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Das aufgeblähte Tagebuch
Ich liege auf dem blank polierten Tisch, jenem der gleich vor dem Fenster mit Aussicht steht. Er ist aus hellem Fichtenholz und riecht nach Bienenwachs. Hart fühlt sich diese Unterlage an. Wenngleich ich denke, dass es nicht diese ebene Fläche ist, die mein Unwohlsein hervorruft. Ich liege auch nicht zu nahe an der Kante. Mein tiefer Fall ist also nicht zu befürchten.
Der Schlag der Pendeluhr, vertraut nach vielen Jahren, bestätigt mir eine Zeit der Stille. Keine Gefahr ist zu erwarten in dieser nächtlichen Stunde. Weder droht Wein auf mich verschüttet zu werden, wie neulich, als ein paar meiner wertvollsten Seiten verklebt wurden. Noch muss ich mich sorgen, dass man mir, wie schon einige Male vorgekommen, unter Tränen Seiten aus meinem Körper reißt. Woher kommt dann dieses Unbehagen?
Sie müssen wissen, meine Besitzerin hat an sich eine ausgesprochen zärtliche Hand. Ihre Berührung ist fast ehrfurchtsvoll, wenn sie mich hervorholt, ihre warmen Gedanken in mich fließen lässt. Aber auch, wenn sie bebend vor Zorn und Wut mit abgehackter Schrift ihre Pein zwischen meine Seiten kratzt, achtet sie doch darauf meine Blätter nicht zu perforieren. Alles in allem behandelt sie mich meist wie einen lieben, guten Freund. Und doch, es macht sich nach jedem Absatz den sie in meine weißen Blätter drückt, ein seltsames Völlegefühl in mir breit.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich denke sogar, dass sie liebende Gefühle für mich hegt. Es kam schon vor, dass sie lächelnd eine zarte Blüte zwischen meine Seiten legte. Es scheint sie glücklich zu machen, ihre Worte auf Duft zu betten, manches Hingeschriebene vor Vergänglichkeit bewahren zu wollen. Gerbera nennt sie diese Blumen. Da ihre Freude über dieses Gewächs so groß ist, verzeihe ich ihr die zarte orange Färbung welche diese Blüten auf meinen sonst sehr sauberen, weißen Tagebuchseiten hinterlässt.
Entschuldigen Sie, wieder macht sich diesen Würgen breit, sprengt fast den goldenen Verschluss der geheimnisumwitterten Seiten. Ich vermute, dass sie einige Wörter einfach zu oft verwendet, ihnen viel zu viel Bedeutung beimisst. Der Platz in so einem Tagebuch ist nunmal begrenzt und bedarf doch einigermaßen Sorgfalt beim Auswählen von Sätzen, Worten und Begriffen. Irgendwie scheint ein Ungleichgewicht vorzuliegen, welches mir letztlich immer wieder Übelkeit verursacht.
Ich bin der Sprache der Menschen ja nicht kundig, nur jener der toten Materie. Aber wissen Sie, wenn es mir manchmal gelingt einige dieser seltsamen Buchstabenfolgen in stillen Nächten heimlich zwischen den Seiten hervorzuwürgen, sie lautlos durch diesen kleinen Spalt herauszupressen, welcher sich bildet, da wo meine Mitte gefalzt ist, dann erlebe ich eine wahrliche Befreiung. Ich fühle mich dann unbeschwert und sogar die hölzerne Unterlage scheint mir dann weich und formvollendet.
Vielleicht wissen Sie mit diesen Wörtern etwas anzufangen, welche, kaum entwichen und ihrer Wichtigkeit beraubt, diesen herrlichen Raum zwischen meinen Seiten schaffen. Sobald sie sich nicht mehr, mit der ihnen eigenen Schwere, gegen meine zarten Blätter pressen ist das Atmen wunderbar leicht.
Ich lasse sie jetzt einfach auf Ihre aufgeschlagene Buchseite gleiten. Ihnen bleibt die Erkenntnis vielleicht nicht verborgen, warum mich diese Wörter oft derart beengen. Ja ich glaube gar, den Blick auf die Bedeutung von all dem anderen Geschriebenen verstellen. Es sind die Wörter: mein, ich, meines, mir, meine, mich, meiner, ...