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Das Auge

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20.02.2013
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Das Auge

Das Auge

Als Gogol nach dem Aufstehen um zehn Uhr herzhaft in das Schokocroissant hineinbiss, das ihm seine Verlobte Praskowja wie jeden Morgen auf den Küchentisch gestellt hatte, spürte er zwischen den Schneidezähnen einen ungewohnten weichen Gegenstand in der Mitte der süßen Mondsichel. Verwundert legte er das Plundergebäck zurück auf den Teller, setzte die Brille auf die Nase, pulte mit zwei Fingern und Daumen im lockeren Teig herum und beförderte schließlich ein ovales Ding nach draußen. Ein klebriges Etwas in der Dimension eines taubeneigroßen Gummiballs, den Kinder als Flummi bezeichnen. Er schlurfte zum Fenster, um dort das hell scheinende Tageslicht besser ausnutzen zu können, rieb mit dem Ärmel seines Bademantels über die gallertartige Kugel und stellte erstaunt fest, dass er einen Augapfel in der Hand hielt. Kein Hunde-, Katzen- oder Rindsauge, sondern mit unumstößlicher Sicherheit ein menschliches Sehorgan. In der Farbe Blau, was den Kreis der potenziellen Eigentümer auf weniger als zehn Prozent der Bewohner der Stadt einschränkte. Was für eine eklige Sauerei, ging es ihm durch den Kopf. Wie mag das Ding ausgerechnet in mein Frühstück hineingeraten sein? Gehörte es etwa dem Bäcker um die Ecke, wo Praskowja die Hörnchen gegen sieben Uhr kaufte oder vielleicht einem Arbeiter in der Brotfabrik, die die tiefgefrorenen Teiglinge produzierte? War einzig sein Croissant mit einem Auge bestückt worden oder lag hier vielleicht eine verunreinigte Charge vor?

Er entschied sich dafür, Hose und Hemd anzuziehen und der Sache auf den Grund zu gehen. Das Auge, das bereits ein bisschen wässerte, umwickelte er mit einer dreifachen Lage Hygienepapier, über die er vorsichtshalber eine transparente Zellophanhülle stülpte, die er mit einem gelben Plastikclip verschloss. Den Beutel stopfte er in die Tasche auf der Innenseite seines Jacketts. Da er am Abend zuvor eine Flasche Wodka geleert und in der Nacht nur wenige Stunden geschlafen hatte, steckte er die Pilotenbrille mit den extragroßen, getönten Gläsern ein, um darunter die Schatten der Nacht zu verstecken. Er träufelte ein paar Tropfen in seine juckenden Bindehautsäcke, nippte ein letztes Mal am pechschwarzen Kaffee, bevor er halbwegs gestärkt die Tür durchschritt und auf den Flur trat. Es roch deutlich nach Salmiakgeist und Desinfektionsmittel. Die Putzkolonne musste erst vor wenigen Minuten hier durchgekommen sein. Allerdings war keine Menschenseele in Korridor oder Treppenhaus zu sehen. Die anderen Bewohner arbeiteten vermutlich bereits seit Stunden in ihren Büros oder schliefen noch. In diesem hypermodernen Appartementblock am Nordrand der Innenstadt – nur fünf Gehminuten vom Zentralplatz entfernt – wohnten fünfzig Parteien, die die luxuriös ausgestatteten Wohnungen entweder gekauft oder teuer gemietet hatten. In der überwiegenden Anzahl Singlehaushalte und Pärchen, bei denen beide Partner berufstätig waren. Kinder im Vorschulalter und Haustiere waren gemäß Hausordnung verboten. Umso erstaunter schaute er, als er vor dem Aufzug ein etwa vierjähriges Wesen mit braunen Zöpfen entdeckte, das dort mit gesenktem Kopf auf dem Boden hockte und bunte Murmeln hin und her rollen ließ.

Gogol räusperte sich und sprach das Mädchen an: »Zu wem gehörst du, oder hast du dich verlaufen?« Das Kind antwortete ihm nicht und war weiterhin in sein Spiel vertieft. Vorsichtig berührte er es an der Schulter. Die Kleine drehte sich langsam um, und er erschrak, als er in ihre Augen blickte. Denn die funkelten in zwei unterschiedlichen Farben: braun und grün. »Ich bin hier zu Besuch«, gluckste sie. »Möchtest du dich zu mir setzen und dabei helfen, die Kugeln zu sortieren?«
»Nein, sch.. sch.. schon gut«, stotterte er und betrat den Fahrstuhl, froh das unheimliche Mädchen schnell hinter sich zu lassen. Als er die Lobby erreichte, und die Türen sich mit einem leisen Summen öffneten, dachte er: Wahrscheinlich habe ich mir das alles nur eingebildet. Oder die Kleine hat farbige Linsen eingesetzt. Man sollte Eltern beim Jugendamt anzeigen, die solch einen gefährlichen Unsinn erlauben.
Draußen schien die Frühlingssonne von einem strahlendblauen Himmel herab. Einige zerzauste Schäfchenwolken zogen von West nach Ost über die Stadt. Ein warmer Gründonnerstag Mitte April kündigte sich an. Die ohnehin ruhige Straße vor dem Haus war um diese Uhrzeit nahezu menschenleer. Einzig ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift Pizza-Blitz parkte schräg gegenüber unterhalb einer roten Markise. Am Kotflügel lehnte ein junger Kerl in grünem T-Shirt und lässig in den Nacken geschobener Baseballkappe und pickte mit einer Plastikgabel in eine Papiertüte hinein, wie man sie zum Einwickeln von Fish and Chips verwendet. Als Gogol näher herankam, bemerkte er, dass der Fahrer glibberige weiße Kugeln in der Art wie Litschis aus der Verpackung herausfischte. Lächelnd hielt der Typ ihm ein Bällchen vor die Nase und bot es ihm zum Verzehr an. Als Gogol erkannte, dass es sich um Augen handelte, spürte er ein heftiges Würgegefühl im Hals, vollführte schweigend eine ablehnende Handbewegung und ging rasch an dem Mann vorbei.

Er erreichte nun das Bankenviertel mit den chromblitzenden Wolkenkratzern. Unter gewöhnlichen Umständen spiegelte sich die Sonne in den tausend riesigen Glasfenstern und tauchte den Bürgersteig in ein gleißendes Licht. Heute hingegen erweckte es in Gogol den Eindruck, als wenn die Hochhäuser von links und rechts nach Innen gekippt wären und die Fahrbahn verdunkelten. Mit klopfendem Herzen registrierte er plötzlich, dass versteckt hinter den Scheiben Millionen Augen lauerten, die entseelt auf ihn gerichtet waren. Ihn mutete es an, als seien sie freischwebend ohne Körper, der sie umschloss. Meine Sinne sind überreizt. Ich sollte weniger Schnaps trinken, flüsterte er sich selbst Mut zu. Gogol beschleunigte seine Schritte und bog an der nächsten Kreuzung in Richtung Park ab. Er marschierte durch eine mit gigantischen Pappeln gesäumte Allee. Eine sanfte Brise strich über die Bäume und ließ die Blätter im Wind rauschen. Auf der großen Wiese in der Mitte der Anlage hielt er an, um kurz zu verschnaufen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, denn das Thermometer kletterte an diesem schönen Vormittag im April bereits über zwanzig Grad. Gogol setzte sich auf eine Bank und schaute sich um. Außer ihm war kein Spaziergänger unterwegs. Die Hunde, die hier um diese Stunde normalerweise herumtollten, schienen heute zu Hause geblieben zu sein. Keine Vögel auf den Ästen, die Luft mittlerweile schwül wie in einem Treibhaus, Grabesstille um ihn herum. Wo mögen die Stadtbewohner und Tiere abgeblieben sein? Träume ich vielleicht und bin noch gar nicht erwacht? überlegte er. Von rechts näherte sich nun eine alte Frau, die einen Pudel spazieren führte. Er freute sich darüber, endlich einem Menschen zu begegnen. Als die Greisin achtlos an ihm vorbeigehen wollte, grüßte er sie: »Guten Morgen, das scheint heute ein heißer Tag zu werden.«

Die Alte wandte ihm den Kopf im Zeitlupentempo zu und Gogol erschauerte, als er in ihr Gesicht ohne Augen starrte. Der ebenfalls blinde Hund trug ein blaues Menschenauge im Maul, ließ es auf den staubigen Weg fallen, bellte Gogol erst laut an, begann daraufhin böse zu knurren und biss in das ausgestellte Hosenbein von Gogols Jeans hinein. Die Frau zerrte energisch an der Leine, riss das Tier zurück und entfernte sich kichernd. Das vergessene Auge ruhte derweil mit der Rückseite auf dem grauen Ascheboden und fixierte Gogol. Der rieb sich in einer nervösen Bewegung über die nach wie vor gerötete Bindehaut und stellte erstaunt fest, dass an der Stelle, an der er ansonsten den elastischen Augapfel spürte, jetzt ein Loch in der Größe seines halben Daumens klaffte. Voller Entsetzen fingerte er nach seinem Stofftaschentuch, faltete es mit zittrigen Fingern zu einem Dreieck und verdeckte damit wie ein Korsar des 17-ten Jahrhunderts die blutige Höhle. Geistesgegenwärtig sammelte Gogol das vor ihm liegende blaue Auge auf und verstaute es im Plastikbeutel neben dem Zwilling aus dem Schokocroissant.

Dann rannte er los, so schnell ihn die Beine trugen, unter den schattigen Pappeln hindurch aus dem Zentralpark hinaus auf die breite Chaussee, an deren Ende sich das Krankenhaus Der heiligen Lucia von Syrakus befand. Gogol überquerte verwaiste Straßen, auf denen Autos ohne Insassen vor verbogenen Ampeln standen, wich Gesteinsbrocken aus, die von den Dächern der Häuser auf ihn niederprasselten und erreichte nassgeschwitzt und außer Atem die Eingangshalle der Klinik. Schwestern ohne Augen mit Armen, die Küchenmessern ähnelten, nahmen Gogol in Empfang und begleiteten ihn in einen riesigen Operationssaal an dessen hinterem Ende die Wand fehlte, sodass er von dort bis in sein Wohnzimmer schauen konnte, wo er auf dem Teppich den gekrümmten Körper einer blonden Frau erkannte. Wie durch einen Nebel aus Chloroform und Watte hindurch hörte er aus der Ferne Stimmen, die ihn beim Namen riefen. Zahlreiche Hände zerrten an seinen Armen und Schultern. Er wurde in die Höhe gehoben und auf einem Tisch festgeschnallt. Grelles Licht wie aus Scheinwerfern blendete ihn für einige Sekunden. Danach schwand ihm das Bewusstsein und ihn umfing stockdunkle Nacht.

Als er aus der Ohnmacht erwachte, war er an die Gitterstäbe eines Metallbetts gefesselt. Seine Augen verbunden mit einer dicken Mullbinde. Zwei Männer – vermutlich Ärzte – unterhielten sich leise zu Gogols Rechten, weil sie ihn irrtümlich noch schlafend wähnten.
»Die Frau sah furchtbar aus. Mit einer Küchenklinge bestialisch zerstückelt. Sogar die Augen hatte er herausgetrennt.«
»Weshalb dieser ganze Irrsinn?«
»Im Wahn. Beide hatten LSD eingeworfen und mit Wodka runtergespült.«
»Wer hat das Paar entdeckt?«
»Der Pizzabote, der eine halbe Stunde später klingelte und die Tür nur angelehnt vorfand. Skurrilerweise trug der junge Typ wegen einer Bindehautentzündung eine Augenklappe wie ein Pirat.«
»Muss kein schöner Anblick für ihn gewesen sein.«
»Sicher nicht. Das war aber noch nicht die ganze Geschichte. Zu allem Unglück rollte der Ball der kleinen Ilona, die bei ihrer Oma zu Besuch war und auf dem Korridor gespielt hatte, in die Wohnung hinein. Als das Kind den wiederholen wollte, stolperte es über den Patienten und fiel mit dem linken Auge in das Messer hinein, das er noch in der Hand hielt.«
»Oh Gott! Was geschah dann?«
»Vom lauten Geschrei der Enkelin alarmiert eilten die Großmutter und deren Pudel herbei. Die Alte erlitt einen Nervenzusammenbruch und kann seitdem nicht mehr sehen. Der Köter kläffte noch wie verrückt als Polizei und Notarzt am Tatort eintrafen. Und hat wahrscheinlich ein Auge der Verlobten gefressen, denn das ist spurlos verschwunden.«
»Was geschieht mit dem Patienten?«
»Sobald der hier genesen ist, wird er in Untersuchungshaft überstellt. Ihm droht ein Prozess wegen Totschlags. Für einen geplanten Mord war er zu vollgedröhnt. Da hat er Glück gehabt.«
»Und seine Augen?«
»Die waren nicht mehr zu retten. Komplett verätzt mit Salmiakgeist, den er sich im Drogenrausch selbst hineingekippt hatte. Schade drum, denn die strahlten früher wohl in einem schönen Blau. Na ja, dort wo er die nächsten zehn Jahre sitzen wird, werden sie ihm schon beibringen, wie man als Blinder zurechtkommt. Zeit genug, sich daran zu gewöhnen, hat er ja.«

Die beiden Ärzte verließen das Krankenzimmer, und Gogol wünschte sich, er wäre in der letzten Nacht gemeinsam mit Praskowja gestorben.

 
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Hallo sinuhe,

diese Geschichte gefaellt mir deutlich besser, als die letzte, die ich von Dir las. Sie hat Handlung und Fokus, Anfang, Mitte und Ende. Und sie ist schoen schaurig. Es ist Dir gut gelungen so eine Alptraumatmosphaere einzufangen. Und dann gibt es noch eine ueberzeugende Aufloesung.

Da ich den Inhalt, Aufbau und Figurenzeichnung gut finde und der Text auch schoen kurz ist, kann ich mir diesmal auch leisten, ausfuehrlichere Textkritik zu betreiben. Denn am Stil koennte man noch etwas feilen, damit der den Inhalt besser stuetzt, besser vorantreibt. Vor allem sehe ich hier Potential fuer Streichungen und Glaettung. Das ist Uebungssache, sowas selbst zu erkennen und dann in nem Editing-Prozess zu beheben. Deshalb fuehr ich mal vor, was ich meine.

Als Gogol nach dem Aufstehen um zehn Uhr herzhaft in das Schokocroissant hineinbiss, das ihm seine Verlobte Praskowja wie jeden Morgen auf den Küchentisch gestellt hatte, spürte er zwischen den Schneidezähnen einen ungewohnten weichen Gegenstand in der Mitte der süßen Mondsichel.
Es gibt sicher Argumente dafuer, erste Saetze ein bisschen kuerzer zu halten, aber hier stoert mich das nicht. Was ich ungeschickt finde, ist die doppelte Ortsbestimmung im letzten Halbsatz "zwischen den Schneidezaehnen", "in der Mitte der suessen Mondsichel". M.E. kann letztere ersatzlos gestrichen werden, da ohnehin klar ist, dass er da grad ins Croissant gebissen hat, und "suesse Mondsichel" als ziemlich gesuchte Umschreibung fuer eben dieses erscheint. Das "weich" wuerde ich hier ebenfalls streichen, weil die Konsistenz ja spaeter ausfuehrlich erklaert wird. Das mach den ganzen langen Satz dann etwas schnittiger.

Ein klebriges Etwas in der Dimension eines taubeneigroßen Gummiballs, den Kinder als Flummi bezeichnen.
Hier hast Du schon wieder ne Dopplung drin "in der Dimension von" und "taubeneigross". Das Etwas hat also die Dimension eines Flummis, der wiederum die Dimension eines Taubeneis hat. Das ist ungeschickt. Warum sagst Du nicht einfach "taubeneigrosses Etwas", zumal "flummigross" eh keine gute Groessenangabe ist (Flummis gibt es ja in vielen Groessen zu kaufen), sondern eher was ueber die elastische Konsistenz sagt. "Den Kinder als Flummi bezeichnen" ist auch so eine nutzlose Kompliziertheit. Flummis sind gemeinhin auch fuer Erwachsene Flummis.

Er schlurfte zum Fenster, um dort das hell scheinende Tageslicht besser ausnutzen zu können
das Tageslicht auszunutzen - tut hier denselben Job, aber effizienter

Das Auge, das bereits ein bisschen wässerte, umwickelte er mit einer dreifachen Lage Hygienepapier, über die er vorsichtshalber eine transparente Zellophanhülle stülpte, die er mit einem gelben Plastikclip verschloss.
Diesen pedantischen Einpackprozess finde ich eigentlich sehr lustig. Stilistisch stoert, dass da zwei "die"-Nebensaetze folgen. Solche Kleinigkeiten machen halt auch einen schoenen Stil aus.

Den Beutel stopfte er in die Tasche auf der Innenseite seines Jacketts.
Innentasche des Jacketts - ist jetzt kein so unbekanntes Konzept, das man das so umstaendlich beschreiben muesste.

Da er am Abend zuvor eine Flasche Wodka geleert und in der Nacht nur wenige Stunden geschlafen hatte, steckte er die Pilotenbrille mit den extragroßen, getönten Gläsern ein, um darunter die Schatten der Nacht zu verstecken.
Das ist auch ueberfluessig. Der Zusammenhang zwischen schlechtem Schlaf und Brille erschliesst sich dem Leser schon.

Einzig ein weißer Lieferwagen mit der Aufschrift Pizza-Blitz parkte schräg gegenüber unterhalb einer roten Markise.
unter

Am Kotflügel lehnte ein junger Kerl in grünem T-Shirt und lässig in den Nacken geschobener Baseballkappe und pickte mit einer Plastikgabel in eine Papiertüte hinein, wie man sie zum Einwickeln von Fish and Chips verwendet.
Dieses und-und ist nicht so schoen. Das gruene T-Shirt koennte man einfach streichen, weil die Baseballkappe eh das staerkere Bild ist. Der letzte Vergleich mit der Fish n Chips-Tuete ist auch so ein bisschen umstaendlich. Wo sind wir ueberhaupt? Russische Namen aber englisches Essen. Ich wuerd einfach schreiben: pickte mit einer Plastikgabel in eine Pommestuete hinein. Der Irrtum wird dann spaeter ja eh effektvoll aufgeklaert. Schoen fies uebrigens. :D

Als Gogol näher herankam, bemerkte er, dass der Fahrer glibberige weiße Kugeln in der Art wie Litschis aus der Verpackung herausfischte.
"in der Art wie" klingt auch umstaendlich. "glibberige weisse Kugeln, die wie Litschis aussahen" wuerds m.E. unauffaelliger tun

Ihn mutete es an, als seien sie freischwebend ohne Körper, der sie umschloss.
Das "als ob" ist einer "Anmutung" schon implizit, daher wieder doppelt gemoppelt. "Sie muteten ihn freischwebend an, ohne Koerper, der sie umschloss."

Wo mögen die Stadtbewohner und Tiere abgeblieben sein? Träume ich vielleicht und bin noch gar nicht erwacht?
Der erste Satz muesste auch kursiv.

biss in das ausgestellte Hosenbein von Gogols Jeans hinein.
das "hinein" brauchts nicht. "verbiss sich" waere hier m.e. auch staerker

Na ja, so weit erstmal. Ab der Mitte wird es eh fluessiger. Was man noch bemaengeln koennte, ist die gestelzte Sprache der Pfleger. aber weil das hier eh alles so surreal ist, find ich das nicht so schlimm.

Also das hat das Potential ein ziemlich cooler Text zu sein, wenn er vom Stil her ein wenig stromlinienfoermiger waere. Das kaeme dem Inhalt zugute, so verheddert der sich oft in den Worten. Aber wie gesagt, so einen Editierblick kann man sich selbst ganz gut aneignen. Wenn man denn will.

lg,
fiz

 

Hallo fiz,

du hast dir Das Auge durchgelesen. Das freut mich.
Und dabei einen spitzen Rotstift angesetzt. Das ist aber gut, denn nur so lernt der Autor.

diese Geschichte gefaellt mir deutlich besser, als die letzte, die ich von Dir las.
Das liegt woran:
( ) Sujet
( ) Länge
( ) Stil?
Vermutlich eine Mixtur aus allen drei.

Vor allem sehe ich hier Potential fuer Streichungen und Glaettung. Das ist Uebungssache, sowas selbst zu erkennen und dann in nem Editing-Prozess zu beheben.
Wenn wir alle fehlerfrei und à la Th. Mann formulierten, würde die Berufsgruppe der Lektoren u. Kommentatoren bald arbeitslos.

Manchmal vermute ich ja, dass die optimale KG einzig aus einem Satz mit max. acht Wörtern bestehen darf.

Es gibt sicher Argumente dafuer, erste Saetze ein bisschen kuerzer zu halten, aber hier stoert mich das nicht. Was ich ungeschickt finde, ist die doppelte Ortsbestimmung im letzten Halbsatz "zwischen den Schneidezaehnen", "in der Mitte der suessen Mondsichel". M.E. kann letztere ersatzlos gestrichen werden, da ohnehin klar ist, dass er da grad ins Croissant gebissen hat, und "suesse Mondsichel" als ziemlich gesuchte Umschreibung fuer eben dieses erscheint. Das "weich" wuerde ich hier ebenfalls streichen, weil die Konsistenz ja spaeter ausfuehrlich erklaert wird. Das mach den ganzen langen Satz dann etwas schnittiger.
Die Kritik bringst du didaktisch geschickt rüber: du hast an u. für sich nichts gegen lange Einstiegssätze; dieser hier könnte aber trotzdem um ein Drittel gekürzt werden. Mal schau’n, von was ich mich trennen werde.
Süße Mondsichel mag ich eigentlich ganz gerne. Wobei mir die Umschreibung an dieser Stelle ebenfalls nicht so richtig gefällt.

Hier hast Du schon wieder ne Dopplung drin "in der Dimension von" und "taubeneigross". Das Etwas hat also die Dimension eines Flummis, der wiederum die Dimension eines Taubeneis hat. Das ist ungeschickt. Warum sagst Du nicht einfach "taubeneigrosses Etwas", zumal "flummigross" eh keine gute Groessenangabe ist (Flummis gibt es ja in vielen Groessen zu kaufen), sondern eher was ueber die elastische Konsistenz sagt. "Den Kinder als Flummi bezeichnen" ist auch so eine nutzlose Kompliziertheit. Flummis sind gemeinhin auch fuer Erwachsene Flummis.
Das ist ein guter Hinweis (genau genommen sind es zwei):
( ) DimensiontaubeneigroßFlummi : das sind tatsächlich zwei Größenangaben zu viel
( ) Auch Erwachsene bezeichnen einen Flummi als solchen. Aber sie spielen idR. nicht damit. Muss ich trotzdem umformulieren

das Tageslicht auszunutzen - tut hier denselben Job, aber effizienter
Ja, aber ich bin mir unsicher, ob ein Text immerzu dem Effizienzgedanken folgen muss. Das wäre der (antik) römische Ansatz, um sich von den (zu?) viel Worten machenden Griechen zu unterscheiden.

Diesen pedantischen Einpackprozess finde ich eigentlich sehr lustig. Stilistisch stoert, dass da zwei "die"-Nebensaetze folgen. Solche Kleinigkeiten machen halt auch einen schoenen Stil aus.
Ei, das ist allerdings für den Autor nicht einfach:
( )1x die als bestimmter Artikel im Plural
( ) gefolgt als Einleitung eines Relativsatzes
Diese Dopplungen selbst zu bemerken: schwierig.

um darunter die Schatten der Nacht zu verstecken.

Das ist auch ueberfluessig. Der Zusammenhang zwischen schlechtem Schlaf und Brille erschliesst sich dem Leser schon.

Wobei mir Schatten der Nacht ganz gut gefällt. Könnte beinahe Lyrik sein

Dieses und-und ist nicht so schoen. Das gruene T-Shirt koennte man einfach streichen, weil die Baseballkappe eh das staerkere Bild ist. Der letzte Vergleich mit der Fish n Chips-Tuete ist auch so ein bisschen umstaendlich. Wo sind wir ueberhaupt? Russische Namen aber englisches Essen. Ich wuerd einfach schreiben: pickte mit einer Plastikgabel in eine Pommestuete hinein. Der Irrtum wird dann spaeter ja eh effektvoll aufgeklaert. Schoen fies uebrigens.
Also nur ein Kleidungsstück pro Satz. Werde ich mir merken.

Die Story spielt in einer x-beliebigen (Groß-) Stadt. Reichen Russen begegnet man mittlerweile überall auf der Welt.

Gogol deshalb, weil ich zu der Geschichte durch eine Erzählung dieses Schriftstellers inspiriert wurde: Die Nase. Handelt von einem Barbier, der morgens in der Küche eine Nase findet. Die hatte er am Abend zuvor (betrunken?) einem Kunden versehentlich beim Rasieren abgeschnitten. So ganz genau kann er sich aber nicht daran erinnern. Im gleichen Moment erwacht der Kunde (ein Major) am anderen Ende der Stadt und stellt beim Blick in den Spiegel fest, dass seine Nase fehlt. Nun entwickelt sich über viele Seiten eine Aneinandervorbeilauf-Geschichte. Die Wege von Friseur und Offizier kreuzen sich jetzt ununterbrochen, bloß verpassen sie sich immer um einige Minuten. Bis dann am glücklichen Schluss die Nase endlich wieder am richtigen Platz sitzt. Praskowja lautete der Name der Ehefrau des Barbiers.

Pommestüte: auf diesen naheliegenden Vgl. bin ich gar nicht gekommen; weil:
( ) man bei uns in Köln Fritten dazu sagt. Frittentüte existiert als Begriff jedoch nicht
( ) Pommes in Tüten ohnehin aus der Mode gekommen sind. Serviert werden die Fritten entweder in einer Pappschale oder einem Behältnis à la McDonald
( ) Fish & Chips – zumindest früher – in Zeitungspapier abgefüllt wurden. Das der Verkäufer vorher – wie der Prota das Taschentuch – individuell faltete.

Ich werde Pommestüte einsetzen.

"in der Art wie" klingt auch umstaendlich. "glibberige weisse Kugeln, die wie Litschis aussahen" wuerds m.E. unauffaelliger tun
In der Art finde ich jetzt nicht so schlimm; auch wenn es ein bisschen sperrig klingt. (Aus-) sehen wollte ich vermeiden, weil eben wg. Auge in der Geschichte viel geschaut, geguckt, gesehen und geblickt wird

Das "als ob" ist einer "Anmutung" schon implizit, daher wieder doppelt gemoppelt. "Sie muteten ihn freischwebend an, ohne Koerper, der sie umschloss."
Man muss wirklich JEDES Wort auf seine Bedeutung hin untersuchen. Diese vernünftige Analyse stößt aber im Schreibfluss an ihre Grenzen. Denn wenn ich mir über jedes einzelne Verb Gedanken mache, dann schaffe ich ja nicht mehr als zehn Sätze pro Tag.

das "hinein" brauchts nicht. "verbiss sich" waere hier m.e. auch staerker
Biss ist ohnehin blöde, weil der Prota ja zu Beginn bereits in das Croissant biss. An verbiss hatte ich nicht gedacht. Schnappen wäre eine weitere Möglichkeit

ist die gestelzte Sprache der Pfleger. aber weil das hier eh alles so surreal ist, find ich das nicht so schlimm.
Die zwei Ärzte sollten sich halt wie nüchterne Mediziner unterhalten (und nicht wie betrunkene Raufbolde). Deshalb habe ich ihnen wahrscheinlich zu glatte Dialoge in den Mund gelegt. Werde ich eine Spur schärfer gestalten

Also das hat das Potential ein ziemlich cooler Text zu sein, wenn er vom Stil her ein wenig stromlinienfoermiger waere. Das kaeme dem Inhalt zugute, so verheddert der sich oft in den Worten. Aber wie gesagt, so einen Editierblick kann man sich selbst ganz gut aneignen. Wenn man denn will.
Na immerhin: ein kleines Lob.

Stromlinienförmig: vor gar nicht allzu langer Zeit warf mir eine Kommentatorin vor, zu stromlinienförmig zu formulieren. Entweder hatte ich diese Geschichte in einem anderen Stil verfasst, oder das Attribut wird von den Kritikern unterschiedlich interpretiert. Ganz interessant.


Fiz, herzlichen Dank für die Tipps! An Hinweisen zu (falsch verwendeten) Worten u. Schreibtechnik bin ich immer sehr interessiert. Von daher hilft mir solche Kritik stets weiter.

Lg sinuhe

 

Hi sinuhe,

nachdem du mich mit dem Posting http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?p=601815#post601815 baff zurückgelassen hast, habe ich mal deine Homepage in Augenschein genommen. Du schreibst dort, dass du nach Möglichkeit eine Kurzgeschichte pro Tag schreiben willst. Krass! Daran musste ich streckenweise denken, während ich diese Geschichte gelesen habe. Hauptsächlich habe ich wegen der Rubrik und des Titels mal ein Auge auf dieses Werk geworfen - sah vielversprechend aus. Am Anfang erschien mir die Geschichte inhaltlich zu gewöhnlich. Lose Augäpfel sind auch ein typisches schräges Motiv, finde ich. Erst, als der Protagonist ins Klinikum gerannt ist, begannen die mentalen Bilder stärker und etwas schräger zu werden.

Die Auflösung fand ich recht cool, wobei mir die chronologische Folge aber etwas anders zu sein scheint, als sie meiner Meinung nach plausibel auf die Sicht des Protagonisten abbildbar wäre. Das kann natürlich auch dem LSD-Rausch geschuldet sein, da ist alles möglich.

Gern gelesen.

Gruß
Leif

P.S.: Wie lange hast du denn an dieser Story geschrieben?

 

Hi Leif,

ups, ich muss auf meiner eigenen HP schleunigst nachschauen, was ich dort im vergangenen Sommer verzapft hatte.
Da ich damals zumeist Kurzgeschichten in der Länge von 1000 Wörtern geschrieben habe, kommt das von der Mengenangabe 1/ Tag in etwa hin. Habe rd. 50% der Stories zum Download bereitgestellt. Ist für einen Autor ein gutes Instrument, um Agenten – denen du vorher natürlich per Mail eine Leseprobe von dir schicken musst – und Lektoren neugierig zu machen.

Ich tippe zumeist zwei bis drei Stunden an der Rohfassung, mache dann Pause und beschäftige mich dann wiederum zwei Stunden mit dem Feinschliff. Lese mehrmals Korrektur und übersehe trotzdem min. ein Dutzend Fehler.

Bei Geschichten, die 2000w lang sind, kannst du den Arbeitsaufwand in etwa verdoppeln. Nicht ganz. Rd. 60-70% on top. Mit dem Auge (1700w) habe ich – erinnere mich dunkel – einen Tag verbracht. Allerdings nicht durchgängig.

Natürlich hat man von herumkullernden Augäpfeln schon gelesen (E.A. Poe?) o. die im TV in irgendeinem Teil von Scary Movie gesehen. Ich hatte mir die Idee von N.W. Gogol ausgeliehen. Deshalb heißt der Prota bei mir auch Gogol. Bei dem handelte es sich allerdings um eine abgeschnittene Nase, die vom Eigentümer gesucht wird.

Ob ich – im Schreibrausch – die Chronologie des LSD-Trips korrekt geschildert habe? Keine Ahnung.

Ich sehe gerade, dass du die Rubrik Experimente betreibst. Muss ich mich mal in ein paar KGen einlesen, um zu begreifen, was ihr unter Experiment versteht. Ist ja ein dehnbarer Begriff. Falls mir die Kategorie gefällt, lasse ich mir eine Geschichte dafür einfallen. M.E. ist es so: wenn du einen Handlungsfaden im Kopf hast – der kann völlig spontan entstehen –, dann schreibst du eine Story schnell runter. Zumindest die Rohversion. Ohne zündende Idee lasse ich die Finger weg von der Tastatur. Denn in diesem Fall brichst du dir einen ab und am Schluss kommt doch nichts Gescheites dabei heraus.

Wünsche dir noch einen schönen Abend u. vg, sinuhe

 

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