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Das Abenteuer Paranoia (Angst und Schrecken auf der Obstbaumwiese)
An jenem Novemberabend 2015 hätte ich wahrscheinlich mit dem Kopf im Schoß meiner Frau liegen bleiben sollen.
Nach einer stressigen Arbeitswoche fühlte ich mich ausgepresst, wie eine Zitrone. Auf meinen Knien lag der Laptop, auf dem Bildschirm waren wieder einmal Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten. Erneut brandgefährliche Situation im Nahen Osten, wieder Demos, wieder Kriegstreiberei in der neoliberalen "Qualitätspresse".
"Haltet die Diktatoren auf! Im Namen der amerikanischen Staatsverschuldung, im Namen der Finanzblasen, haltet die Schurkenstaaten unbedingt auf." Verdrehte Welt, verkehrte Werte, Nutte wird Nonne genannt, Nonne Nutte. In den alternativen Medien nichts als Schwarzmalerei und das ewige Geflenne.
"Die Welt geht unter! Die Apokalypse kommt. Bald ist alles vorbei. Der Countdown läuft. Zehn, neun, acht, sieben...."
Zu guterletzt stoße ich auf einen Artikel über die Hellseherin Baba Wanga "Das Ende Europas in 2016". Genau das hat jetzt noch gefehlt. Pünktlich zur Untergangsstimmung eine ordentliche Portion Mystik. Was? Wie? Weshalb? Schnell eine Googlesuche. Tatsächlich! Laut der Alten sollte im kommenden Jahr Europa nahezu menschenleer werden. Krieg, Kathastrophe oder doch Massenauswanderung? Verschiedene Seiten enthielten unterschiedliche Information. Wieder betrachtete ich das Bild der alten Frau. Von seiner Aufmachung erinnerte es an eine Ikone. Ein religiöses Motiv, eine blinde Greisin, die den Tod, das Ende kommen sieht und mit der Hand auf ihn deutet. Die zugeklebten Augen gaben dem faltigen Gesicht eine unbegreifliche Ausstrahlung. Wer war sie? Ein Racheengel, ein Medium oder des Teufels rechte Hand?
An jenem Abend wäre es vermutlich das Vernünftigste gewesen, ins Schwimmbad zu gehen oder irgendeine dämliche amerikanische oder französische Komödie zu schauen, eine Runde zu laufen, zu meditieren oder sonst etwas Entspannendes zu unternehmen. Doch zu diesem Zeitpunkt, da Wanga mich in ihren Bann gezogen hatte und ich wie hypnotisiert auf den Bildschirm starrte, hatte ich bereits die dreifache Dosis LSD im Magen. Drei Zettel - war das zu verkraften? Probieren geht über Studieren. Eine Stunde Erwartung war schnell vergangen. Langsam begann es überall zu kribbeln. Ein bekanntes Gefühl, ein schönes, angenehmes, doch heftiger als sonst, heftiger, viel heftiger. Verdammt nochmal, was war das denn? Ich sprang auf und ging ein wenig im Raum hin und her.
- "Was ist mit dir", hörte ich meine Frau fragen.
- "Alles in Ordnung."
Doch nichts war in Ordnung. Diese Energie, diese Elektrizität in meinen Adern, wo sollte das alles denn nun hin. Die Wände wurden enger.
- "Ich muss weg", sagte ich und ging in den Flur.
- "Hast du schon wieder Drogen genommen?" Ich antwortete nicht. Dafür hatte ich keinen Kopf mehr. Es war unmöglich, das in diesem Zustand mit ihr zu besprechen.
Schnell die Schuhe anziehen und raus. Im Treppenhaus konnte man die Laute aus den anderen Wohnungen hören, alle auf einmal. Die Bewohner kamen mir in den Sinn, mitsamt ihren Problemen. Diese Last drohte mich zu erdrücken. Ich rannte die Treppen hinunter in die frische Luft. Was mich nun packte, war die reinste Panik.
Draußen erklang schließlich eine Stimme aus einem der Fenster.
- "Hey Nachbar. Wohin?"
- "Ich dreh durch, Tarzan. Ich dreh durch."
- "Warte auf mich, bin gleich unten."
Ich ging hin und her. Alles um mich herum verschwamm, die Lichter der Laternen, die betonierte Straße mit den Autos. Ein einziger Gedanke zog in meinem Kopf seine Kreise und kam immer und immer wieder. Ein einziges Wort: hängenbleiben, hängenbleiben, hängenbleiben.
- "Wie gehts dir, Nachbar?" fragte Tarzan. Er war entgegen seiner Gewohnheit, sich wie eine Schnecke zu bewegen, innerhalb einer einzigen Minute nach draußen gesprintet.
- "Alter, ich werde verrückt. Das ist zu stark."
- "Wieviele hast genommen?"
- "Drei."
- "Und, gut?"
- "Verdammt nochmal, siehst du doch."
- "Hehe. Ich bin auch noch drauf, Moruk. Hab heute Nachmittag zwei Stück gefressen. Das wird schon wieder. Mach dir keine Sorgen, Lan."
Ich sagte kein Wort und marschierte los. Tarzan folgte mir.
- "Alter, dich hat es ja richtig gut erwischt."
Ich antwortete nicht, versuchte, mich zu konzentrieren. Ein Gedanke folgte auf den nächsten, einer schlimmer als der andere. Dass Gedanken materiell sein sollen, hatte ich schon oft gehört. Doch diese waren mehr als das. Sie waren spürbar, berührbar, sichtbar wie Ölgemälde an der Wand.
- "Denk an etwas Positives, empfahl mein Nachbar."
- "An was denn?"
Eine neue Panikattacke schlug auf mich ein wie eine gigantische Welle und mir kam es vor, als treibe ich in einem Ozean, wo weit und breit kein Land in Sicht ist. Nichts hätte mich jetzt beruhigen können. Rein gar nichts. Ein höllischer Schrecken zog sich wie schwarze Wolken über meinem Kopf zusammen. Das Eingangstor in
die Welt religiöser Wahnzustände hatte sich geöffnet und ich geriet in die Gewalt von Kräften, die ich nicht erklären, nicht begreifen, nicht nachvollziehen konnte. Mir blieb die Luft weg, obwohl ich in vollen Zügen atmete.
- "Nachbar, Nachbar. Komm wieder zu dir." Tarzan rüttelte an meinem Jackenärmel.
Halt! Stop! Es ist nur das LSD, das verdammte Acid, dieses Teufelszeug. Das ist nur
vorübergehend so. Das wird wieder vergehen? Das vergeht doch wieder? Oder?
Wir liefen bergauf und mein Herz begann zu rasen. Ich spürte es in den Schläfen donnern und war mir sicher, dass ich gleich platze. Noch ein bißchen und es kracht. Ein Infarkt, ein Schlaganfall, mein Schädel wird explodieren. Und wenn er nicht explodiert, dann werde ich den Verstand verlieren. Heute, hier und jetzt. Wie sich das wohl anfühlt? Wie kann man sich das überhaupt vorstellen? Verdammt, warum habe ich nur so wenig Respekt vor Drogen. Was für eine kranke Variante. Einfach so über Nacht. Zack, und du bist nicht mehr du selbst. Bist nicht mehr derjenige, der du immer gewesen zu sein glaubtest.
- "Du bist nur auf Horror, Mann. Morgen ist das vorbei." Unterbrach Tarzan meine Spinnereien.
- "Wann, Alter?" Fragte ich vollen Ernstes.
- "Das hält schon noch eine Zeit, hehe." Mein Nachbar lachte in seiner gewohnten Manier. Ein
kurzes "Hehe", aber tief aus dem Rachen heraus.
Jeder einzelne Gedanke kam mit der Intensität einer Offenbarung, eines wahren Geistesblitzes, der jedoch
nichts als Unheil verhieß. Wenige Momente lang ließ er mich wie ein Stromschlag zappeln und verschwand dann wieder, als sei er nie dagewesen, gefolgt vom nächsten, genauso furchbaren.
- "Denk an etwas Schönes," schlug Tarzan noch einmal vor.
Ich versuchte es. Doch alles, was mir je Freude bereitet hatte, kam jetzt verzerrt, verdreht und
verunstaltet bis zur Unerkennbarkeit. Jeder Gegenstand, den ich betrachtete, bekam einen Leuchtkranz um sich herum, dessen Strahlen wie die Nadeln eines Stachelschweines in alle Richtungen stachen. Schnell, agressiv, erbarmungslos. Jeder Augenblick wurde zu einem gigantischen Bild, das an mir vorbei in die Ferne zog, gefolgt vom nächsten, wie in einem Filmstreifen. Vergleichbar einem Ertrinkenden im Wasser spürte ich keinerlei Halt, nichts Festes, woran ich mich hätte klammern können. Ich setzte mich auf den Asphaltboden und tastete ihn mit meinen Händen ab. Auch Tarzan ging in die Hocke. Dieser dürre, an ein KZ-Opfer erinnernde Sohn türkischer Gastarbeiter. Er war jetzt meine einzige Verbindung zur Realität.
- "Nachbar, Alter, wohin gehen wir überhaupt?" fragte er.
- "In den Wald. Zu Mutter Natur."
- "In den Wald? Was echt? Doch nicht jetzt."
- "Das letzte was ich brauche, sind Menschen." Sagte ich. "In der Stadt fahren Bullen herum, ein Treffen mit denen, das wird eindeutig zu viel."
In meinem Gedächtnis tauchten die neuesten Zeitungsartikel auf: "Die Russen kommen. Sie sind schon da, überall. Im Internet sind sie, auf den Straßen. Russische Propaganda, KGB Kampfschulen in deutschen Städten, Russlanddeutsche als Putins Geheimarmee, Anhänger eines feindlichen Staates. Der Feind ist vor der Tür. Der Feind steckt im eigenen Haus. Der Feind, das war aller Logik nach ich. Zum Abschuss freigegeben.
- "Moruk, wir können doch nicht im Wald rumhängen, auf Acid. Bist du verrückt?"
Ich sprang auf. Heiliger Strohsack, warum hat der das jetzt gesagt? War ich etwa wirklich schon verrückt geworden. Das Gesicht meines Nachbarn verschob es in alle Richtungen. Eine Grimasse wechselte die nächste ab.
- "Alter, im Wald ist es gut," sagte ich vollen Ernstes. "Mutter Natur liebt uns, die will uns nichts Böses. Menschen sind böse, Mann, sie nicht." Mutter, Mutter war ein guter Gedanke. Doch dieser war ebenso schnell weg wie er gekommen war. Alles was blieb war die strenge mütterliche Anweisung, keine Drogen zu nehmen.
- "Nachbar, du weißt doch. Ich glaube an Dämonen und all son Scheiß, Lan. Amina koyim, gehen wir nicht in den Wald."
- "Dämonen?" fragte ich. Komischerweise löste dieses Wort keinerlei Assoziazionen bei mir hervor. Ich hatte keine Bilder hierzu im Kopf, nicht die geringste Vorstellung zu diesem Thema. Etwas Schwarzes zog im Himmel an mir vorbei und eine Kröte quakte in meinen Ohren.
- "Ja, Mann. Dschinns, Alter. Mein Vater hat die in der Türkei gesehen. Wie sie über Feuer springen. Habe ich dir doch erzählt, Nachbar. Gehen wir nicht in den Wald."
- "Hier gibt es überhaupt keinen Wald", antwortete ich. "Das weißt du doch. Lebst seit
zwanzig Jahren in diesem Kaff. Hier gibt es nur Maisfelder und der Mais ist schon abgeerntet. Bullen sind schlimmer als Dschinns, bljad'. Die hassen Russen, die hassen Türken, die lesen Bildzeitung."
In einiger Entfernung erkannte ich ein Mädchen auf dem geteerten Feldweg mit einem Hund spazieren gehen. Doch als sie uns sah, rannte sie los und der Köter mit ihr. Wie vom Teufel gejagt. Mir fiel ein, dass ich in den letzten Wochen, hier am Stadtrand schon öfter ängstliche Gesichter getroffen hatte, auch tagsüber. Die Einheimischen zuckten zusammen, wenn sie meine unrasierte, südländisch-asiatische Visage sahen. Dann grüßten sie mich und erwarteten mit einem nervösen Blick eine Antwort. Ein akzentfreies "Servus" oder "Grüß Gott" schien sie zu beruhigen. Niemand wusste schließlich, wen genau Mutti ins Land gelassen hatte und
wofür. Niemand hatte einen blassen Schimmer, wer jetzt in den Alubaracken hier hauste, in der Turnhalle am Autobahnzubringer und in der alten Chemiefabrik in Bahnhofsnähe. Es war schon stockfinster und hier auf der Obstbaumwiese fand sich weit und breit keine Seele. Ich musste daran denken, dass innerhalb der letzten Wochen vier meiner Bekannten das Land verlassen hatten. Die zwei Freaks, von denen ich das LSD hatte, waren mit dem Wohnmobil nach Südspanien abgehauen. Eine ehemalige Dozentin hatte auf Facebook gepostet, dass sie
ihre berufliche Zukunft lieber in Japan suchen werde. Ein entfernter Verwandter hatte sich auf Bali abgesetzt. Konnte das Zufall sein? Die ganzen Gehirnamputierten von den Demos waren ohnehin schon lange dabei, ihre kollektive Umsiedlung nach Südamerika zu planen. Sie redeten ununterbrochen vom Dritten Weltkrieg und von einem Bürgerkrieg in Deutschland, der durch Masseneinwanderung aus islamischen Ländern künstlich
herbeigeführt werden soll. Tarzan meldete sich wieder zu Wort.
- "Nachbar, du darfst nicht gegen das Zeug ankämpfen. Du musst es jetzt genießen. Schau dir
diesen Baum an. Die Äste, wie sie sich bewegen."
Ich blickte hinauf. Schwarze Linien schlängelten sich wie Krakenarme, mit dem wolkigen dunklen Himmel im Hintergrund. Wieder hörte ich irgendwo eine dicke, fette Kröte quaken. In mir kam das Bedürfnis auf, den Hügel hinaufzugehen, der an ein Keltengrab erinnerte und von wo aus man die gesamte Umgebung sehen konnte.
Oben angekommen schauten wir in die Ferne. Sahen unsere Stadt, das Industriegebiet, den endlosen Horizont und schließlich den Psychoknast auf dem Berg, direkt im Ortszentrum. Für einen Novemberabend war es recht warm und ich musste an die Erderwärmung denken. Mit der Wärme wandern auch Südvölker in Richtung Norden, zu uns, hierher.
- "Meinst du wirklich?" Fragte mein Nachbar plötzlich. Mir war gar nicht aufgefallen, das ich diesen Gedanken ausgesprochen hatte.
Was wusste denn ich schon, was gerade um mich herum passierte. Vielleicht waren ja inzwischen tatsächlich überall amerikanisch-islamistische Millizen, die Nazikommunisten wie mich jagten. Warum sonst hatte man sie alle ins Land gelassen. Der arabische Frühling - ein Exportschlager.
- "Nachbar, Alter, was wenn ich nie wieder von dieser Scheiße runterkomme?" fragte ich.
- Ach was. Das wird schon wieder. Morgen scheint wie gewohnt die Sonne, Moruk.
Mein Verfolgungswahn gewann an Fahrt. Versuch doch einmal, auf drei Fetzen Acid reale Probleme von irrealen zu unterscheiden. Wo beginnen die einen und wo enden die anderen? Was macht sie überhaupt real und was irreal? Aber auch ohne das, war die Situation nicht wirklich lustig. Wir befanden uns auf den Feldern, einem leeren Territorium, mitten in der Nacht. Woher sollte ich wissen, dass alles wieder so werden würde wie früher. Wer sagte mir überhaupt, dass nicht bereits ein Bürgerkrieg im Land ausgebrochen war und dass radikale Islamisten im Auftrag der CIA und der Finanzeliten nicht bereits alles dafür taten, Chaos in den Städten zu stiften. Die Amerikaner wussten alles über jeden. Was du beruflich machst, deine Lieblingsfarbe, mit wem du ins Bett steigst und selbst das, was du gestern gegessen hast. Sie konnten beliebig Oppositionelle ausfindig machen und sie mit
Hilfe bewaffneter Asylanten vernichten. Vielleicht waren sie ja schon jetzt hinter sämtlichen Andersdenkenden her, ihrer jeweiligen Bedeutung entsprechend mehr oder weniger. Was für ein erbärmlicher Gedanke, dass deine Überlebenschance einzig darin besteht, dass du ein unbedeutender kleiner Wurm bist, der niemandem gefährlich werden kann. War ich das denn? Machten meine Facebook-Bekanntschaften mit Dissidenten und meine Propaganda mich zu einer Gefahr? Im nüchternem Zustand hatte ich nicht einen Gedanken daran
verloren. Doch von Nüchternheit war jetzt nicht einmal zu träumen. Meine Fresse war bei Russia Today erschienen. Oft genug war ich auf Demos gewesen. War das alles Grund genug? Hatte ich mir die Ehre verdient, als gefärlich zu gelten? Was sollte dann der Virus auf meinem Laptop? Ja, Mann: Killerkommandos aus Asylanten - das war es. Der Yankee lokalisiert Freigeister, der Islamist vernichtet sie. So sah der Teufelspakt aus. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Nur so und nicht anders. Warum dann hatten die Bullen überall die
Anweisung erhalten, Araber und Schwarze nicht anzurühren, egal wie sie sich benahmen. Warum sonst vertuschten die Medien all jene Geschichten über Ausländerkriminalität, die unter der Bevölkerung ihre Runde machten.
Kaum hatte ich diesen Gedanken verarbeitet, da sah ich aus der Ferne Fahrradlichter in meine Richtung kommen. Genau auf uns zu. Vier Lampen glühten in der Finsternis. Wer macht denn schon eine Radtour kurz vor Mitternacht, kurz vor Wintereinbruch. Es ist soweit, dachte ich mir und tastete in meiner Jackentasche nach dem Klappmesser, das ich natürlich wieder einmal zuhause vergessen hatte, während die Lichter immer näher kammen und begannen, uns zu blenden. Was nun? Was tun? Wohin? Womit? Nichts als Fragen im Angesicht der Gefahr. Als sie schon ganz nah waren, erkannte ich schwarze Männer. Afrikaner, das konnte niemand anderer sein. Hoch gewachsen und mager, wie gerade erst von den Schiffen heruntergestiegen. Verdammt nochmal. Weit und breit niemand sonst. Im Vorbeifahren waren sie langsamer geworden, immer langsamer und langsamer. In
einem zögerlichen Tempo fuhren sie schließlich an uns vorbei und kamen einige Meter weiter zum Stehen. Die Lichter gingen aus.
Das wars, dachte ich mir, während meine Augen krampfhaft nach herumliegenden Gegenständen suchten. Stöcke, Steine, irgendwas. Es sah schlecht aus. Wenigsten ein Feuerzeug hatte ich in der Hosentasche gefunden. Das würde meinen Schlag härter machen und die Verletzungsgefahr an der Faust mindern. Nur, was sollte das bringen, gegen vier Männer, die zudem mit Sicherheit fitter waren als ich und mein Spargeltarzan von Nachbar. Wieviel Kilogramm brachte er überhaupt auf die Wage? Sechzig, fünfundsechzig? Mehr nicht. Doch gerade hatte ich an ihn gedacht, da erklang sein lauter Schrei.
- "Verpisst euch bloß hier, drecks Asylanten. Geht dahin, wo ihr hergekommen seid. Sick ter lan."
Was war das denn. Warum sagte er das? Hatte er jetzt völlig den Verstand verloren? Ich war irritiert.
- "Wir dürfen keine Angst zeigen", flüsterte Tarzan mir überzeugt zu, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Was würden wir jetzt verlieren? Die Geldbeutel, ein Paar Zähne oder doch mehr als das? Was wusste ich denn jetzt schon.
- "Zurück nach Afrika, Jumble Jumbel", setzte mein Nachbar noch einen drauf.
Wir waren ganz klar in der Unterzahl. Ich habe nie etwas von leeren Drohungen gehalten und war mir absolut sicher, dass diese türkische Muckertaktik gleich nach hinten losgehen würde. Im Gegenzug erklang irgendein Gemurmel, von dem ich jedoch kein einziges Wort vernehmen konnte. Die Afrikaner tauschten Information untereinander aus. Irgendwelche Laute erklangen, die offensichtlich an uns adressiert sein sollten. Ich konnte die Kerle sehen. Zwar nur die Konturen, aber da waren sie, alle vier. Sie standen da, sie berieten sich, sie
fingen an sich zu bewegen, stiegen auf ihre Fahrräder, drehten diese um und fuhren unerwartet weiter, einfach so. Es war kaum zu fassen. Sie ließen uns einsam in der Dunkelheit stehen. Völlig ohne action. Wir konnten aufatmen. Tarzan hatte recht gehabt. Unglaublich. In dem Bewusstsein, dass die Gefahr noch nicht vorabei war, hielten wir aus und blickten den Wegfahrenden hinterher, zu allem bereit. Davon überzeugt, dass sie endgültig das
Weite gesucht hatten, drehte ich mich schließlich um und wollte gerade weiterlaufen, als urplötzlich ein weiteres Fahrrad aus der Dunkelheit direkt auf mich zukam, ganz ohne Licht, kaum zu erkennen. Der Feldweg war an dieser Stelle von Hecken umgeben. Das Rad war uns schon so Nahe, dass ich nicht einmal die Zeit hatte, mich zu erschrecken. Eine alte Frau saß darauf, mit einer Kapuze, das ihr Gesicht verdeckte. Ich war wie angewurzelt stehen und wie erstarrt mit meinem Blick an der Alten kleben geblieben, da ertönte wie ein Donnerschlag:
- "Bismillahirahmenirahim."
Verdammt, was war das denn? Aus dem Rachen heraus ein gespenstisches:
- "Bismillahiramenirahim."
Ich drehte meinen Kopf um hundertachzig Grad um nachvollziehen zu können, woher dieser, an einen Schlachtruf erinnernde Klang kam. Es war mein Nachbar. Er warf diese Worte der Oma ins Gesicht, als würde er einen Hund anschreien. Sie zog an uns vorbei, doch
- "Bismillahirahmenirahim."
Was sollte das? Wollte er etwa, dass die arme Alte mit einem Herzanfall umfällt. Jetzt, da Gott weiß was im Land passiert, laufen zwei Idioten auf Acid durch die nächtliche Landschaft und rufen zu armen deutschen Rentnerinnen "Bismillahirahmenirahim", "im Namen Allahs, des Barmherzigen".
- "Alter, was machst du? Hörte ich mich selbst rufen und schaute meinen Nachbarn an. "Willst du sie umbringen, bljad'?"
Doch Tarzans Gesicht, das sich noch immer in alle Richtungen verbog, war wie erfrohren. Er sagte kein Wort und starrte nur in die Richtung, aus der die Großmutter gekommen war.
- "Nachbar! Was geht?" Fragte ich noch einmal hinterher.
- "Mann, ich schwör, ich hab die für einen Dämon gehalten. Leck mich doch am Arsch, was hat die mich erschreckt." Stotterte er schließlich vor sich her.
Ich war viel zu paranoid um mich über die Komik der Situation zu amüsieren. Die Oma ließ mich wieder an Baba Wanga denken. Nichts wie weg hier. Zurück in die Zivilisation, scheiß auf die Bullen. Weg von den Feldern und allen Wesen, die sich hier herumtrieben. Wir marschierten wieder in Richtung unseres Hauses. Am Keltenhügel vorbeilaufend sah ich darauf die Afrikaner mit ihren Rädern sitzen. Wie die Geier blickten sie auf uns herab und
schwiegen.
Sobald wir das Wohnviertel erreicht hatten, meinte mein Nachbar schließlich:
- "Jetzt bist du wieder nüchtern."
Das war natürlich schwer übertrieben. Ich war nach wie vor drauf. Nur wusste ich nunmehr,
dass ich nicht durchdrehen würde. Wirtschaftliches Desaster, Massenauswanderung, Bürgerkrieg, atomare Vernichtung - all das stand natürlich noch bevor. Auch hatte ich nicht ausschließen können, einen gewaltigen Schaden von diesem Trip genommen zu haben. Doch meine Gedanken wurden wieder rationaler, strukturierter, klarer und das gab mir allen Anlass, zu hoffen.
Wir gingen die leere Straße entlang unter den Laternen. Weit und breit nichts und niemand. Ich fühlte mich wie der einzige Überlebende nach einer nuklearen Katastrophe in einer verlassenen Stadt, in einer verlassenen Welt. Was für ein erbärmliches Ding, diese Angst.
- "Angst?" Fragte mein Nachbar. "Hast du etwa Angst?"
Ich nickte. Um mich herum war noch immer alles verschwommen, eine einzige Wellenflut, in
der ich zu ertrinken drohte. Wenn die Gefahr auch nicht allzu akut erschien. Unerklärliche Kräfte flößten mir ununterbrochen Verfolgungswahn ein. Was gab es denn in diesem Zustand zu beschönigen. Verdammt, ja, ich hatte Angst. Vor mir stand mein Nachbar und kein Mädchen, dessen Herz es zu erobern galt. Vor mir stand mein guter Freund, mein Kampfgefährte, mein Bruder. Genauso ein Mutant wie ich, genauso ein Produkt gescheiterter Integration. Ein Konsument, der keiner sein will, auf der Suche nach Erleuchtung. Als ich einmal einen Radfahrer mit dem Auto umgehauen hatte, belog er die Bullen ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
- "Angst, Alter. Ja, ich habe Angst."
Unerwartet schlug mir Tarzan auf die Schulter und ich schaute zu ihm. Er hatte einen kämpferischen Blick.
- "Du kannst keine Angst haben, Mann. Hörst du? Du kannst keine Angst haben. Du bist Russe. Weißt du, was das heißt?"
- "Nein, Alter. Was denn?" fragte ich.
Tarzan hob seine Hände in Brusthöhe und ballte die Fäuste zusammen.
- "Terminator, Alter. Das heißt Terminator, Moruk." In seinen Augen leuchtete feste Überzeugung. Was er da von sich gab, war sein purer Ernst.
Währenddessen hampelte er wie ein Affe vor mir rum und machte böse Mienen. Tarzan erzählte irgend etwas von Ghettos, Schlägereien und Ausländerehre. Über Grünbühl, Sonnenberg, Plattenwald und Diezenhalde, über Ahmet, Sergei, Dschengis, Lirem, Viktor, Mirsad, Igor und Aslan, Schlagstöcke, Messer, Untersuchungshaft und Rapvideos. Doch ich konnte ihm beim besten Willen nicht zuhören. Seine enthusiastische Rede flog fast
vollständig an meiner Aufmerksamkeit vorbei. Wie von selbst bewegten sich meine Augen in Richtung Himmel. Dieser war noch immer dunkelblau und bewölkt und die Wolken nahmen die verschiedensten Formen an bis sie sich endlich zu einer erkennbaren Gestalt zusammengezogen hatten. Ich sah vor mir das faltige Anlitz Baba Wangas mit den zugeklebten Augen und dem unruhigen Gesichtsausdruck.