Das Alien im Supermarkt
Das Alien, in Äußerer Erscheinungsform eines Menschen und zur perfekten Tarnung mit den gleichen Körperfunktionen und somit auch den gleichen körperlichen Bedürfnissen ausgestattet, befindet sich zu später Stunde seiner zuständigen Region, zum Zeitabschnitt Wochenende, der vom Menschen erfunden wurde, in einem herkömmlichen Supermarkt. Es ist darauf angewiesen, seinen künstlichen Körper genauso zu behandeln wie der Mensch es mit dem seinen tun muss, um ihn am Leben und frei von tödlichen, oder lebenserschwerenden Krankheiten zu halten. Diese Vorschriften sind nötig, um die menschlichen Verhaltensweisen genauer studieren und verstehen zu können.
Nach einem dem Durchschnitt gerechten zehn Minuten und achtundzwanzig Komma vier, sieben, zwei Sekunden langem Einkauf, darauf geschult sich den menschlichen Handlungen und Gewohnheiten anzupassen, kommt es an der überdurchschnittlich langen Schlange an der Kasse an. Das Alien kennt die Ungeduld, die die Menschen ganz natürlich mit sich tragen gar nicht mehr und beobachtet sie wie einen Dokumentarfilm über eine längst vergangene, jedoch interressante* Vorzeit, die seine Spezies schon ewig hinter sich hat.
Zur perfekten Tarnung hatte es einen der vielen menschlichen Fehler kopiert: Es kaufte übertrieben viele verschiedene Sachen, die das Alien dann mühsam mit seinen zwei falschen menschlichen Armen zur Kasse trug. Eine völlig unlogische Handlungsweise, da am Eingang sogenannte Einkaufswägen standen, in denen man diese Zahlreichen Utensilien leicht hätte unterbringen können. Dieser Fehler demonstrierte Menschlichkeit, zog aber gleichzeitig nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich.
An der Kasse angekommen kommt es in den Genuss eine typische Szene analysieren zu können: Eine Frau mittleren Alters, die sich Katzenfutter für ihre geliebtes Tier kauft, ruft der Mitarbeiterin, verärgert über die lange Schlange an der einzigen Kasse, zu: „Machen se doch mal ne zweite Kasse auf!“ Die Mitarbeiterin, etwas jünger, und von einem langen Arbeitstag gestresst, antwortet: „Das geht nicht. Wir haben Vorschriften. Wir machen keine zweite Kasse mehr auf.“ Worauf die Frau beleidigt und aufgebracht antwortet: „Das kann doch net sein! Sehnse nich die lange Schlange? Do muss doch nö zweitö Kasse uffgemacht werdn!“ Die Angestellte erwidert, ohne groß den sich anbahnenden Konflikt zu überdenken: „Ich mache jetzt keine zweite Kasse mehr auf. Hörn Sie es gibt Regeln an die wir uns halten müssen. Bei Ladenschluss machen wir keine zweite Kasse mehr auf.“, woraufhin die rebellische Katzenfrau barsch antwortet: „Des kann doch net sein! Sind sie blöd oder was?“ Dabei lacht sie spöttisch und macht eine ebenso spöttische, allen Menschen dieses Kulturkreises wohl bekannte Geste, indem sie mit der Hand vor ihrer Stirn hin und her wedelt. Die zahlreichen Zuschauer merken langsam aber sicher, was hier in der Luft liegt. Die Mitarbeiterin antwortet, davon ausgehend, dass sie als elemantarer Bestandteil ihrer Zugehörigen Ladenkette als dieser gebührlich respektiert wird, und aufgebracht von dieser respektlosen Geste, mit einer Drohung, die natürlich noch nicht entgültig ist, sondern nur ihren aggressiven Zweck der Einschüchterung erfüllen soll und das entstehende, in wenigen Momenten leuchtend lodernde Feuer weiter schürt: „ So. Sie verlassen jetzt das Geschäft sofort.“ Ihre Gegenspielerin, immernoch gnatzig, jetzt jedoch wohlwissend, dass sie im Begriff ist vor versammeltem Publikum aus dem Laden geschickt oder gezerrt zu werden antwortete: „Soll meine Katze jetzt Zuhause deswegen verhungorn?", offensichtlich auf Verhandlungen hoffend. Wobei das Alien dieses Argument als durchaus nicht dumm erachtet, da es jedes Wesen berührt, das auch nur einen Funken von Mitgefühl in seinem Herzen trägt. So antwortet die natürlich nicht gefühllose Mitarbeiterin: „Nein aber wenn sie mir so kommen, bekommen Sie hier gar nichts.“ Die Katzenfrau schlägt mit einem in ihrer Hoffnung einschüchternden und einem ebenso aggressiven Vorschlag zurück: „Dann könnse ja ihrön Scheff höln. " Daraufhin stürmte die Mitarbeiterin in einem zügigen, bestimmten Gang ins Büro des Supermarkts.
Nach einer kurzen Zeitspanne von fünf Komma drei, sieben, vier Sekunden kam ihr Chef, sein Gang war genauso zügig und bestimmt, ganz klar vom eintönigen Arbeitsleben, in dem Laufen die halbe Miete ist, geprägt, der Frau entgegen und fing an das Gefecht seiner Kollegin fortzusetzen. "Hörn sie, so kommen sie unseren Mitarbeitern hier nicht." Die Frau, nun vom Dienstgrad, vom Einfluss, von der Macht des Höheren Personals, sie aus dem Laden zu katapultieren eingeschüchtert und auf einmal weniger respektlos, ja schon resignierend: „Ich wollt doch nür, dass ne zweite Kasse geöffnet würd.“ Woraufhin der schlacksige bleiche Mann antwortet: „Ja aber trotzdem ist das kein Grund, gleich unpersönlich zu werden.“
Das Alien, bemüht, so unauffällig wie möglich zwischen den anderen Menschen zu bleiben, musste es sich mit allen Mitteln verkneifen, über das Wort 'unpersönlich' zu lachen. Der Fililalienleiter meinte wohl eher das Wort 'unhöflich', doch in der Gegend, aus der er stammt, und in dem die Mehrheit der eigenen Muttersprache nicht so mächtig ist, hat sich diese lustige neue Bedeutung des Wortes 'unpersönlich' anscheinend als Alternative zum gängigen allgemeinen Ausdruck der deutschen Sprache etabliert.
Die Diskussion bestand nun nur noch aus Wiederholungen der bereits erwähnten Argumente und ihre Intensität ließ langsam aber sicher wieder nach. Schließlich löste er die brenzliche Situation mit einem Kompromiss indem er nun doch eine zweite Kasse übernahm, inkonsequent aber notwendig in diesem Fall, dachte sich das Alien während es nach den anderen zahlreichen Zuschauern bezahlte und dem Mann ein schönes Wochenende wünschte.
Zuhause angekommen, schüttelte das Alien grinsend den Kopf, darüber, dass die Menschen immernoch nicht gelernt haben, unnötigen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Hätte die Katzenfrau einfach ein bisschen Geduld und Verständnis von Zuhause mit in den Supermarkt genommen, wäre der ganze Konflikt erst gar nicht entstanden. Selbst die einfache Möglichkeit, statt einer unhöflichen Anschuldigung eine nicht böse gemeinte Frage zu stellen, und bei einer nicht gewünschten Antwort mit der besagten fehlenden Geduld und dem dazugehörigen Verständnis zu reagieren, hätte den Konflikt vermeiden können.
Die Mitarbeiterin ist zwar sachlich geblieben, hätte aber, angenommen, sie hätte über ausreichende Artikulationsfähigkeiten und die Fähigkeiten des schnellen Vorausdenkens seiner Spezies verfügt, diesen Konflikt auch ohne die Hilfe ihres Chefs lösen können.
Der Chef löste den Konflikt, wie erwartet von einem Filialienleiter. Doch auch sein Handeln war verbesserungswürdig. Das Alien hatte bei ihm mangelhafte Fertigkeiten in Sachen Artikulation zu beklagen, die bei ihm auf Gewohnheit und Einfluss seines Umfelds zurückzuführen sind. Seine Geduld war ebenfalls nicht strapazierfähig genug.
Doch das Alien macht den Menschen, welche es mit Freuden und Neugier beobachtet, keine Vorwürfe. Früher oder später werden vielleicht auch sie all die Antworten auf die Fragen finden, die seine Spezies schon vor Äonen ermittelte. Es betrachtet die Menschen immer noch als faszinierende Kreaturen, die durchaus das Potenzial haben, wenn sie die richtigen Fragen und Antworten finden, eines Tages ebenfalls eine Lebensform höheren Grades darzustellen. Aber nur wenn...