Das Auge
13. Juli
Schon wieder bin ich mitten in der Nacht aufgewacht. Ein Alptraum, derselbe wie immer und doch irgendwie anders.
Dieses Mal war ich nicht Zuhause, es begann im Laden. Der Nebel war mit von der Partie, das ganze Wetter war unheimlich. Ich glaube, es war Dämmerung und zwar Abenddämmerung. Ich starrte auf den Berg, den man von meinem Haus aus sehr gut sehen kann. Davor war ein Baum, der so in sich verschlungen war, dass er wie eine Kugel wirkte. Dieser Baum steht da nicht in Wirklichkeit.
Die Erde bebte und auf einmal wurde dieser Berg zu einem riesigen Auge, das sich umsah und fragte:
„Was geschieht hier so auf Erden?“
Ja, ich weiss, dass Augen normalerweise nicht sprechen. Aber normalerweise sind sie auch nicht riesengross. Der Baum war zu der Pupille des Auges geworden. Vorwurfsvoll blickte es auf die Erde nieder. Die Iris glühte, welche Farbe sie hatte, kann ich nicht sagen. Es waren alle Farben und keine zugleich. Dann auf einmal sah es mich an! Ich konnte mich nicht rühren. Ich rannte nicht weg wie sonst immer. Es sagte mit donnernder Stimme:
„Es büssen die Sünder!“
Diesen kalten Blick hatte es direkt auf mich gerichtet! Ich wollte schreien, dass ich nicht sündige und dass es mir Leid tut. Aber ich konnte nur ein Krächzen herauspressen. Um das Auge begannen nun- das war auch neu- Wolkenstränge Kreise zu ziehen, Blitze zu zucken und Sterne zu tanzen. Es wurde noch grösser, um die anderen Sünder zu finden und sie zu bestrafen. Es glühte und hörte nicht auf sich umzusehen. Die Welt brannte. Ich wusste, ich würde bestraft werden, weil ich ein Sünder war.
Aber ich habe nicht gesündigt! Wirklich nicht! Ist das Auge Gott? Oder meine Vorstellung davon? Warum träume ich immer wieder davon? Ich werde Pfarrer Heinsen fragen.
15. Juli
Der Pfarrer sagt, ich solle beichten, dann würde der Traum verschwinden. Aber ich habe nichts zu beichten, ich bin kein Sünder oder gar ein schlechter Mensch. Und nur die müssen beichten.
21. Juli
Heute hat die Erde gebebt, es war während der Abenddämmerung. Ich hatte Angst aus dem Fenster zu sehen. Das Auge konnte dort sein und auf mich warten.
Ich warte auf die Ankunft des Auges und den Tag des Jüngsten Gerichts.
22. Juli
Es ist mitten in der Nacht, ich fühle mich krank. Die Erde bebt immer noch ein bisschen. Nachbeben sagen sie in den Nachrichten. Das Auge ist nicht gekommen, hatte ich noch einmal Glück? Bin ich für einmal noch davongekommen?
„Es büssen die Sünder.“
2. August
Ich habe jede Nacht von dem schrecklichen Auge geträumt. Es kommt immer näher und es wird dabei immer grösser. Bewegen kann ich mich nicht, ich muss büssen. Ich habe solche Angst, was kann ich nur tun? Pfarrer Heinsen versteht mich nicht. Er sagt, er weiss nicht, warum ich das träume. Aber er will immer noch, dass ich beichte und gestehe. Niemals, kein noch so grosses Auge wird mich dazu bringen. Er ist doch ein Mann Gottes oder nicht? Trotzdem kann er mir keine Antwort geben. Werde ich verrückt? Womöglich. Lieber das, als dieses Auge jemals wieder zu sehen.
Ich habe Dr. Mertens nichts von den Träumen erzählt. Ich habe nicht gelogen, er hat nicht gefragt. Ich lüge nicht. Lügen ist eine Sünde. Dr. Mertens möchte, dass ich diese Pillen nehme, zur Beruhigung. Was für ein Unsinn! Man kann nicht ruhig sein, wenn man das Ende der Welt erwartet.
6. August
Heute war jemand in meiner Wohnung. Er hat alle Möbel umgeworfen und ein riesiges Auge auf alle Wände und sogar Fenster gezeichnet. Darunter hat er geschrieben:
„Ich sehe alles.“, und „Es büssen die Sünder.“. Wer tut so was? Wahrscheinlich war es einer dieser Vandalen, die Zeitung lesen. Da stehen viele Lügen über mich drin, viele gemeine Lügen. Dr. Mertens hat mir verboten, Zeitung zu lesen. Das würde mich aufregen und durcheinander bringen. Er hat Recht, das tut es. Diese gemeinen Lügen. Auch Pfarrer Heinsen glaubt daran. Er dürfte das nicht tun, er kennt mich doch. Er glaubt, ich lüge. Wieso?
Die Wohnung muss ich nun aufräumen, wird viel Arbeit machen. Ist es das wert? Wenn die Welt ohnehin untergeht, warum soll ich dann eine ordentliche Wohnung haben? Quatsch. Es muss ordentlich sein. Der Eindruck ist sehr wichtig. Ausserdem muss ich ja irgendwo sitzen, schlafen und essen. Die Wohnung wird aufgeräumt.
7. August
Pfarrer Heinsen ist tot, der arme Mann. Es gab sehr viel Blut.
9. August
Ich habe Dr. Mertens von dem Traum erzählt. Inzwischen schlafe ich nämlich fast gar nicht mehr. Ich kann nicht, das Auge sieht auf mich herab und liest alle meine Gedanken. Es weiss alles und es wird mich bestrafen. Ich darf nicht mehr aus dem Haus gehen.
„Es büssen die Sünder“.
Immer wieder dieser Spruch! Ich habe nicht gesündigt! Es war nicht meine Schuld! Zeitungen sind schlecht und Fernsehen. Die machen alles kaputt. Ich will nicht bestraft werden, ich will nicht büssen. Warum habe ich nur die Pillen weggeworfen? Betäubung hätte ich jetzt ganz gut gebrauchen können. Ich möchte nicht mehr wissen, nicht mehr denken und vor allem nicht mehr träumen.
12. August
Heute ist der Tag, der Tag der Busse. Ich fühle es. Das Auge sieht vom Fenster auf mich herab, der Berg ist verschwunden. Ich habe Angst.
Die Erde bebt wieder, viel stärker als letztes Mal. Ich weiss nicht wie stark, ich habe den Fernseher letztes Mal kaputtgemacht. Also, er ist mir kaputtgegangen. Und Zeitungen lese ich nicht, das ist schlecht für mich. Heute ist der Tag, alle Zeichen bestätigen mir es. Ich möchte nicht bezahlen, es war keine Absicht. Ich wusste nicht, dass es eine Sünde ist. Aber der fürchterliche Augengott verzeiht nicht, er ist nicht der Gott der Gnade. Er ist der Gott der Vergeltung und der Bestrafung. Er kümmert sich nicht um das warum nur das „dass“ ist ihm wichtig. Er wird mich holen. Ich habe Angst, ich möchte nicht…
Hier brach das Tagebuch ab. Das „nicht“ endete in einem langen Schnörkel, der bis ans Ende der Seite reichte. Stevenson legte es zur Seite.
„Und wie soll mir das helfen, Dr. Mertens?“
„Hier haben sie die Antworten, die sie brauchen. Warum er sich schlussendlich das Leben genommen hat.“
„Das erklärt nicht, warum er die anderen Menschen getötet hat.“, wandte Stevens ein.
„Sicherlich. Er hielt sie für böse und nicht nett, wie beim Pfarrer. Sie waren gegen ihn, sie waren Sünder, Sünder müssen büssen. Das können sie mindestens 1000 Mal in diesem Tagebuch finden. Wissen sie, diese Frömmigkeit hat ihm seine Mutter eingeimpft. Das war vielleicht eine fanatische alte Schachtel.“ Dr. Mertens lächelte, als hätte er einen lustigen Witz gemacht. Stevens lachte nicht, es war nicht zum lachen. Er konnte Mertens nicht leiden. Mertens war selbst verrückt.
„Die kleinen Zwillinge, waren sie auch böse?“
„Vielleicht haben sie ihn beschimpft oder ihm einen Streich gespielt. Er hatte seine Gründe.“ Mertens lächelte wieder. Stevenson musste sich krampfhaft zurückhalten, um ihn nicht zu schlagen. Es ging um eine ernste Sache. Mertens war zum Teil dafür verantwortlich, dass so viele Menschen gestorben waren. Er hatte gewusst was dieser Mann für ein Irrer war und selbst nach praktisch eindeutigen Beweisen Zweifel geäussert. Allein wegen Mertens waren die letzten drei Opfer ermordet worden, wahllos weil sie böse waren. Wie er ihn hasste! Trotzdem musste er mit Mertens reden, um die Ermittlungen endgültig abzuschliessen. Er hatte enorme Kopfschmerzen.
Stevenson hatte gedacht, mit dem Tagebuch wäre alles zu Ende. Es würde die Gründe liefern und er könne die Akte auf Eis legen. Aber nein, das Tagebuch dieses Irren zeigte mehr oder weniger gerade seinen Wahnsinn. Es stand nichts davon, wieso er sich bestimmte Leute ausgesucht hatte. Trotzdem beschloss Stevenson die ganze Sache auf Eis zu legen. Der Wahnsinnige hatte sich selbst umgebracht, sie würden die Antworten sowieso nicht mehr erhalten.
„Danke, Dr. Mertens für ihre Hilfe bei diesem sehr schwierigen Fall. Vielleicht werden sie noch mal von einem Kollegen besucht. Reine Routine, sie brauchen sich nicht mehr zu Sorgen. Auf wieder sehen.“ Stevenson wartete eine Antwort gar nicht erst ab, er stürzte regelrecht aus Mertens Praxis. Er erledigte den Papierkram so schnell wie möglich und wollte die ganze Sache genauso schnell wieder vergessen. Bestialische Morde waren wirklich nichts für Zuhause.
Normalerweise gelang es ihm auch ganz gut, Zuhause abzuschalten. Aber bei diesem Fall war es anders. Die Gedanken kreisten immer nur um die Morde, die Schuldigen und um den verdrehten Verstand des Mörders. Dieses Tagebuch war ein Witz. Das ganze Geschreibsel war ein Witz. Dieser religiöse Wahn und dieser seltsame Alptraum über ein riesiges Auge, das alles sieht. Stevenson schauderte, das war eine gruselige Vorstellung.
„Schatz, kommst du auch zu Bett?“ fragte ihn seine Frau.
„Ja natürlich.“ Er zog sich bis auf die Boxershorts aus und kroch unter die Bettdecke. Seine Frau schien gerade in Stimmung zu sein, denn sie drückte ihn an sich und begann ihn zu küssen. Aber er stiess sie etwas grob weg. Er war nicht in Stimmung, definitiv nicht. Er wollte einfach nur schlafen und den ganzen Stress vergessen. Seine Frau drehte sich beleidigt um, jedoch sagte sie nichts mehr.
„Was war denn gestern Abend mit dir los?“ fragte ihn seine Frau, während er gerade Kaffee trank.
„Ach, ich hatte Kopfschmerzen wegen Mertens und so. Ich war nicht in Stimmung, sei nicht böse.“
Sie winkte ab. „Nein, das hab ich nicht gemeint. Was meinst du mit „Es büssen die Sünder.“?“
„Was?“
„Das hast du gestern Nacht immer geflüstert und du hast dich herumgeworfen und etwas von einem Auge… Schatz? Schatz ist alles klar?“ Die Kaffetasse fiel zu Boden und zerschellte. Die Erde bebte. Stevens sah aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf den Hügel, der direkt davor lag...