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Das Böse in uns allen

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06.05.2008
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Das Böse in uns allen

Mache nie die Rechnung ohne den Wirt, weil Gott alles sieht, predigte Pastor Wolfgang Schwarz immer seiner Gemeinde. Diese bestand eigentlich aus genau 543 katholischen Kirchenmitgliedern. Leider fanden sich zum sonntäglichen Gottesdienst morgens um zehn Uhr immer nur gerade um die 30 seiner Schäfchen ein. Pastor Schwarz fragte sich des Öfteren: Wie viele von den Wenigen waren auch noch Heuchler? Wer führte ein Doppelleben? Man kann eine noch so gute Menschenkenntnis besitzen, man kann der beste Psychiater auf der ganzen Welt sein, aber nur der Allmächtige kann in die Köpfe von Menschen schauen. Gott weiß ganz genau, was im Inneren seiner Geschöpfe vor sich geht.

Oma Schmitz, die 93-Jährige, war für ihn ein gottesfürchtiges Weib und gehörte sicher nicht zur Fraktion der Heuchler. Heuchler, das waren für den Pastor Leute, die vorgaben Christen zu sein, deren Taten aber nicht in Einklang mit der christlichen Lehre standen. Regelmäßiger Besuch des Gottesdienstes und ein Kettchen mit einem Kreuz um den Hals machen Menschen nicht zum Christen. Viel wichtiger für Gott ist, wie ein Mensch sich verhält, wenn er nicht in der Kirche ist, wenn ihm keiner zuschaut.

Wolfgang Schwarz studierte zunächst drei Semester Medizin, bis er aufgrund von göttlicher Barmherzigkeit zum Glauben an den Herrn kam und Pastor wurde. Vor anderthalb Jahren zog er ins Dorf und übernahm das Kirchenamt, weil sein Vorgänger, Pastor Friedrich Jungblut, sich zur Ruhe setzte.

Zu Weihnachten kamen erheblich mehr Gemeindemitglieder zur Messe, einen sah man jedoch dort nie. Im Gegensatz zu den Kirchenbesuchern waren seine Sünden nur zu offensichtlich. Der 39-jährige Frank Heist zog vor sechs Monaten in den Ort und raubte dem Dorf den Frieden. Er war frisch geschieden, seine erste Frau soll er angeblich fast totgeprügelt haben. Auch seine jetzige Lebensgefährtin Monika Busse wurde von ihm geschlagen. Und das nicht nur ein Mal. Jeder im Dorf wusste das. Jeder im Dorf wusste, dass Heist auch die 13-jährige Tochter seiner Lebensgefährtin misshandelte. Und niemand im Dorf hatte bisher etwas dagegen getan.

Gott sieht alles, weil er allgegenwärtig ist, predigte Pastor Schwarz immer.

Nach den Sonntagsmorgen-Gottesdiensten steuerte der 39-jährige Diener des Herrn in der Regel zunächst ins Wirtshaus, um sich mit einigen Bierchen seine ausgetrocknete Kehle zu schmieren. Gerne saß er dabei mit Bürgermeister Brandt zusammen. Und auch Dorfsheriff Brockmeyer leistete ihm oft Gesellschaft. Brandt war zehn Jahre älter wie der Pastor, Atheist Brockmeyer acht. Die drei unterhielten sich am liebsten über wahre Verbrechen und fiktive Kriminalgeschichten. Brockmeyer offenbarte dem Pastor immer wieder, dass, wäre er kein Polizist, er hätte diesem Schwein Heist schon längst eine kräftige Lektion erteilt. Eine sehr kräftige Lektion. Das verriet Brockmeyer allerdings nur dem Pastor und dem Bürgermeister, es blieb unter ihnen. Dem konservativen Bürgermeister war Frank Heist gleichfalls ein Dorn im Auge. Dieser Typ gehörte nicht in seine ehrenwerte Gemeinde. Was dazu kam, die Tochter von Heists Lebensgefährtin war seine uneheliche Tochter. Dieses Geheimnis kam nie an die Öffentlickeit, vor einem Jahr beichtete Brandt es aber Pastor Schwarz. Monika Busse, eine Frau, mit der Bürgermeister Brandt einst fremd ging.

Beim Frühschoppen sah man Frank Heist schon lange nicht mehr. Der musste sein Bier woanders trinken, entweder zu Hause oder draußen auf der Bank am Denkmal, als ihm der Wirt Hannes Hausverbot erteilte. Hannes war es leid mit diesem Kerl, der Gäste provozierte, Schlägereien anfing und seinen Deckel nie zahlen konnte. Bis heute schuldet Heist dem Wirt knapp 500 Euro für Getränke und zertrümmertes Mobiliar. Denn Heists Arbeitslosigkeit führte dazu, dass seine Schulden nicht weniger wurden, ganz im Gegenteil. Der reichliche Alkoholkonsum und die Unzufriedenheit über sein Leben waren ein Teufelskreis.

Am Montagmorgen fünf Tage vor Heiligabend reduzierte sich die Einwohnerzahl des Dorfes um eine Person. Es war nicht Oma Schmitz, die Dorfälteste, die von ihnen gegangen war. Ein Spaziergänger fand Frank Heist tot im Bach liegen.


Heute, kurz nach Weihnachten

Gleich ist es neun. Einsam sitze ich am Küchentisch und habe mein Frühstück gerade beendet. Eine Tasse Kaffee könnte ich mir noch genehmigen. Es klopft an meiner Tür. Zu Hause habe ich selten Besuch. Es wird Brockmeyer sein, darauf war ich vorbereitet. Er wird gekommen sein, um mir, Pastor Wolfgang Schwarz, zu sagen, dass bei der Obduktion der Leiche Änestethikum nachgewiesen wurde.

Ehre Gott und liebe deinen Nächsten.

Ich mache die Tür auf, er ist es.
„Darf ich?“
Ich lasse ihn rein. Wir gehen in die Küche und mein Gast setzt sich an den Tisch.
„Kaffee?“, frage ich.
Brockmeyer nickt stumm. Ich nehme eine saubere Tasse und gieße den Rest heißen Kaffees ein. Der Beamte bedankt sich und ich setze mich an den Tisch dazu.
„Es geht um Heist, nicht wahr?“ Das will ich nicht wirklich wissen, ich weiß, es geht um Heist.
„Genau. Der Fall ist noch nicht ganz gelöst. Frank Heist starb am Sonntag, dem 18. Dezember gegen Mitternacht. Tod durch Ertrinken.“
„Ein dummer Unfall“, sage ich nach einem kurzen Schweigen.
„So ungefähr. Aber da ist noch etwas.“
„Und das wäre?“
Der Beamte schüttet etwas Milch in seine Tasse. Ich reiche ihm meinen Teelöffel.
„Bei der Obduktion der Leiche stieß man auf ...“
„Ordentlich Alkohol“, unterbreche ich ihn.
„Das wäre nichts Ungewöhnliches. Das würde einen Unfall erklären. Sturzbetrunken in den Bach gefallen. Nein, Benzodiazepine.“
„Benzodia...?“, frage ich scheinheilig, stecke meine rechte Hand in die Hosentasche und spiele nervös mit dem Fläschchen.
„Was soll das sein? Benzo...?“
Brockmeyer nimmt mit seinen Augen die Tasse Kaffee ins Visier.
„Ein Änestethikum, ein Narkosemittel. Findet sich unter anderem in Psychopharmaka. Nun gut. Warum nahm Heist ein solches Mittel? Wer hat es ihm verschrieben? Ein Arzt auf jeden Fall nicht.“
„Hm, gute Frage ...“
„Nebenbei bemerkt, K.-o.-Tropfen enthalten ebenfalls Benzodiazepine. Und was noch Merkwürdiger ist: Warum fanden wir das Mittel nicht bei ihm?“
Ich überlege einen Augenblick und schaue mich im Raum um.
„Dies lässt eventuell darauf schließen, dass ihn zunächst jemand betäubt haben könnte, um ihn dann ...?“
Brockmeyer nimmt vorsichtig einen Schluck.
„Schmeckt irgendwie seltsam der Kaffee?“
„Das liegt am Weihwasser“, scherze ich und versuche dazu eine gute Miene zu machen.
„Unser Herr Pfarrer macht Witze! Die sollte er in der Kirche reißen, dann kommen auch mehr.“
„Der Gottesdienst ist keine Comedyshow und die Bibel eine ernste Angelegenheit. Schließlich geht es darum, wo man die Ewigkeit verbringt; im Himmel oder in der Hölle.“
„Ich glaub nicht an die Ewigkeit, für mich ist der Tod das absolute Ende eines Lebewesens. Und ich glaube auch nicht an einen Gott, der Böses zulässt. Ich glaube nicht an einen Gott, der Menschen in armen Ländern durch Hungerskatastrophen ums Leben kommen lässt.“
„Eine noch größere Katastrophe ist das tatenlose Zusehen. Es gibt eine Studie, die besagt, dass das Geld von den sieben reichsten Menschen ausreichen sollte, den Hunger in dieser Welt zu beseitigen.“
„Ich glaub nicht an einen Gott, der Verbrecher ungestraft lässt.“
„Das ist falsch!“, sage ich mit scharfer Stimme. „Der Mensch wird das ernten, was er sät. Alles ist nur eine Frage der Zeit.“
„Davon bin ich nicht überzeugt. An einen Gott, den man nicht sehen kann, der aber selbst nichts übersieht, an einen solchen kann ich nicht glauben. Für mich und vor Gericht zählen Beweise. Ich glaube an richtig und falsch.“
„Und an die schmale, zerbrechliche Linie dazwischen“, füge ich hinzu.
Brockmeyer nimmt wieder vorsichtig ein Schlückchen. „Wer an Gott glaubt, darf die Existenz des Teufels nicht leugnen“, sagt er.
„Natürlich nicht, der Teufel ist real. Er wird Satan, oder auch Luzifer genannt, und war einst im Himmel der schönste aller Engel. Nach der Erschaffung von Adam und Eva befahl Gott seinen Engeln, den Menschen anzubeten, jedoch weigerte sich Satan und meinte, er werde doch nicht eine Kreatur aus Staub von der Erde anbeten, die geringer und jünger ist als er. Er ist schließlich vor ihm erschaffen worden, deshalb soll der Mensch ihn anbeten. Stattdessen wollte Satan sein wie Gott. Er wollte den Himmel emporsteigen und sich neben dem Thron vom Allmächtigen setzen. Durch seinen Stolz und seine Überhebung gegenüber Gott wurde aus Satan ein gefallener Engel. Seitdem geht seine ganze Feindschaft, Neid und Schmerz gegen uns Menschen, weil Satan durch uns vertrieben und entfremdet wurde von seiner Herrlichkeit, die er im Himmel inmitten der Engel hatte.“
„Soso ...“, meint Brockmeyer gelangweilt.
„Engel sind spirituelle Wesen. Der Teufel ist der Vater der Lüge, der uns im Kopf angreift. Unsere Gedanken werden dadurch beeinflusst und es kommt zu Emotionen, die wiederum schlechten Einfluss auf unsere Taten haben können. Wenn jemand die Kontrolle über sich verliert, der ist von allen guten Geistern verlassen, wie man so schön sagt. Da hat der Teufel schon gesiegt. Man kann sowohl sagen, Satan ist ein Geist der Irreführung, der Täuschung. Böse Menschen sind von solchen dämonischen Geistern besessen und werden zu Kriminellen. Durch das Töten von solchen Übeltätern kann man jedoch nicht diese dunklen, antichristlichen Mächte in dieser Welt ausrotten.“
Der Dorfsheriff guckt mich ungläubig an, unbeirrt erzähle ich weiter.
„Ein Mensch, der Gott liebt, gehorcht seinem Schöpfer. Jeder Mensch hat einen freien Willen von Gott bekommen, der Sündenfall im Garten Eden zeigt es ganz deutlich. Entweder man hält sich daran, was Gott gesagt hat, also lässt man seine Finger von verbotenen Früchten ...“
„Oder nicht ...“, unterbricht mich Brockmeyer.
„Ganz recht. Oder man tut etwas, was Gott verboten hat, man sündigt. Die Sünde ist die Ursache für das Übel in dieser Welt. Was erlaubt ist und was nicht, das alles steht in der Bibel, dem Wort Gottes. Daran orientiere ich mich, an dem Wort von Jesus Christus, dem Gott des Lebens und der Auferstehung. Und nur Seine Urteile sind gerecht.“
„Auge um Auge ...“
„Zahn um Zahn, ich weiß“, falle ich in sein Wort. „Mit dieser Philosophie bestünde unsere Gesellschaft bald nur noch aus Blinden und Gebissträgern. Das ist keine Gerechtigkeit, das ist Rache. Es steht in der Schrift: Die Rache ist mein, so spricht der Herr. Auge um Auge, die Vergeltung, funktioniert nicht. Jesus forderte stattdessen: Liebet eure Feinde! Mit Liebe ist hier kein Gefühl gemeint, sondern eine Entscheidung, wie man andere behandelt. Liebet eure Feinde, das funktioniert, denn der Herr wird´s schon richten. Selbstjustiz ist verboten, zum Glück.“
„Richtig, das hat seinen guten Grund“, stimmt mir Brockmeyer zu. „Ich glaube an den Zufall, an die Verkettung von Umständen.“
„Entweder man glaubt an Gott oder an Zufall. Für mich ist Gott der souveräne Herrscher des Universums, der alles unter Kontrolle hat und deshalb keine Fehler macht. Er ist vollkommen. Und das schließt Zufall aus. Das Chaos und die Angst in dieser Welt sind kein Zufall, sie haben Gründe. Friedrich Hebbel hatte einst treffend gesagt: Viele glauben nichts, aber fürchten alles. Es gibt wenig Glaube, aber viel Angst in unserer Welt. Ursache für Angst ist ein fehlendes Gottesbewusstsein, denn ein fester Glaube an Gott befreit und gibt Hoffnung. Man muss Gott gefallen, und nicht dieser Welt. Gott hasst Selbstgerechtigkeit und Selbstjustiz und auch die sündigen Prioritäten der heutigen Spaßgesellschaft. Sünde bedeutet Trennung von Gott, und der Lohn der Sünde ist der ewige Tod im Feuersee, der Hölle.“
„Dein Vorgänger wollte mir immer weismachen, dass wir alle schuldig sind.“
„Natürlich! Hier ein bequemes Leben führen zum Beispiel geht zulasten der Ökologie und der Dritten Welt. Schuldig sind alle vor Gott. Für einen Gläubigen wie mich geht es in dieser Welt nur um Sünde und Vergebung. Jeder Mensch ist ein Sünder, aber durch den Glauben an Jesus Christus werden die Menschen von ihren Sünden freigesprochen, denn durch das Blut von Jes...“
„Komm, lass gut sein“, unterbricht mich Brockmeyer, „predige hier jetzt nicht das Evangelium. Nun gut, wo war ich stehen geblieben?“
Ich überlege einen Moment. „Beim Kaffee, der nach Weihwasser schmeckt?“
„Nein, davor.“
„Das Heist betäubt wurde?“, antworte ich.
„Ach ja. Und?“
„Und ... das jemand seinen Tod durch Ertrinken arrangiert haben könnte“, sage ich leise. „Er wurde vorher betäubt und dann mit dem Kopf in den Bach getaucht, zum Beispiel.“
Mein Gast fängt plötzlich an, zu gähnen.
„Der Fall Heist hat mir in den letzten Tagen den Schlaf geraubt.“
„Kann ich mir denken.“
Dann blickt Brockmeyer mir tief in die Augen.
„Heist wurde gegen 23 Uhr zum letzten Mal am Denkmal lebend gesehen.“
„So ...“ Ich kratze mich mit einer Hand am Kinn.
Brockmeyer beugt sich über den Tisch. „Wo waren Hochwürden um diese Zeit?“
„Hier in meiner Wohnung“, antworte ich. „Ich war am Schlafen, das sagte ich bereits.“
„Heist starb gegen Mitternacht. Um diese Zeit hat dich jemand gesehen, unten am Bach.“
„Eine glatte Lüge!“, versichere ich.
Moses war ein Mörder, er erschlug einen Ägypter. Trotzdem war Moses ein Kind Gottes, ein Auserwählter, der das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft befreite. Mit dem Tod von Frank Heist war das Dorf nach einem halben Jahr wieder frei, frei von einem Tyrannen. Ich stehe unter Verdacht. Man wusste genau, wie sehr ich die wilde Ehe hasste, wie sehr ich körperliche Gewalt verabscheute. Aber es ließ sich nur schwer erahnen, wie sehr ich Heist die Hölle gewünscht hatte. Kein Mensch konnte meine Gedanken lesen.
„Viele im Dorf sind insgeheim froh, dass Störenfried Heist nicht mehr am Leben ist“, erklärt mir Brockmeyer. Aber das ist nichts Neues für mich.
„Und einige hatten ein Motiv, wie zum Beispiel unser Herr Bürgermeister“, offenbare ich dem Polizisten. Der scheint überrascht. Für ihn war es etwas Neues und er möchte mehr wissen.
„Und welches?“
Die Tochter von Monika Busse, Heists Lebensgefährtin, war seine uneheliche Tochter. Er hat es mir gebeichtet.
„Darf ich nicht sagen. Beichtgeheimnis.“
„Das ist schlecht für meine Ermittlung ...“
„Was ich aber sagen darf ist, dass der werte Herr Brockmeyer dem Heist immer schon gerne eine kräftige Lektion erteilen wollte.“
Brockmeyer schweigt und trinkt den Kaffee aus. Nach einer kurzen Überlegung beginnt er wieder zu reden.
„Ich spiele das mit dem Narkosemittel runter, so wie das bei der Tour de France mit den Dopingwerten läuft. Ob mir das jemand abnimmt, interessiert mich nicht.“
„Das bedeutet, der Fall Heist wird geschlossen?“
„Genau, der Fall wird geschlossen. Der Tod von Frank Heist war ein unglücklicher Unfall. Ob ihm vorher jemand betäubt hatte, um ihn im Bach zu ertränken, weiß ganz allein der Mörder.“
„Das ist nicht ganz richtig.“
Ehrfürchtig falte ich meine Hände zum Gebet und neige mein Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel. „Da wäre noch jemand ...“

 

Hallo Mieze666!


Deine Geschichte gefällt mir. Eine interessante Milieustudie, eine Verschwörung zwischen Pastor und Polizist im dörflichen Umfeld. Und vor allem ein Pastor, der für seine Sünde zwischen Bibelversen nach Gottes Gnade sucht.

Anfangs ist die Spannung nur mäßig. Ich erwarte eine Art Pater-Brown-Geschichte, ich mag solche Storys, deshalb lese ich geduldig weiter. Das fällt auch nicht schwer, weil der Text gut zu lesen ist. Aber dazu später mehr.

Das Narkosemittel herunterzuspielen, wird für den Dorfpolizisten nicht einfach, ja fast unmöglich. So einfach wie in der Geschichte, wo der Polizist sagt: „Ob mir das jemand abnimmt, interessiert mich nicht“, geht es nicht. Von den K.o.-Tropfen (Rohypnol) weiß er ja nur, weil der Staatsanwalt eine gerichtsmedizinische Untersuchung angeordnet hat. Diese wird von einem unabhängigen Dienstleister durchgeführt, der seinen Bericht dem Staatsanwalt gibt.
Das „Herunterspielen“ wäre meiner Meinung nach einfacher bei Diazepam (gehört auch zu den Benzodiazepinen) als bei Rohypnol. Diazepam ist z.B. in Valium enthalten, einem weit verbreiteten Mittel – daher ist es „unter der Hand“ leichter zu beschaffen. Das macht es wahrscheinlicher, das ein „Unfall“ durch versehentliche doppelte oder dreifache Einnahme auf Grund seiner Trunkenheit vorliegt. Auch das Ertrinken ohne Fremdeinwirkung wird wahrscheinlicher, da eine Überdosis Diazepam den Hustenreflex lähmt.
Dazu passt gut der Umstand, dass der Pastor Franks Kopf offensichtlich nicht unter Wasser gedrückt hat, sonst hätte er seine nasse Hose wechseln müssen. Was er ja nicht getan hat, siehe: … stecke meine rechte Hand in die Hosentasche und spiele nervös mit dem Fläschchen.
Den ungeklärten Verbleib der Verpackung sehe ich weniger tragisch. Die kann im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runter gegangen sein.

Die Einleitung des Erzählers find ich ein bisschen lang. Zumindest kann dort etwas ausgemistet werden. Beispiel:

Mache nie die Rechnung ohne den Wirt, weil Gott alles sieht, predigte Pastor Wolfgang Schwarz immer seiner Gemeinde. Diese bestand eigentlich aus genau 543 katholischen Kirchenmitgliedern. Leider fanden sich zum sonntäglichen Gottesdienst morgens um zehn Uhr immer nur gerade um die 30 seiner Schäfchen ein. Pastor Schwarz fragte sich des Öfteren: Wie viele von den Wenigen waren auch noch Heuchler? Wer führte ein Doppelleben? Man kann eine noch so gute Menschenkenntnis besitzen, man kann der beste Psychiater auf der ganzen Welt sein, aber nur der Allmächtige kann in die Köpfe von Menschen schauen. Gott weiß ganz genau, was im Inneren seiner Geschöpfe vor sich geht.
Mache nie die Rechnung ohne den Wirt, weil Gott alles sieht, predigte Pastor Wolfgang Schwarz seiner Gemeinde. Diese bestand aus 543 katholischen Kirchenmitgliedern. Leider fanden sich zum sonntäglichen Gottesdienst höchstens dreißig seiner Schäfchen ein. Pastor Schwarz fragte sich oft, wie viele von denen wohl Heuchler seien. Wer führte ein Doppelleben? Man kann gute Menschenkenntnis besitzen oder der beste Psychiater sein, doch nur Gott weiß genau, was im Inneren seiner Geschöpfe vorgeht.

Das ist, in diesem kurzen Absatz, eine Reduzierung von 105 auf 71 Wörter.
Auch ist zu überlegen, welche Informationen wichtig sind. Ich meine, diese kann gestrichen werden: Brandt war zehn Jahre älter wie der Pastor, Atheist Brockmeyer acht.
Übrigens muss es heißen: … als der Pastor, …

Der Wechsel von der Dritten zur Ersten Person ist nicht zwingend notwendig, aber auch nicht verwirrend.
Die inneren wie äußeren Monologe des Pastors scheinen mir arg lang. Sicher, das Schwadronieren liegt dem Pastor im Blut, auch will er den Polizisten vom eigentlichen Thema ablenken oder es hinauszögern, zugleich will er sich rechtfertigen. Wie auch immer, hier kann dennoch gekürzt werden. Beispiel:

Gott hasst Selbstgerechtigkeit und Selbstjustiz und auch die sündigen Prioritäten der heutigen Spaßgesellschaft.
Gott hasst Selbstgerechtigkeit und Selbstjustiz.
Die Spaßgesellschaft hat weder mit Franks Verhalten noch mit dem Mordmotiv etwas zu tun.

Ein wenig Textkram (nicht vollständig).

die Tochter von Heists Lebensgefährtin war seine uneheliche Tochter.
Heute wird „nicht eheliche“ vorgezogen.

Dieses Geheimnis kam nie an die Öffentlickeit, vor einem Jahr beichtete Brandt es aber Pastor Schwarz. Monika Busse, eine Frau, mit der Bürgermeister Brandt einst fremd ging.
Das klingt etwas verdreht. Flüchtigkeitsfehler: Öffentlickeit - Öffentlichkeit
Dieses Geheimnis kam nie an die Öffentlichkeit, aber vor einem Jahr hatte Brandt dem Pastor gebeichtet, Monika Busse sei die Frau, mit der er fremdgegangen sei.
Statt „fremdgegangen“ würde ein Bürgermeister seinem Pastor gegenüber wohl eher die Wendung „Ehebruch begangen“ gebrauchen.

Er wird gekommen sein, um mir, Pastor Wolfgang Schwarz, zu sagen, dass bei der Obduktion der Leiche Änestethikum nachgewiesen wurde.
Änestethikum = Anästhetikum
Perspektive. „… Pastor Wolfgang Schwarz“ wird er zu sich kaum sagen.
An wessen Tür geklopft wird, könnte hier untergebracht werden:
Ich mache die Tür auf, er ist es.
„Darf ich eintreten, Herr Pastor?“

Das hätte dann für den Leser einen Überraschungseffekt, nachdem er einige Zeilen lang rätseln musste, wer der Ich-Erzähler wohl sein mag.

Ein Spaziergänger fand Frank Heist tot im Bach liegen.
Ein Spaziergänger fand Frank Heist tot im Bach liegend.

Ehrfürchtig falte ich meine Hände zum Gebet und neige mein Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel. „Da wäre noch jemand ...“
Man kann sein Gesicht zum Boden neigen, aber nicht zum Himmel.

Gruß

Asterix

 

Hallo Mieze666,

ich bin etwas gespalten, was deine Geschichte anbelangt.

Einerseits hat mir der Plot gefallen, andererseits hätt man mehr daraus machen können.

Gefallen hat mir, dass du sehr stimmig im Thema geblieben bist: Pastor, Gott, Glaube, Wahrheit, Tod.

Aber was mir fehlt, ist Spannungsaufbau und Geschwindigkeit.
Da sind zu viele Teile in dieser Geschichte, die zur ganz erheblichen Verlangsamung der Geschichte beitragen und sie zu träge machen.

Die ersten Abschnitte halte ich für fast vollständig überflüssig. Ich würde mit dieser Aussage in die Geschichte einsteigen und alles, was noch erforderlich ist, um den Rest zu verstehen, im Nachfolgenden mit einflechten. Alles davor würde ich löschen.

Am Montagmorgen fünf Tage vor Heiligabend reduzierte sich die Einwohnerzahl des Dorfes um eine Person. Es war nicht Oma Schmitz, die Dorfälteste, die von ihnen gegangen war. Ein Spaziergänger fand Frank Heist tot im Bach liegen.

Die Zwiesprache zwischen Dorfpolizist und Pastor reicht für diese Geschichte. In ihrer Unterhaltung kannst du alles gut unterbringen, was wichtig über den Toten ist und auch über den Pastor und seine Gemeinde.

Bei der Auseinandersetzung beider in Glaubensfragen bin ich wiederum ein wenig gespalten gewesen.
Einerseits finde ich das gut, dass du diese Fragen um den Krimi herumrankst, andererseits gerät die Sache manchmal ins Abseits durch die vielen Worte, die darüber gesagt werden.

Es gibt so eine Regel für gute Geschichten (und Romane) und selbstverständlich ist diese Regel nicht dazu da, sie ungeprüft anzuwenden, aber man sollte sich ab und zu mal dazu erziehen, den eigenen Text unter dem Dach dieser Regel zu betrachten: Jeder Satz in einer Geschichte muss sie weiter voran bringen.

Ich würde in dieser Geschichte recht viel wegstreichen, ohne, dass sie ihren Sinn verlieren würde.

Was ich allerdings noch exakter herausarbeiten würde, sind die gegensätzlichen Positionen in Bezug auf Glauben und Gott. Der Polizist formuliert seine Haltung bereits so, dass ich dachte: besser kann man es nicht darstellen. Das, was er sagt, seine Erwiderungen und Ansichten haben mir gut gefallen.
Der Pastor dagegen scheint dir nicht so zu liegen, die Geschichte könnte aber dadurch gewinnen, dass er mehr Konturen in Bezug auf seinen eigenen Glauben gewinnt. Der Konflikt in deinem Plot ist doch gerade der, dass jemand, der glaubt, trotzdem sich nicht der Untätigkeit und in Gottergebenheit ergibt, sondern selbst handelt und im Grunde seiner Seele eben nicht glaubt. Ich weiß, das ist nicht leicht, diese Brüchigkeit in den Aussagen des Pastors für den Leser sichtbar zu machen.

Die Sache mit dem Fläschen in seiner Hosentasche würde ich so spät es nur irgendwie geht, erwähnen und auch die "erwartete" Ankunft des Polizisten nicht bereits mit der Offenlegung der Lösung verquicken. Wenigstens diejenigen Leser, die vielleicht nicht so schnell auf den Täter kommen, hätten dann sowas wie ein bisschen Spannung beim Lesen. Den anderen Krimifreaks wirst du vermutlich keine Sekunde lang ein Fragezeichen ins Gesicht zaubern, aber man muss und kann ja nicht für alle Bedürfnisse etwas schreiben.

Fazit: Ich glaube, diese Geschichte könnte Straffung und exaktere Ausarbeitung gut verkraften.


Noch eine Sache, die mir auffiel, die aber exakt in dem Part deiner Geschichte enthalten ist, deren Löschung ich ja sowieso befürworte:

Brandt war zehn Jahre älter wie der Pastor, Atheist Brockmeyer acht.
"als"
Ich bin nicht so groß "wie" du, weil du größer bist "als" ich.


Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Mieze,

Ja, ob es den ersten Teil der Geschichte braucht? Da bin ich wirklich gespalten. Ist schon ein sehr langer "Vorspann" - der für das Verständnis des Plots nicht notwendig ist. Das meiste ist auch dem Dialog zu entnehmen, alles andere ließe sich dort unterbringen. Gleichzeitig lädt der Einstieg das Folgende aber doch irgendwie auf, erzeugt eine gewisse Tiefe. Hm. Vielleicht gäbe es da aber eine elegantere Lösung.

Mir gefällt auch durchaus das Flair der Story, das Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Figuren mit ihren unterschiedlichen Positionen. Aber ich glaube auch, dass die Geschichte ein zentrales Problem hat: Mir ist nicht klar, was hier wirklich die Frage ist.

Ordnungshüter und Gottesmann variieren hier verschiedene, ebenso vertrackte wie populäre, Fragen des Glaubens bzw. der Weltanschauung. Dabei gleitet ihr Diskurs aber von einem Punkt zum andern - es fehlt das verbindende Zentrum, das gleichzeitig mit der Tat verknüpft sein müsste. Also: Der Dialog müsste sich vollständig um die eine Frage drehen, die sich für den Pfarrer auch mit seiner Tat verbindet.

Weil dieses Zentrum fehlt, wirkt das Gespräch mitunter wie eine etwas beliebige Variation von Bekanntem. Und der Pfarrer kommt arg ins Dozieren, was streckenweise wirklichkeitsfremd wirkt.

Ich würde dir auch raten, den Dialog noch mal in Hinblick auf das konkrete Verhalten der beiden durchzugehen. Der Pfarrer zum Beispiel tritt anfangs arg forsch auf:

„Genau. Der Fall ist noch nicht ganz gelöst. Frank Heist starb am Sonntag, dem 18. Dezember gegen Mitternacht. Tod durch Ertrinken.“
Ein dummer Unfall“, sage ich nach einem kurzen Schweigen.
„So ungefähr. Aber da ist noch etwas.“
„Und das wäre?“
Der Beamte schüttet etwas Milch in seine Tasse. Ich reiche ihm meinen Teelöffel.
„Bei der Obduktion der Leiche stieß man auf ...“
Ordentlich Alkohol“, unterbreche ich ihn.
Das wirkt a) ziemlich verdächtig ;) und b) zu respektlos, selbst wenn der Kerl da von allen gehasst wurde.

Abseits dieser Kritikpunkte habe ich die Geschichte aufgrund der Stimmung gern gelesen.

Grüße,
Meridian

 

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