Das Böse in uns allen
Oma Schmitz, die 93-Jährige, war für ihn ein gottesfürchtiges Weib und gehörte sicher nicht zur Fraktion der Heuchler. Heuchler, das waren für den Pastor Leute, die vorgaben Christen zu sein, deren Taten aber nicht in Einklang mit der christlichen Lehre standen. Regelmäßiger Besuch des Gottesdienstes und ein Kettchen mit einem Kreuz um den Hals machen Menschen nicht zum Christen. Viel wichtiger für Gott ist, wie ein Mensch sich verhält, wenn er nicht in der Kirche ist, wenn ihm keiner zuschaut.
Wolfgang Schwarz studierte zunächst drei Semester Medizin, bis er aufgrund von göttlicher Barmherzigkeit zum Glauben an den Herrn kam und Pastor wurde. Vor anderthalb Jahren zog er ins Dorf und übernahm das Kirchenamt, weil sein Vorgänger, Pastor Friedrich Jungblut, sich zur Ruhe setzte.
Zu Weihnachten kamen erheblich mehr Gemeindemitglieder zur Messe, einen sah man jedoch dort nie. Im Gegensatz zu den Kirchenbesuchern waren seine Sünden nur zu offensichtlich. Der 39-jährige Frank Heist zog vor sechs Monaten in den Ort und raubte dem Dorf den Frieden. Er war frisch geschieden, seine erste Frau soll er angeblich fast totgeprügelt haben. Auch seine jetzige Lebensgefährtin Monika Busse wurde von ihm geschlagen. Und das nicht nur ein Mal. Jeder im Dorf wusste das. Jeder im Dorf wusste, dass Heist auch die 13-jährige Tochter seiner Lebensgefährtin misshandelte. Und niemand im Dorf hatte bisher etwas dagegen getan.
Gott sieht alles, weil er allgegenwärtig ist, predigte Pastor Schwarz immer.
Nach den Sonntagsmorgen-Gottesdiensten steuerte der 39-jährige Diener des Herrn in der Regel zunächst ins Wirtshaus, um sich mit einigen Bierchen seine ausgetrocknete Kehle zu schmieren. Gerne saß er dabei mit Bürgermeister Brandt zusammen. Und auch Dorfsheriff Brockmeyer leistete ihm oft Gesellschaft. Brandt war zehn Jahre älter wie der Pastor, Atheist Brockmeyer acht. Die drei unterhielten sich am liebsten über wahre Verbrechen und fiktive Kriminalgeschichten. Brockmeyer offenbarte dem Pastor immer wieder, dass, wäre er kein Polizist, er hätte diesem Schwein Heist schon längst eine kräftige Lektion erteilt. Eine sehr kräftige Lektion. Das verriet Brockmeyer allerdings nur dem Pastor und dem Bürgermeister, es blieb unter ihnen. Dem konservativen Bürgermeister war Frank Heist gleichfalls ein Dorn im Auge. Dieser Typ gehörte nicht in seine ehrenwerte Gemeinde. Was dazu kam, die Tochter von Heists Lebensgefährtin war seine uneheliche Tochter. Dieses Geheimnis kam nie an die Öffentlickeit, vor einem Jahr beichtete Brandt es aber Pastor Schwarz. Monika Busse, eine Frau, mit der Bürgermeister Brandt einst fremd ging.
Beim Frühschoppen sah man Frank Heist schon lange nicht mehr. Der musste sein Bier woanders trinken, entweder zu Hause oder draußen auf der Bank am Denkmal, als ihm der Wirt Hannes Hausverbot erteilte. Hannes war es leid mit diesem Kerl, der Gäste provozierte, Schlägereien anfing und seinen Deckel nie zahlen konnte. Bis heute schuldet Heist dem Wirt knapp 500 Euro für Getränke und zertrümmertes Mobiliar. Denn Heists Arbeitslosigkeit führte dazu, dass seine Schulden nicht weniger wurden, ganz im Gegenteil. Der reichliche Alkoholkonsum und die Unzufriedenheit über sein Leben waren ein Teufelskreis.
Am Montagmorgen fünf Tage vor Heiligabend reduzierte sich die Einwohnerzahl des Dorfes um eine Person. Es war nicht Oma Schmitz, die Dorfälteste, die von ihnen gegangen war. Ein Spaziergänger fand Frank Heist tot im Bach liegen.
Heute, kurz nach Weihnachten
Gleich ist es neun. Einsam sitze ich am Küchentisch und habe mein Frühstück gerade beendet. Eine Tasse Kaffee könnte ich mir noch genehmigen. Es klopft an meiner Tür. Zu Hause habe ich selten Besuch. Es wird Brockmeyer sein, darauf war ich vorbereitet. Er wird gekommen sein, um mir, Pastor Wolfgang Schwarz, zu sagen, dass bei der Obduktion der Leiche Änestethikum nachgewiesen wurde.
Ehre Gott und liebe deinen Nächsten.
Ich mache die Tür auf, er ist es.
„Darf ich?“
Ich lasse ihn rein. Wir gehen in die Küche und mein Gast setzt sich an den Tisch.
„Kaffee?“, frage ich.
Brockmeyer nickt stumm. Ich nehme eine saubere Tasse und gieße den Rest heißen Kaffees ein. Der Beamte bedankt sich und ich setze mich an den Tisch dazu.
„Es geht um Heist, nicht wahr?“ Das will ich nicht wirklich wissen, ich weiß, es geht um Heist.
„Genau. Der Fall ist noch nicht ganz gelöst. Frank Heist starb am Sonntag, dem 18. Dezember gegen Mitternacht. Tod durch Ertrinken.“
„Ein dummer Unfall“, sage ich nach einem kurzen Schweigen.
„So ungefähr. Aber da ist noch etwas.“
„Und das wäre?“
Der Beamte schüttet etwas Milch in seine Tasse. Ich reiche ihm meinen Teelöffel.
„Bei der Obduktion der Leiche stieß man auf ...“
„Ordentlich Alkohol“, unterbreche ich ihn.
„Das wäre nichts Ungewöhnliches. Das würde einen Unfall erklären. Sturzbetrunken in den Bach gefallen. Nein, Benzodiazepine.“
„Benzodia...?“, frage ich scheinheilig, stecke meine rechte Hand in die Hosentasche und spiele nervös mit dem Fläschchen.
„Was soll das sein? Benzo...?“
Brockmeyer nimmt mit seinen Augen die Tasse Kaffee ins Visier.
„Ein Änestethikum, ein Narkosemittel. Findet sich unter anderem in Psychopharmaka. Nun gut. Warum nahm Heist ein solches Mittel? Wer hat es ihm verschrieben? Ein Arzt auf jeden Fall nicht.“
„Hm, gute Frage ...“
„Nebenbei bemerkt, K.-o.-Tropfen enthalten ebenfalls Benzodiazepine. Und was noch Merkwürdiger ist: Warum fanden wir das Mittel nicht bei ihm?“
Ich überlege einen Augenblick und schaue mich im Raum um.
„Dies lässt eventuell darauf schließen, dass ihn zunächst jemand betäubt haben könnte, um ihn dann ...?“
Brockmeyer nimmt vorsichtig einen Schluck.
„Schmeckt irgendwie seltsam der Kaffee?“
„Das liegt am Weihwasser“, scherze ich und versuche dazu eine gute Miene zu machen.
„Unser Herr Pfarrer macht Witze! Die sollte er in der Kirche reißen, dann kommen auch mehr.“
„Der Gottesdienst ist keine Comedyshow und die Bibel eine ernste Angelegenheit. Schließlich geht es darum, wo man die Ewigkeit verbringt; im Himmel oder in der Hölle.“
„Ich glaub nicht an die Ewigkeit, für mich ist der Tod das absolute Ende eines Lebewesens. Und ich glaube auch nicht an einen Gott, der Böses zulässt. Ich glaube nicht an einen Gott, der Menschen in armen Ländern durch Hungerskatastrophen ums Leben kommen lässt.“
„Eine noch größere Katastrophe ist das tatenlose Zusehen. Es gibt eine Studie, die besagt, dass das Geld von den sieben reichsten Menschen ausreichen sollte, den Hunger in dieser Welt zu beseitigen.“
„Ich glaub nicht an einen Gott, der Verbrecher ungestraft lässt.“
„Das ist falsch!“, sage ich mit scharfer Stimme. „Der Mensch wird das ernten, was er sät. Alles ist nur eine Frage der Zeit.“
„Davon bin ich nicht überzeugt. An einen Gott, den man nicht sehen kann, der aber selbst nichts übersieht, an einen solchen kann ich nicht glauben. Für mich und vor Gericht zählen Beweise. Ich glaube an richtig und falsch.“
„Und an die schmale, zerbrechliche Linie dazwischen“, füge ich hinzu.
Brockmeyer nimmt wieder vorsichtig ein Schlückchen. „Wer an Gott glaubt, darf die Existenz des Teufels nicht leugnen“, sagt er.
„Natürlich nicht, der Teufel ist real. Er wird Satan, oder auch Luzifer genannt, und war einst im Himmel der schönste aller Engel. Nach der Erschaffung von Adam und Eva befahl Gott seinen Engeln, den Menschen anzubeten, jedoch weigerte sich Satan und meinte, er werde doch nicht eine Kreatur aus Staub von der Erde anbeten, die geringer und jünger ist als er. Er ist schließlich vor ihm erschaffen worden, deshalb soll der Mensch ihn anbeten. Stattdessen wollte Satan sein wie Gott. Er wollte den Himmel emporsteigen und sich neben dem Thron vom Allmächtigen setzen. Durch seinen Stolz und seine Überhebung gegenüber Gott wurde aus Satan ein gefallener Engel. Seitdem geht seine ganze Feindschaft, Neid und Schmerz gegen uns Menschen, weil Satan durch uns vertrieben und entfremdet wurde von seiner Herrlichkeit, die er im Himmel inmitten der Engel hatte.“
„Soso ...“, meint Brockmeyer gelangweilt.
„Engel sind spirituelle Wesen. Der Teufel ist der Vater der Lüge, der uns im Kopf angreift. Unsere Gedanken werden dadurch beeinflusst und es kommt zu Emotionen, die wiederum schlechten Einfluss auf unsere Taten haben können. Wenn jemand die Kontrolle über sich verliert, der ist von allen guten Geistern verlassen, wie man so schön sagt. Da hat der Teufel schon gesiegt. Man kann sowohl sagen, Satan ist ein Geist der Irreführung, der Täuschung. Böse Menschen sind von solchen dämonischen Geistern besessen und werden zu Kriminellen. Durch das Töten von solchen Übeltätern kann man jedoch nicht diese dunklen, antichristlichen Mächte in dieser Welt ausrotten.“
Der Dorfsheriff guckt mich ungläubig an, unbeirrt erzähle ich weiter.
„Ein Mensch, der Gott liebt, gehorcht seinem Schöpfer. Jeder Mensch hat einen freien Willen von Gott bekommen, der Sündenfall im Garten Eden zeigt es ganz deutlich. Entweder man hält sich daran, was Gott gesagt hat, also lässt man seine Finger von verbotenen Früchten ...“
„Oder nicht ...“, unterbricht mich Brockmeyer.
„Ganz recht. Oder man tut etwas, was Gott verboten hat, man sündigt. Die Sünde ist die Ursache für das Übel in dieser Welt. Was erlaubt ist und was nicht, das alles steht in der Bibel, dem Wort Gottes. Daran orientiere ich mich, an dem Wort von Jesus Christus, dem Gott des Lebens und der Auferstehung. Und nur Seine Urteile sind gerecht.“
„Auge um Auge ...“
„Zahn um Zahn, ich weiß“, falle ich in sein Wort. „Mit dieser Philosophie bestünde unsere Gesellschaft bald nur noch aus Blinden und Gebissträgern. Das ist keine Gerechtigkeit, das ist Rache. Es steht in der Schrift: Die Rache ist mein, so spricht der Herr. Auge um Auge, die Vergeltung, funktioniert nicht. Jesus forderte stattdessen: Liebet eure Feinde! Mit Liebe ist hier kein Gefühl gemeint, sondern eine Entscheidung, wie man andere behandelt. Liebet eure Feinde, das funktioniert, denn der Herr wird´s schon richten. Selbstjustiz ist verboten, zum Glück.“
„Richtig, das hat seinen guten Grund“, stimmt mir Brockmeyer zu. „Ich glaube an den Zufall, an die Verkettung von Umständen.“
„Entweder man glaubt an Gott oder an Zufall. Für mich ist Gott der souveräne Herrscher des Universums, der alles unter Kontrolle hat und deshalb keine Fehler macht. Er ist vollkommen. Und das schließt Zufall aus. Das Chaos und die Angst in dieser Welt sind kein Zufall, sie haben Gründe. Friedrich Hebbel hatte einst treffend gesagt: Viele glauben nichts, aber fürchten alles. Es gibt wenig Glaube, aber viel Angst in unserer Welt. Ursache für Angst ist ein fehlendes Gottesbewusstsein, denn ein fester Glaube an Gott befreit und gibt Hoffnung. Man muss Gott gefallen, und nicht dieser Welt. Gott hasst Selbstgerechtigkeit und Selbstjustiz und auch die sündigen Prioritäten der heutigen Spaßgesellschaft. Sünde bedeutet Trennung von Gott, und der Lohn der Sünde ist der ewige Tod im Feuersee, der Hölle.“
„Dein Vorgänger wollte mir immer weismachen, dass wir alle schuldig sind.“
„Natürlich! Hier ein bequemes Leben führen zum Beispiel geht zulasten der Ökologie und der Dritten Welt. Schuldig sind alle vor Gott. Für einen Gläubigen wie mich geht es in dieser Welt nur um Sünde und Vergebung. Jeder Mensch ist ein Sünder, aber durch den Glauben an Jesus Christus werden die Menschen von ihren Sünden freigesprochen, denn durch das Blut von Jes...“
„Komm, lass gut sein“, unterbricht mich Brockmeyer, „predige hier jetzt nicht das Evangelium. Nun gut, wo war ich stehen geblieben?“
Ich überlege einen Moment. „Beim Kaffee, der nach Weihwasser schmeckt?“
„Nein, davor.“
„Das Heist betäubt wurde?“, antworte ich.
„Ach ja. Und?“
„Und ... das jemand seinen Tod durch Ertrinken arrangiert haben könnte“, sage ich leise. „Er wurde vorher betäubt und dann mit dem Kopf in den Bach getaucht, zum Beispiel.“
Mein Gast fängt plötzlich an, zu gähnen.
„Der Fall Heist hat mir in den letzten Tagen den Schlaf geraubt.“
„Kann ich mir denken.“
Dann blickt Brockmeyer mir tief in die Augen.
„Heist wurde gegen 23 Uhr zum letzten Mal am Denkmal lebend gesehen.“
„So ...“ Ich kratze mich mit einer Hand am Kinn.
Brockmeyer beugt sich über den Tisch. „Wo waren Hochwürden um diese Zeit?“
„Hier in meiner Wohnung“, antworte ich. „Ich war am Schlafen, das sagte ich bereits.“
„Heist starb gegen Mitternacht. Um diese Zeit hat dich jemand gesehen, unten am Bach.“
„Eine glatte Lüge!“, versichere ich.
Moses war ein Mörder, er erschlug einen Ägypter. Trotzdem war Moses ein Kind Gottes, ein Auserwählter, der das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft befreite. Mit dem Tod von Frank Heist war das Dorf nach einem halben Jahr wieder frei, frei von einem Tyrannen. Ich stehe unter Verdacht. Man wusste genau, wie sehr ich die wilde Ehe hasste, wie sehr ich körperliche Gewalt verabscheute. Aber es ließ sich nur schwer erahnen, wie sehr ich Heist die Hölle gewünscht hatte. Kein Mensch konnte meine Gedanken lesen.
„Viele im Dorf sind insgeheim froh, dass Störenfried Heist nicht mehr am Leben ist“, erklärt mir Brockmeyer. Aber das ist nichts Neues für mich.
„Und einige hatten ein Motiv, wie zum Beispiel unser Herr Bürgermeister“, offenbare ich dem Polizisten. Der scheint überrascht. Für ihn war es etwas Neues und er möchte mehr wissen.
„Und welches?“
Die Tochter von Monika Busse, Heists Lebensgefährtin, war seine uneheliche Tochter. Er hat es mir gebeichtet.
„Darf ich nicht sagen. Beichtgeheimnis.“
„Das ist schlecht für meine Ermittlung ...“
„Was ich aber sagen darf ist, dass der werte Herr Brockmeyer dem Heist immer schon gerne eine kräftige Lektion erteilen wollte.“
Brockmeyer schweigt und trinkt den Kaffee aus. Nach einer kurzen Überlegung beginnt er wieder zu reden.
„Ich spiele das mit dem Narkosemittel runter, so wie das bei der Tour de France mit den Dopingwerten läuft. Ob mir das jemand abnimmt, interessiert mich nicht.“
„Das bedeutet, der Fall Heist wird geschlossen?“
„Genau, der Fall wird geschlossen. Der Tod von Frank Heist war ein unglücklicher Unfall. Ob ihm vorher jemand betäubt hatte, um ihn im Bach zu ertränken, weiß ganz allein der Mörder.“
„Das ist nicht ganz richtig.“
Ehrfürchtig falte ich meine Hände zum Gebet und neige mein Gesicht mit geschlossenen Augen zum Himmel. „Da wäre noch jemand ...“