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Das Bücherregal

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07.01.2004
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Das Bücherregal

Es war einmal ein großes, hohes und stark gebautes Bücherregal. Es lebte in einem Bücherladen in einer Kleinstadt und interessierte sich für die Gefühle der Menschen. Die konnte man in den Büchern finden.
Annika, Petra und Julia arbeiteten im Buchladen. Stellten Bücher in das Bücherregal oder holten sie heraus. Dieses Bücherregal enthielt und trug die Sachbücher. Ein Teil war in Philosophie und der andere in Psychologie eingeteilt. Laufend kamen und gingen die Bücher. Das Bücherregal grüßte bei Ankunft freundlich, umarmte die Buchdeckel mit Holz und wünschte gute Weiterreise, wenn das Buch dann verkauft wurde.
In diesen beiden Themengebieten war das Regal zum Gelehrten geworden. Ganz genau konnte es herbeten, was denn Angst ist, woher die Wut kommt und wo das Sein liegen sollte oder auch nicht. Alles was das Regal zusammenhielt, war der unbändige Wissensdurst.
Jeder Tag wurde durch neue Aspekte, in neu bestellten Büchern, bestimmt. Bis eine alte Frau aus Versehen das falsche Buch neben Erich Fromm und Xenophanes stellte. Das änderte alles.
Neugierig las das Regal darin. Schon die ersten Worte fesselten wie nie. Eine ganz andere Welt tat sich auf, das Regal war auf einmal Mensch und konnte die Menschen verstehen. Das war ein Roman, erkannte es und knarrte vergnügt. Davon hatten die anderen Regale erzählt. Es war hin und weg und so kam es wie es kommen musste, das Regal verliebte sich in das Buch und erkannte dabei, was Liebe ist.
Die anderen Bücher ließ es stehen und blätterte nur noch in diesem einen Roman. Er steckte in einem harten roten Umschlag und ein Menschenpaar war darauf zu sehen. Sie waren fast nackt und das Haar der Frau wehte im Nachthimmel. Das sah fast so aus, wie das Bild an der Wand. Drüben neben den Kunstbüchern. Nur die Muschel fehlte und es war nicht Nacht. Das Regal las das Buch, doppelt, quer, von der Seite und rückwärts. Alles was in dem Buch steckte wollte es haben. Es besitzen, hegen, beschützen und pflegen. Da wo das Buch stand, war das Holz besonders warm und weich. Das Leben nach dem Wissen war für das Regal nun unnütz. Hier steckte alles, was es wissen musste. Hier, in diesem einzigen Buch. Durch die Holzfasern leuchtete Liebe, wenn es an das Buch dachte. Eifersucht stieg auf, wenn ein Kunde das Buch in die Hand nahm, Erleichterung blitzte, wenn er es zurückstellte und eines Tages wurde es nicht gleich wieder zurückgestellt und die Eifersucht veränderte sich zu Angst, Traurigkeit und Wut. Es war die alte Frau, die jetzt das Buch suchte, dass sie Wochen vorher fehlverlegt hatte. Die Schmerzen waren schlimmer, als bei der Zuschneidung. Während die alte Frau, den Schatz, das Buch in den Händen hielt und überlegte, kippelte das Regal von links nach rechts und in seinem Innern pochte alles.
Die alte Frau schüttelte den Kopf, das Regal wurde 20 kg leichter und Annika stellte das Buch wieder an seinen alten Platz. Der wurde auf der Stelle wieder warm. Zärtlich liebkoste das Holz das Papier.
„Ach ich glaub, ich nehm es doch“. Diese alte Hexe, das Bücherregal traf ein Schlag. Da kam Annika wieder, griff nach dem roten Einband. Mit aller Kraft hielt das Regal das Buch. Sie konnte es nicht herausnehmen. Julia und Petra mussten dazu kommen. Die hölzernen Kräfte schwanden, fest drückte sich das Holz an das Papier und das Bücherregal zerfiel.
Unter den Holzteilen fand man dann das Buch. Die alte Frau kaufte es und wunderte sich lange darüber, dass alle Wörter, Satzzeichen und Seitenzahlenfehlten. Es war innen weiß wie Schnee.

 

Was für eine schöne Geschichte :)
Das arme Regal
Wie gemein
*schnief*
Hat mich richtig mitgerissen!

 

Hallo Rainer
Eine wunderschöne, gelungene Geschichte, finde ich. Leserfreundliche, ansprechende kurze Sätze, klasse!!!
Eine tolle Idee..

Dem soll auch kein Abbruch tun, wenn ich dir noch ein paar Anregungen zum Überdenken gebe.


fehlverlegt (gibt es dieses Wort?)
Die Seitenzahlenfehlten (auseinander)
pochte alles (vielleicht besser: pochte es)

Annika, Petra und Julia arbeiteten im Buchladen. Stellten Bücher in (zwischen Buchladen und stellten besser ein Komma)

Alles, was in dem Buch steckte, wollte...

Während die alte Frau, den Schatz, das Buch in den
(auch zu verstehen ohne "das Buch"...

Viele Grüße
von Karin

 

Hallo Robert,

eine nette kleine Idee! Allerdings frage ich mich immernoch, wie das Regal in den Seiten blättern kann... Könntest Du das nicht irgendwie ändern, so dass das Regal den Inhalt des Buches auf eine andere Art aufnimmt, zum Beispiel durch eine Art Osmose?

Lieben Gruß

chaosqueen

 
Zuletzt bearbeitet:

Eine wundervolle Idee und gute Umsetzung.

Der Ausführung eines meiner 'Vorgänger', dass Unklarheiten darüber bestehen, wie das Regal ein Buch liest möchte ich entgegen halten, dass wir uns hier im Bereich der Phantastik befinden und nicht in jedem Falle absolutistischer Erklärungsnotstand herrscht, denn ansonsten würde Regal auch nicht 'leben' ... Und - auch wenn das so manchem vielleicht abgeht - es ist in diesem Bereich völlig klar, dass bestimmte Handlungen dem Gedankenspiel des Lesers oder der Leserin überlassen sind und auch genau dazu anregen soll(t)en.

Mit anderen Worten: Mir hat die Story wirklich gefallen, auch wenn ich mir eine blumigere Umsetzung vorstellen kann ;)

x

 
Zuletzt bearbeitet:

Für jede Rubrik gibt es einen Empfehlungsthread. Alsbald wird der Titel deiner Geschichte mit einem Link hier
stehen. Klick mal auf "Empfehlungen" und schau nach! Vielleicht steht er ja schon da?

Ich hoffe, dass mein Link jetzt funktioniert ;)
Ja, tut er, habs ausprobiert.

Eine tolle Geschichte, übrigens!

Ein bisschen was hab ich trotzdem zu meckern:

- ...die jetzt das Buch suchte, dass sie Wochen vorher fehlverlegt hatte
…, das
und „fehlverlegt“ ist nicht ein Wort nach meinem Geschmack.

- ...Seitenzahlenfehlten
Seitenzahlen fehlten

Auch für meinen Geschmack könnte der Text ein bisschen blumiger ausfallen. Und die Idee von chaosqueen, dass das Regal nicht blättert sondern einfach nur liest, schmökert, sich vertieft, wie auch immer, würde dem Leser die Freiheit lassen, sich vorzustellen wie es das Regal nun anstellt, in den Büchern zu schmökern. Denn das Blättern ist zu sehr eine Tätigkeit, als dass es von dem Regal ausgeführt werden kann.

Vor allem das Ende hat mir sehr gut gefallen und, dass das Regal das Buch "doppelt, quer, von der Seite und rückwärts" liest. Aber auch diese Stelle:
"Es besitzen, hegen, beschützen und pflegen."


Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Robert,
mir hat deine Geschichte auch gut gefallen, witzige Idee. Allerdings finde ich eine Sache etwas unlogisch.
Als die alte Frau das Buch, nachdem sie es wiedergefunden hat in den Händen hält, entschließt sie sich zunächst, es nicht zu kaufen. Also nimmt die Angestellte der Buchhandlung das Buch und stellt es wieder in das besagte Regal. Aber da es die alte Frau damals falsch eingeordnet hatte, so müsste es doch die Angestellte nun normalerweise wieder in das richtige Regal einordnen. Oder hab ich da was falsch verstanden?

LG
Blanca :)

 

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