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Das Bächlein
Das Bächlein
Beim Wandern entdecke ich ein kleines Bächlein, das den Hang zwei Meter höher entspringt, um dann dort weiter unten am steinigen Strand ins meer zu fliessen. Der Fluss hat ein kurzes leben. Ich denke an die alte Morag, die kurz nach Weihnachten wieder aus dem Krankenhaus kam und jetzt wieder zu Hause ist. Damals vor zwei Wochen sagte sie, ich solle verdammt noch mal mit dem ewigen putzen aufhören, weil sie mir etwas aus ihrem Jugend erzählen musste.
Morag ist 1912 in einem dreihäusigen Dorf an der Westküste der Insel geboren. Jetzt, sechzig Jahre nach dem Tod der Siedlung, kann man nur noch die Umrisse der Grundmauer ausmachen.
"Jeden morgen bin ich Wasser holen gegangen." Sagte sie. "Das war vielleicht kalt im Winter, sage ich dir."
Sie kichert. An meinem Gescichtsausdrück sieht sie, (weil Morag alles sieht) dass ich in dem Moment die damalige Kälte mitspüre. Sie will weitererzählen.
"Ja, ich musste mit bloßen Füssen das Bachlein hochlatschen und das Trinkwasser für den ganzen Tag in einem Stahleimer holen. Aufwärts. Ganz hoch. Das war wichtig."
Morag ist rhetorisch klug. Das muss sie auch sein, weil sie schwerhörig ist. Der Höflichkeit zuliebe stelle ich die Frage sowieso.
"Warum war das denn so wichtig ?"
Sie lacht.
"Naja, wie soll ich es sagen ?" Sie schaut kurz nachdenklich in die Luft.
Just diesen Ausdrück benutzt Morag immer, wenn sie mir etwas skurriles erzählen will.
"Es war so. Oben, da wo das Bächlein aus dem Berg entsprang: da dürften wir das Trinkwasser holen, und nur da." Sagt sie mit mahnendem Fingerwedeln. "Etwas weiter unten, da dürften die Jungen sich waschen. Noch ein Stück weiter unten, hinter den Häusern, da konnten die Mädels sich waschen - wo keiner gucken konnte. Die Eltern hatten natürlich eine Badewanne." Sie lacht. "Nicht so wie heute, verstehst du. Das war so ein Blechding und man musste das Badewasser auf dem Feuer warmmachen. Es war nicht gut. Heute ist das schon viel besser.
Ja und dann, weiter unten, zwischen den Felsen am Strand, das war die Toilette. Der Flut machte alles wieder weg, verstehst du ?" Da machte sie Wischbewegungen mit der Hand. " So war es eben. Hoch fürs Trinkwasser, in der Mitte fürs Waschen und ganz unten für das Andere. Immer flußabwärts. Das wusste jeder und hielt sich dran. Das musste niemand dir erzählen."
Ich stehe am Hang neben dem Bächlein. Ich ziehe meinen Handschuh aus und tauche eine Hand ein, wo sich die Männer früher gewaschen hatten. Das Wasser ist kalt und klar wie Benzin. Ich muss lachen. Damals habe ich Morag die Frage aufgeschrieben, wieso die Jungen dort badeten, wo jeder sehen konnte, während die Mädchen sich hinter den Häusern verstecken mussten. Sie konnte sich nicht halten vor lachen.
"Nein nein nein nein. Das kam nicht von uns Mädels. Das kam bestimmt von den Jungs. Wir wurden dahin geschickt, weil wir von dort aus die Jungs nicht beobachten konnten. Bei der Kälte, weisst du.....da schrümpft alles !"
Ende
Copyright Andrew Whitmore 2002