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Das aufgeblähte Tagebuch

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08.08.2002
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Das aufgeblähte Tagebuch

Ich liege auf dem blank polierten Tisch, jenem der gleich vor dem Fenster mit Aussicht steht. Er ist aus hellem Fichtenholz und riecht nach Bienenwachs. Hart fühlt sich diese Unterlage an. Wenngleich ich denke, dass es nicht diese ebene Fläche ist, die mein Unwohlsein hervorruft. Ich liege auch nicht zu nahe an der Kante. Mein tiefer Fall ist also nicht zu befürchten.

Der Schlag der Pendeluhr, vertraut nach vielen Jahren, bestätigt mir eine Zeit der Stille. Keine Gefahr ist zu erwarten in dieser nächtlichen Stunde. Weder droht Wein auf mich verschüttet zu werden, wie neulich, als ein paar meiner wertvollsten Seiten verklebt wurden. Noch muss ich mich sorgen, dass man mir, wie schon einige Male vorgekommen, unter Tränen Seiten aus meinem Körper reißt. Woher kommt dann dieses Unbehagen?

Sie müssen wissen, meine Besitzerin hat an sich eine ausgesprochen zärtliche Hand. Ihre Berührung ist fast ehrfurchtsvoll, wenn sie mich hervorholt, ihre warmen Gedanken in mich fließen lässt. Aber auch, wenn sie bebend vor Zorn und Wut mit abgehackter Schrift ihre Pein zwischen meine Seiten kratzt, achtet sie doch darauf meine Blätter nicht zu perforieren. Alles in allem behandelt sie mich meist wie einen lieben, guten Freund. Und doch, es macht sich nach jedem Absatz den sie in meine weißen Blätter drückt, ein seltsames Völlegefühl in mir breit.

Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich denke sogar, dass sie liebende Gefühle für mich hegt. Es kam schon vor, dass sie lächelnd eine zarte Blüte zwischen meine Seiten legte. Es scheint sie glücklich zu machen, ihre Worte auf Duft zu betten, manches Hingeschriebene vor Vergänglichkeit bewahren zu wollen. Gerbera nennt sie diese Blumen. Da ihre Freude über dieses Gewächs so groß ist, verzeihe ich ihr die zarte orange Färbung welche diese Blüten auf meinen sonst sehr sauberen, weißen Tagebuchseiten hinterlässt.

Entschuldigen Sie, wieder macht sich diesen Würgen breit, sprengt fast den goldenen Verschluss der geheimnisumwitterten Seiten. Ich vermute, dass sie einige Wörter einfach zu oft verwendet, ihnen viel zu viel Bedeutung beimisst. Der Platz in so einem Tagebuch ist nunmal begrenzt und bedarf doch einigermaßen Sorgfalt beim Auswählen von Sätzen, Worten und Begriffen. Irgendwie scheint ein Ungleichgewicht vorzuliegen, welches mir letztlich immer wieder Übelkeit verursacht.

Ich bin der Sprache der Menschen ja nicht kundig, nur jener der toten Materie. Aber wissen Sie, wenn es mir manchmal gelingt einige dieser seltsamen Buchstabenfolgen in stillen Nächten heimlich zwischen den Seiten hervorzuwürgen, sie lautlos durch diesen kleinen Spalt herauszupressen, welcher sich bildet, da wo meine Mitte gefalzt ist, dann erlebe ich eine wahrliche Befreiung. Ich fühle mich dann unbeschwert und sogar die hölzerne Unterlage scheint mir dann weich und formvollendet.

Vielleicht wissen Sie mit diesen Wörtern etwas anzufangen, welche, kaum entwichen und ihrer Wichtigkeit beraubt, diesen herrlichen Raum zwischen meinen Seiten schaffen. Sobald sie sich nicht mehr, mit der ihnen eigenen Schwere, gegen meine zarten Blätter pressen ist das Atmen wunderbar leicht.

Ich lasse sie jetzt einfach auf Ihre aufgeschlagene Buchseite gleiten. Ihnen bleibt die Erkenntnis vielleicht nicht verborgen, warum mich diese Wörter oft derart beengen. Ja ich glaube gar, den Blick auf die Bedeutung von all dem anderen Geschriebenen verstellen. Es sind die Wörter: mein, ich, meines, mir, meine, mich, meiner, ...

 

Hallo schnee.eule,

nicht nur ein Tagebuch wird durch diese Wörter trotz aller Liebe belastet...
Eine schöne Idee, so etwas liest man selten, seltsam und doch vertraut.
Bei weißen Tagebuchseite“ gibt´s einen kleinen Vertipper, und bei „hölzerne Unterlage“.
„nunmal begrenzt“ - das finde ich etwas zu Umgangssprachlich im Vergleich zum übrigen Text, ebenso: „da wo meine Mitte gefalzt ist (dort, wo meine), „ich lasse sie einfach mal“ - ich lasse sie einmal auf die von ihnen aufgeschlagene Buchseite ... .

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 
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Servus Woltochinon!

So ist es. Nicht nur das Tagebuch ist überlastet von der Wichtigkeit welche sich Menschen ständig selbst geben. Die Suche sich als etwas Bedeutungsvolles zu erfahren, lässt die Menschen oft daran vorbeigehen, dass sie auch so bereits wertvoll sind. Es würde das ganze sich Wichtignehmen unnötig machen würden.

Deine Fehlerchen hab ich ausgebessert. Danke fürs Lesen und einen schönen Tag für dich!

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Servus ProgMan!

Danke, dass du in die Geschichte reingeschaut und ein wenig Poesie darin entdeckt hast.

Die beiden meinen, die dir das Lesen schwer machten, werde ich gleich aufspüren und korrigieren.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Servus bogdan!

Vielleicht a bisserl krass gleich von Wut zu sprechen. Aber mancher nimmt sich selbst schon ein wenig zu wichtig und wirkt damit auf andere erdrückend. Kann durchaus sein, dass dieser Mensch dann manches übersieht in seiner Aufgeblähtheit.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

ja eh, wut ist übertrieben, aber ich hatte gerade RATM gehört und dann ...

grüsse, schumpo the kaladze.

 

Hei SchneeEule,

eine feine Geschichte - und die Idee aus Sicht des Tagebuchs zu schreiben fand ich auch Klasse. Schöne Worte und Sätze hast du (wie immer!) für die Story gefunden – war ein Lese-Genuss für mich.

Liebe Grüße
Liz

 

Liebe Liz!

Danke, freu mich, wenn es beim Lesen Genuss bereiten konnte. Verbring den Tag gut -

lieben Gruß an dich - Eva

 

Ja, ja, die aufs Ich bezogenen Worte, die nach dem sich selbst in den Mittelpunkt stellen folgen. Selbstverliebtheit, Selbstverherrlichung, Selbstzweck, Selbstverständnis. Ich glaube, liebe, meine, will, kann nicht verstehen, sehe es so, muss darüber reden...
Meine Sicht der Dinge, mein Bedürfnis, meine Erfahrung, mein Verständnis für....
Mich interessiert das nicht, kotzt das an, lässt dies kalt, fragt ja niemand, würde es freuen....
Mir bedeutet es viel, ist dies zuwenig, schwebt anderes vor, kann keiner erzählen, fehlen die Worte....

Armes Tagebuch. Es ist nicht zu beneiden, trotz der Gerbera zwischen seinen Seiten.
Ein behutsamer, sehr überlegter Text, Eva.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo eva, danke für diesen einfühlsam geschriebenen text. mir kam ein anderer gedanke beim lesen: was ist eigentlich die funktion des tagebuches? ich dokumentiere dort MEINE meinungen, ideen, stimmungen, ängste, animositäten....etc. im moment des schreibens vielleicht einfach etwas erleichterndes für den schreiber - ein abladen. das mag die offensichtlichste funktion des tagebuches sein. für mich aber viel wichtiger ist das spätere lesen im tagebuch - nach 1,2,5 jahren. dann hält es mir den spiegel vor, was ich damals für ein mensch war. und wenn ich dann denn schritt zur erkenntnis schaffe, ist viel gewonnen.

so gesehen, stören mich die vielen ICH-aussagen überhaupt nicht. im gegenteil. sagt man im leben nicht all zu oft "man" - nur weil man sich nicht traut, ICH zu sagen?

ich hoffe, du kannst das nachvollziehen - auch wenn du nicht zwangsläufig damit einverstanden bist.

herzliche grüße
ernst

 

Servus Aqualung!

Genau. Dort wo immer das eigene Denken recht hat. Wo Menschen erleuchteter, schneller sein wollen, für sich und die eigene Art ständig Bestätigung suchen, sich von der Masse abheben wollen. Andere nicht anders sein lässt, sondern ihnen die eigenen Wertigkeiten immer wieder aufs Aug drückt.

Deine zusätzlichen Ausführungen vertiefen noch den Hintergrund dessen was ich meinte. Die Geschichte ist ja nicht tiefgründig, sondern ganz leichthändig geschrieben und soll eigentlich eher zum Schmunzeln da sein. Aber der Kern, der ist schon in der Tiefe drin.

Lieben Gruß an dich - Eva

Servus Ernst Clemens!

Wenn ein Mensch nur ganz selten ICH sagt, sich immer zurücknimmt, dann mag das was du sagst natürlich stimmen. Und ja klar, in einem Tagebuch geht es um mich, meiner, mir - selbstverständlich.

Ich dachte aber daran, dass Menschen sich manchmal als den Mittelpunkt des Universums sehen. Man selbst hat die einzige Wahrheit gepachtet, man weiß für alle was das Beste ist, nimmt sich einfach zu wichtig. Diese Anmaßung kann schon ganz schön aufblähen. Da ich aber nicht über einen aufgeblähten Menschen schreiben wollte, ließ ich das Tagebuch davon erzählen.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Eva,

eine sehr zarte und sehr deutliche Geschichte hast Du geschrieben, die ich gerne gelesen habe. Es hat mir Spaß gemacht, mich in das Tagebuch hineinzuversetzen und mir zu überlegen, worunter es wohl leidet. Und ich kann das aufgeblähte Buch gut verstehen. So geht es mir (und wahrscheinlich auch anderen Menschen) immer dann, wenn ich mich auf einen gemütlichen Plaudernachmittag mit einer Freundin gefreut habe und mich dann den ganzen Nachmittag / Abend ausschließlich ihren Leiden und Freuden befassen mußte. Schließlich will ich auch mal die Worte "mein, ich, meines, mir, meine, mich, meiner" verwenden. :D

Du solltest den Text noch mal daraufhin durchsehen, ob die Anrede "Sie, Ihnen" etc. richtig geschrieben hast. Ich meine Du hast diese fast immer klein geschrieben. :):

"Ich sage ihnen ganz ehrlich, "
"Entschuldigen sie, wieder macht sich"
"Aber wissen sie,"
"Vielleicht wissen sie mit"

Ich glaube, dies war meine erste schnee.eule-Geschichte. Aber bestimmt nicht meine letzte!

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Eva,
leider kann ich nichts Neues mehr hinzufügen, wollte Dir aber trotzdem sagen, dass ich die Idee, die Geschichte aus der Sicht des Tagebuches zu schreiben sehr originell finde und Deinen schön formulierten Text gerne gelesen habe.
Liebe Grüsse
Blanca

 

Servus Barbara!

Zart und deutlich - das gefällt mir. Die von dir geschilderte Situation ist mir gut bekannt.
Aber immerhin, wir sind der menschlichen Sprache mächtig und können auch mal "Stop" sagen nicht wahr?
Fein, wenn du mal auch in andere Geschichten reinschauen wirst, freu mich schon.

Lieben Gruß an dich - Eva

Servus Blanca!

Nun, damit sagst du mir schon sehr viel und ich danke dir herzlich für diese Worte.

Lieben Gruß an dich - Eva

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Eva,

ich hab ein sehr schönes Gedicht von Mascha Kaléko gefunden, das zu Deiner Geschichte passt:

Gebet

Es wohnen drei in meinem Haus -
Das Ich, das Mich, das Mein.
Und will von draußen wer herein,
So stoßen Ich und Mich und Mein
Ihn grob zur Tür hinaus.

Stockfinster ist es in dem Haus,
Trüb flackert Kerzenschein.
- Herr: Laß dein Sonnenlicht herein!
Dann geht dem Ich, dem Mich, dem Mein
Das fahle Flämmchen aus.

:)

Liebe Grüße
Barbara

 

Servus Barbara!

Das ist ja wirklich ein ausgezeichnet passendes Gedicht. Außerdem find ichs wirklich ausgesprochen aufmerksam von dir, es mir nach Wien zu schicken. Vielen herzlichen Dank und einen besonders lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Eva!

Ich kann mich nur anschließen, ein sehr feiner, stiller Text. Besonders gelungen finde ich, wie Du den Leser einbezihst und direkt ansprichst, ohne aber auch nur im entfernteten zu direkt oder aufdringend zu wirken.
Das ist ein Text, über den man nach nachdenken kann, weil er etwas anspricht, was wohl die meisten menschen etwas angeht...

liebe Grüße
Anne

 

Lieben Dank Maus, es ist schön, dass du angenehme Stille anstatt Aufdringlichkeit empfunden hast und dennoch ein gewisse Nachdenklichkeit Platz findet.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

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