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Das ausgeliehene Sakko
Ich lag auf dem Sofa und wusste wieder nichts mit mir anzufangen. Mir kam eine Idee. Die Jacke kratzte über meine Arme, in die fertiggeschnürten Schuhe konnte ich hineingleiten, die Schlüssel klirrten.
Ich trat vor die Tür. Es regnete schon wieder, doch es machte mir nichts aus.
Am Kiosk nebenan kaufte ich mir eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. Obwohl ich wusste, dass sie nass wird machte ich mir eine an.
Aufgetakelte Mädchen, die auf eine verschwitzte Nacht im Club zusteuerten. Das Pärchen vor mir kuschelte sich unter einen Regenschirm, ich rollte die Augen und musste überholen. Zwei Jungs schubsten sich und brachen dann in Gelächter aus. Alle so scheiß glücklich.
Ein Tropfen löschte meine Zigarette, ich schmiss sie weg und zündete mir eine neue an.
Die geschlossenen Läden versprühten immer noch ihr unangenehm grelles Licht. Ich musste trotzdem in den ein oder anderen schauen. Ohrringe für fünfzigtausend Euro, wer braucht sowas?
Aus einer Bar taumelte ein Student und rempelte mich an. Meine Zigarette fiel in eine Pfütze, ich zündete mir eine neue an.
Wieso war es heute nur so voll? Gab es etwas um sonst? Die ganze Welt bereitete sich auf einen heiteren Abend vor. Jeder hoffte er wird besonders, vielleicht wird ja dieser nie vorbeigehen? Doch ich wusste es besser und bog in eine ruhige Gasse, weg von all dem Getümmel.
Ich folgte ihr, folgte der Nächsten und auch der danach. Irgendwann wusste ich nicht mehr wo ich war, doch es war mir egal.
Weit und breit erhellte keine Laterne mehr die Straße, nur noch die Lampen hinter einem Schaufenster spendeten Licht. Wie eine Motte zogen sie mich an.
Ich sah Sakkos, sonst nichts. In mir regte sich etwas, was eingestaubt in der Ecke gelegen hatte. Ohne Erwartungen drückte ich die Türklinke runter und zu meiner Verwunderung öffnete sich die Tür. Es war einer dieser alten Läden, von denen jeder schonmal geträumt hatte. Nahezu alles in Holz verkleidet, angenehm unordentlich und dort stand auch schon der charismatische Inhaber.
„Sie haben noch geöffnet?“
Er beachtete mich erst garnicht, hantierte noch mit einem Maßband. Dann fielen seine strengen Augen auf mich. Sie blitzten hinter einer kleinen Brille mit runden Gläsern auf.
„Sicher, sicher.“
Dieser Ort hatte etwas Magisches. In ihm fühlte ich mich zuhause, gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht lange bleiben konnte.
„Dein Sakko ist schon lange fertig. Wurde Zeit, dass du es abholst.“
Mein Sakko? Ich verstand nicht, doch das war egal. Der Inhaber griff in ein Fach in der Wand, was mir vorher nicht aufgefallen war und zog es heraus.
„Morgen bringst du es zurück.“ Er schaute mich eindringlich an, ich erkannte wie ernst es ihm war und nahm das Sakko entgegen.
„Was schulde ich ihnen?“
„Nichts, das kommt noch. Genieß es.“
Schon wieder verstand ich nicht und schon wieder war es egal.
Kaum war ich aus der Tür, zog ich es an. Ohne zu wollen seufzte ich erleichtert. Es fühlte sich so gut an, wie es über meinen Schultern lag, wie der sanfte Stoff sich auf meinen Armen senkte. Ich spürte jede Faser, jeder Knopf vollendete mich.
An der nächsten Ecke schmiss ich meine alte Jacke samt Zigaretten und Feuerzeug in den Müll.
In dieser Nacht schlief ich so gut wie noch nie, natürlich trug ich es auch im Bett.
Am Tag darauf war es so weit, ich musste das Sakko wieder zurückgeben.
Wieso? Die Frage plagte mich. Wieso kann es nicht einfach bleiben?
Doch das Schicksal hatte kein Erbarmen mit mir. Um die selbe Zeit wie gestern ging ich von Zuhause los. Lief in die heiße Menschenmasse, bog wieder ab, dann wieder und dann wieder.
Dort war er, die Klinke gab nach, widerwillig trat ich ein. Schon auf dem Weg hatte ich mir vorgestellt was jetzt passieren würde. Wie eingeprobt sprach ich:
„Ich kann ihnen das Sakko heute nicht zurückgeben, das geht einfach nicht. Ich brauche es und ich denke es braucht auch mich. Wieso müssen sie es unbedingt haben?“ Der Innhaber spürte meine Verzweiflung, das wusste ich und doch blieb er ungerührt.
„Es gehört dir nicht.“ Kühl streckte er mir seine Hand hin, wir beide wussten, was zutun war. Der Stoff glitt an meinem Rücken hinunter und ich fing ihn auf. Schmerzlich legte ich ihn über seinen Arm.
„Übermorgen kannst du wiederkommen.“ Das Sakko verschwand wieder in seinem Fach und ich wusste es war Zeit zu gehen.
Auf dem Weg nachhause wurde mir kalt und diesmal war es mir nicht egal.
Am nächsten Tag machte es mich verrückt es nicht mehr zu tragen. Ich musste nochmal den Laden aufsuchen und den Innhaber anflehen.
Menschen, Gasse, Gasse, Gasse. Doch diesmal erhellte kein Licht die Straße. Absolute Dunkelheit, wo ich auch hinschaute. Mir war eiskalt, ich lief weiter und weiter, doch nichts. Wo ist dieser scheiß Laden denn nur?
Die halbe Nacht verstrich, bis ich endlich aufgab. Durchgefroren und hungrig kam ich in meine Wohnung. Ich schmiss mich aufs Sofa ohne etwas zu Essen, der Appetit war mir vergangen.
Mir fiel es schwer einzuschlafen, irgendwann schaffte ich es dann.
Meine gesamte Welt bestand nur noch aus einem einzigen Gedanken: Heute Abend würde ich es wieder tragen. Den ganzen Tag machte ich nichts als auf und ab zu gehen und jede zwei Minuten auf die Uhr zu schauen. Nach einer Ewigkeit war es endlich so weit. Ich lief aus der Tür und rannte den altbekannten Weg. Einmal verlor ich das Gleichgewicht und rempelte einen Jungen an, der mich übel beschimpfte. Es war mir egal.
Endlich! Von Weitem sah ich schon das warme Licht, O dieses Licht. Als ich die kalte Klinke runterdrückte kam auf einen Schlag die Gelassenheit, wie bei einem Süchtigen, der nach langem Warten wieder eine raucht.
„Guten Abend.“
Ich täuschte vor nicht verrückt nach diesem Sakko zu sein. Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß.
„Du solltest mehr essen.“
Ich hörte nicht zu, schaute nur auf das Fach in der Holzwand. Endlich bewegte er sich und brachte es mir.
„Morgen Abend, wie das letzte Mal.“
Hastig schmiss ich es über meine Schultern, schon wieder diese Gelassenheit. Mit ihm fühlte ich mich einfach vollkommen.
Einige Zeit ging ich noch spazieren, weil ich so erregt war. Schließlich kamen wir zuhause an und legten uns ins Bett. Stundenlang hätte ich gedankenlos an die Decke starren können. Wenn es bei mir war, dann konnte ich mich entspannen.
Am nächsten Tag stellte ich mir vor, wie ich einfach mit ihm weglaufe. Was passieren würde, wenn ich es heute nicht zurückgeben würde. Ich wünschte es wäre so einfach, doch das war es nicht. Ich bin diesen Pakt eingegangen und jetzt musste ich mich auch an seine Regeln halten.
Jede Sekunde hatte ich mit ihm genossen, ich hoffte ich würde es bald wiedersehen.
Dann war es soweit, ich stand vor dem Schaufenster und betrachtete mein Spiegelbild. Ich zögerte es so lange wie möglich hinaus, griff dann schließlich doch zur Klinke. Alles war wie gewohnt. Der Innhaber schaute mich an. In seinen Augen sah ich, dass er wusste was ich dachte.
„Ich kann das nicht. Ich kann es jetzt nicht zurückgeben. Es hat sich so gut angefühlt.“
„Doch, du kannst… weil du es musst.“
Mich packte die Verzweiflung.
„Verdammt wieso???“
Sein Seufzen hörte sich nach Erfahrung an.
„Weil es nicht dir gehört. Von Anfang an wusstest du es, trotzdem hast du es ausgeliehen. Es spielt keine Rolle wie gut es dir passt, oder wie du dich fühlst, weil es nicht deines ist.“
Eine Schwere legte sich über meinen Körper. Der Innhaber musste mir helfen das Sakko auszuziehen, alleine hätte ich es nicht geschafft.
„Am Ende des Tages liegt dieses Sakko bei jemand anderem im Schrank. Es hat seinen Weg zu dir gefunden und du hast es zugelassen.“
Vorsichtig legte er das Sakko zusammen, als sei es das Wertvollste der Welt, dann verschwand es wieder im Fach. Wie ich das hasste.
„Was schulde ich ihnen?“
„Hier bezahlt man nicht mit Münzen.“
Das erste Mal verstand ich.
Oft bin ich danach noch die Gassen entlanggelaufen, mal suchend, mal in Gedanken schwelgend. Nie wider sah ich das warme Licht des Ladens, nie wieder sah ich das Sakko.