimmer, nimmt das Feuerzeug, und sagt:
"Ich hab's." Sie steckt in einem zu kleinen schmutzig-weißen Kleid. Ihr blondes, langes Haar wird von einer zerknitterten Masche zusammengehalten.
"Anabell, hör mir genau zu." Nina und Max klingen aufgeregt. Sie haben Anabell schon seit Tagen viele Dinge tun lassen, die Anabell nicht versteht.
"Du nimmst jetzt die Tasche, die du vorbereitet hast und das Babyfon befestigst du am Gürtel von deinem Kleid."
Anabell bekommt den Clip nicht über den Gürtel. Verzweifelt versucht sie es statt dessen in den vollgepackten Rucksack zu stecken.
"Bitte probier es noch einmal. Nur Geduld, kleine Schwester", sagt die Stimme von Max.
"Bald haben wir es geschafft." Im Hintergrund ist ein beständiges Murmeln zu hören. Es schwillt an und ab. Jetzt wird die Übertragungsqualität schlechter.
"Deine Stiefmutter ist wieder beim Urban", kreischt Mamas Stimme. Anabell hängte das Gerät an den Gürtel. Die Lichter leuchteten in einem tiefen Rot.
"Ich habe meine Puppe vergessen", sagt Anabell.
"Beeil dich", antwortet Max. "Peter wird bald kommen. Er darf dich nicht sehen."
Anabell hat nur die eine Puppe mit dem fehlenden Bein. Sie stammt von ihrer Mutter, darum weigert sie sich beharrlich, das alte und verschmutze Spielzeug wegzuwerfen.
Die Stimme von Max ist freudig aufgeregt:
"Jetzt geh in den Keller."
Anabell sperrt auf. Draußen ist niemand. Sie läuft die Stiege hinunter, die Kellertür ist nur angelehnt, weil sie gestern ein Eisenstück zwischen Tür und Angel gelegt hat, als Herr Urban mit dem Wartungstechniker unten war.
Die Eisensäge liegt im Keller auf ihren Platz. Anabell sägt damit die Gasleitung an. Genau dort, wo Max es ihr sagt.
"Geh zum Stiegenaufgang", sagt Max.
"Du musst ein paar Zeitungen mitnehmen. Die stopfst du unter den alten Kasten, der ganz vorne steht. Dann zündest du das Papier an und läufst raus so schnell du kannst. Hast du verstanden?"
Anabell nickt.
Das Feuer lodert hoch.
"Sehr gut. Jetzt beeil dich, mein Schatz", sagt ihre Mama.
Ein Murmeln erklingt aus dem Hintergrund.
"Sie sind alle da", sagt die Stimme ihrer Mutter. Jetzt raus und schieb den Keil unter die Eingangstür, wenn du draußen bist.
Als Anabell den Keil unter die Eingangstür schiebt, hört sie Peter nach oben stapfen.
"Das hast du sehr gut gemacht", flüstert Max. Das Rauschen wird jetzt stärker. Immer wieder glaubt Anabell Worte in einer fremden Sprache daraus zu hören.
"Haben wir das nicht prächtig gemacht?" fragt Max jemand.
Anabell hört nicht weiter zu. Sie hüpft die Straße entlang und freut sich auf das Einkaufen. Auf das Einkaufen mit Mamas geheimer Geldbörse.
Es ist ein schwüler Sommertag, doch der Regen wird noch eine Weile auf sich warten lassen. Als sie um die Ecke biegt, hörte sie eine Explosion hinter sich.
Anabell's Hand streicht über den rauen Mauersockel. Das Babyfon an ihrem Gürtel schaltet sich mit einem anschwellenden Knistern ein. Aus dem Rauschen schält sich Max Stimme.
"Darf ich jetzt gehen", sagt er zu jemand. "Ich habe alles getan, was du gesagt hast."
Ein heftiges Knacken übertönt die Antwort, die ihm jemand gibt.
"Du hast es versprochen", weint er. "Du hast gesagt, wenn ich alles tue, was du mir sagst, dürfte ich von hier weg."
Das Knacken wird zu einem ununterbrochenen Stakkato. Als würde das Babyfon gleich explodieren.
Plötzlich dringt Max stimme deutlich aus dem Rauschen hervor:
"Bitte", fleht er. "Ich halte es hier nicht aus. Lass Mama und mich gehen. Bitte!"
Die darauffolgende Antwort besteht aus unaussprechlichen Vokalen, doch irgendwie deuten sie einen Sinn an.
"Wer bist du, dass ich dir mein Versprechen halten soll? Du wirst ewig hier bleiben!", aber es könnte auch etwas ganz anderes gewesen sein.
Eine Frauenstimme wispert etwas, das von heftigem Rauschen überlagert wird.
Plötzlich wird aus dem Rauschen ein hohes, fast melodischen, Pfeifen.
"Mama, da ist ein Licht. Es ist so warm. Komm, schnell."
Mamas Stimme wird von einem schrillen Pfeifen übertönt. Max Stimme ist hingegen klar zu hören, als er weiterredet.
"Da ist es doch. Du musst es doch fühlen. Es hat ihn vertrieben. Es ist so schön."
Alles Traurige ist aus Max Stimme verschwunden.
Nach einer kurzen Pause, in der Töne wie von Wellen, die auf einer Steilwand zerschellen, aus dem Babyfon dringen, sagt Max:
"Ich gehe da hin. Bleib bitte nicht zu lange hier. Du erfrierst sonst. Ich hab dich lieb."
Ein kurzes Schluchzen dringt aus dem Babyfon.
"Teddy, pass auf Mama auf. Ich werde das Licht zu ihr schicken.“
Das Rauschen wird lauter. Dann dringt etwas aus dem Babyfon, das ein meckerndes Lachen oder eine schnelle Abfolge von quietschenden Störungen sein könnte.
Jemand schluchzt ein weiteres Mal und dann schaltet sich das Gerät ohne einen weiteren Laut aus.