Mitglied
- Beitritt
- 14.01.2018
- Beiträge
- 4
Das abbe Bein
von Kasul Friek
Der Ausflug fand im Oktober statt. Eigentlich wollten wir schon im Sommer fahren, aber da war Saskia plötzlich erkrankt und wir hatten beschlossen, die Fahrt nachzuholen, obwohl es jetzt immer kälter wurde.
Wir, das sind die Firebirds, die coolste Mädchen-Bande ever: Saskia, Laura, Anne, Charlotte - die alle nur Charlie nennen -, Franziska, Helen, Larissa, Clara, Marie, ich. Ich bin Lara, 15, und in der 9.Klasse.
Puh, war das ein Kampf mit unseren Eltern, die total gegen unseren Trip waren. Egal, ich mache es kurz, wir fuhren am 10. Oktober mit unseren Zelten ins Gebirge.
Oktober: Regen, Nebel, Wind, dürre Blätter. Die Bäume wie Skelette. Und gerade das fand ich super! Allerdings hatte ich mir das Tal nicht so düster vorgestellt.
Heute wird es wie immer um 17 Uhr dämmrig, aber wir brechen zu einer Wanderung zum Teufelsberg auf. Ganz dicht gehen wir hintereinander, damit wir uns nicht verlieren, denn man sieht kaum zehn Meter weit. Laura bleibt im Lager und passt auf. Das Feuer darf nicht ausgehen, besonders weil wir nachher Hunger wie Wölfe haben werden.
Ich trotte hinter Charlie her, sie hinter Anne, was davor ist - keine Ahnung. Wir laufen und laufen ins Dunkel, das immer schwärzer wird, undurchdringlich. Sterne??? Wahrscheinlich gibt’s welche, aber sie sind nicht zu sehen. Geräusche? Ja: unser Keuchen und das Sausen des Blutes im Kopf. Weiter.
Und weiter.
Und immer weiter. Wir reden nicht mehr, weil wir mit Laufen so beschäftigt sind.
Wald, Matsch, der Rücken vor mir mit dunkler Regenjacke, an der irgendwelche Ösen baumeln...
Da stockt der Marsch plötzlich, kein Schritt, nur Keuchen, die Ösen hören auf zu baumeln. Was ist los? Schon da? Da ertönt vorne ein fürchterlicher Schrei. Wie von einem Tier.
Ich werde zu Stein. Taschenlampenpunkte irren durchs Dunkel. Wir drängen nach vorne. Kapuzen sind nach unten gebeugt. Dorthin, wo sich nun die Lichtflecken der Taschenlampen versammeln. Dort ist etwas. Ich kann kaum etwas sehen vor Regenjackengedrängel. Jemand liegt da. Jetzt sehe ich es.
Es ist Franziska. Sie liegt grauenvoll schreiend im nassen Gras, sie sieht total verrenkt aus, irgendwie unnormal, wie sie da liegt.
Ach du Scheiße, jetzt wird es mir klar: Es ist was mit ihren Beinen. Ihr linkes Bein fehlt.
Warum denn??? Totale Panik. Hin und Her. Alle schreien durcheinander. Keiner weiß, was hier passiert. Was sollen wir tun? Ja, sie muss sofort zum Arzt, sonst stirbt sie, unsere Freundin stirbt sonst! Sie hat schon ihr eigenes Matschloch vollgeblutet. Der Stumpf ihres Beines zuckt wie im Reflex, aber da ist nichts mehr, das Bein ist mit dem Hosenbein unter der Hüfte abgetrennt und weg.
Einfach ab und weg.
„Halt durch, wir bringen dich zum Arzt, Franzi!“ Sie ist weiß im Gesicht und stöhnt. Stirbt sie jetzt?
Clara schreit: „Los, anpacken, wir müssen sie zurücktragen!“
Den ganzen Weg zurück!
Ich weiß nicht mehr, wie wir das geschafft haben. Ich weiß nur noch: Als wir lange nach Mitternacht völlig erschöpft zum Lager zurückkommen, tragen wir eine Tote.
Dass Franziska unterwegs gestorben ist, merkten wir erst beim Feuerschein, als wir sie hinlegen und sie starr in den Himmel schaut und nicht mehr atmet.
Franziska ist tot! Wir sind in totaler Auflösung, alle schreien durcheinander. Laura kriegt alles jetzt erst mit. Was hat sie erlebt? Ewiges Warten, die Gruppe kommt spät, trägt jemanden. Mit nur einem Bein. Alle Regenjacken voller Blut.
Sie kann es nicht fassen, aber bleibt als einzige cool: Was trinken! Was essen! Alle total erschöpft. Erst stärken, dann sofort aufbrechen, nächster Ort elf Kilometer!
Wir sitzen schlotternd und weinend am Lagerfeuer, warmen Tee in eisigen Händen. Die tote Franzi liegt in Saskias Zelt.
Laura hat ein paar Steaks gemacht. Wir teilen, obwohl keiner wirklich Hunger hat. Wir essen mehr aus Vernunft, kauen zähes Fleisch. Danach aber los!
Die kurze Mahlzeit ist zuende, die ersten erheben sich, packen.
Laura bleibt sitzen. Will sie nicht helfen? Sie bleibt einfach da sitzen und schaut uns an. Dann fängt sie an zu lachen. Laura lacht. Lacht hysterisch.
„Ihr bescheuerten Arschlöcher, keine von euch mochte Franzi! Heult nicht so scheiße rum!“
Laura grinst wie der Teufel, sie greift hinter den Holzstamm, auf dem wir gesessen haben. Sie zieht die Hand wieder hervor.
Sie hält ein blitzendes Samuraischwert. Was ist das denn jetzt? Wo hat sie das denn jetzt her?
„Hat jemand noch Hunger?“, fragt sie.