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Darius
Es ist so wahnsinnig heiß. "Weißt du, wo wir hingehen?"
Darius, halt die Klappe, natürlich weiß ich, wo wir hinlaufen. So etwas würde ich gerade gerne sagen, aber mein Mund gleicht einer Wüste.
"Beruhig dich, Darius ist halt ein wenig schüchterner. Ein wenig sensibler", hat Mama immer wieder erklärt.
Dann hat sie seinen Kopf gestreichelt. Nach Süden gehen wir, glaube ich. Der Boden ist weiß, pulverig. Wenn ich auftrete, muss ich aufpassen, dass nicht zu viel Staub aufgewirbelt wird. Unter meinen Stiefeln knirscht es schwach. Ein Knochen. Oberschenkel? Wo ich ihn berührt habe, ist er vollständig pulverisiert.
Immer wieder frage ich mich, wieso.
Wir waren in Darius' Keller. Meinem Zimmer. Meinem Zimmer. Es war seit Tagen unerträglich schwül, aber ich wollte raus. Nicht hier sitzen mit ihm. Auf ihn aufpassen sollte ich. "Er ist doch dein Bruder", hat Mama versucht, mich zu überzeugen. Ich soll Zeit mit ihm verbringen. Darius will aber keine Zeit mit mir verbringen. Einmal aber hat er durch meine Unterwäsche gewühlt. Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen durfte. Hab ihm eine geknallt, direkt ins Gesicht.
"Darius, sowas macht man nicht, sie ist deine Schwester!", weinte sie besorgt und kühlte seine geplatzte Augenbraue.
Und minderjährig ist seine Schwester auch. Manchmal habe ich mich gefragt, wie lange sie das noch durchhält. Hab ihm anschließend gesagt, wenn er das nochmal macht, zeig ich ihn an. Wieso ich nicht gleich zur Polizei gegangen bin, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil er mein Bruder ist.
Darius wurde heute wieder laut. Ein Baustein hat gefehlt. Ich hab ihn unter meinem Bett versteckt.
Sechsundzwanzig ist er. Neun Jahre älter als ich. Mama und Papa wollten ihn nicht rausschmeißen. Wie auch. Wenn jemand vom Institut kommt, lächeln sie. Ein Genie ist er, sagen sie jedes Mal. Ein Naturtalent. Darius ist wichtig. Darius hat irgendwelche Probleme gelöst. Aber sie wissen nicht, dass Darius das Problem ist. Wenigstens mäht er manchmal den Rasen, aber auch nur, wenn die Sonne scheint und dann nicht vor halb vier. Der Rasen hat gestern gekokelt. Heute ist er weiß gewesen. Davor hab ich mich mit Darius gestritten. Das ist nämlich eigentlich mein PC gewesen. Er hat auf meine Tastatur gehauen. F1 fiel auf den Boden. Fast alles hier drin war meins. Aber Darius darf alles anfassen mit seinen Wurstfingern, weil Darius das möchte und man Darius verhätscheln muss und man Darius mit Vorsicht behandeln muss. Darius ist schließlich schlau genug für Stipendien und durfte Klassen überspringen und und und. Wenn ich laut werde, kommt Mama nach unten.
"Bitte beruhig dich doch. Du weißt, wie er ist. Sei bitte ein wenig erwachsener!"
Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin die einzige Erwachsene hier. Manchmal fängt Darius an zu weinen, wenn ihm eine Sache nicht passt. Darius kann Raketen im Kopf bauen, aber ein Nein verträgt er nicht. Vorhin hat er auch geweint, im Getränkemarkt, aber da sind seine Tränen einfach verdunstet. Man darf so etwas ja nicht sagen, aber manchmal hätte ich mir gewünscht, er würde einfach verbrennen, so wie die Rest der Stadt. Bei der hat es geklappt heute morgen.
Als Darius achtzehn wurde, hat er ein Moped geschenkt bekommen, damit er sich in der Stadt um Jobs bewerben kann. Brauchte er nicht, die Stadt kam zu Darius. Haben sich um ihn gestritten, als wäre er eine Flasche Wasser in der Wüste. Letztes Jahr hab ich die Bremsen mit Papa neu gemacht und die Verkleidung himmelblau lackiert. Jetzt ist es meins. Hat sich nicht ein mal drauf gesetzt. Will ständig zum Getränkemarkt gefahren werden, wo ich arbeite. Gearbeitet habe. War nicht mehr viel übrig, als wir vor zwei Stunden vorbei gelaufen sind.
"Kannst du mir was mitbringen?", hat er immer gefragt.
Na klar, kann ich machen. Von meinem Geld. Jedes Mal. Dabei verdient er das zehnfache. Was diesmal, 'ne Cola? Soll ich gleich Eis mit reinmachen?
"Er ist doch dein Bruder", hat Papa mir erklärt, aber Papa hat nicht so verzerrt gelächelt wie Mama. Papa wusste, dass die beiden nicht genug Energie für ihn und mich hatten. Ist mir egal, was er hat.
Papa hat auch gesagt, ich darf das Moped haben, Mama war dagegen. Es war doch Darius' Moped. Ich hab den ganzen Tag geweint, als sie das gesagt hat. Darius auch. Hat ein Loch in die Wand hinter meinem Bildschirm geschlagen. Jetzt klebt ein Poster von einer Band drüber, die komische Hüte trägt und sie mit Ledermänteln kombiniert. Darius hat auch so einen. Dabei hört er die Musik nicht mal, Darius hört nämlich keine Musik.
Sogar ein Bad haben sie ihm hier eingebaut. In meinem Zimmer ist jetzt ein Bad hinter einer Schiebetür. Für meinen Bruder. War natürlich Mamas Idee. Gleich links hinter dahinter ist die Dusche. Ein Waschbecken auch. Darunter steht ein Eimer mit mehreren Wischlappen, falls er mal wieder kotzen muss. Stattdessen zog er sein Shirt aus, um seinen verkippten Orangensaft aufzuwischen. Sieben zu drei, einen halben Esslöffel weißen Zucker pro 250 Milliliter. Dabei winselte er wie ein getretener Hund.
Mama kann auch verbrennen. Alle können verbrennen. Vielleicht sind sie das sogar schon. Hoffentlich Papa nicht. Ich hoffe, mein Zimmer bleibt auch heil. Als Darius noch sein eigenes kleines Zimmer oben hatte, war das mein Reich hier. Anna ist vorbei gekommen, wir haben Horrorfilme geguckt. Aber Anna ist verbrannt. Es war zu heiß zum Weinen.
"Warum ist Darius nicht verbrannt?", hab ich mich gefragt.
Wenn Darius so anstrengend ist, wieso haben sie mich auch noch gekriegt? Einfach weg sollte er, weg von Mama und Papa, weg von meinem Zimmer, weg von mir.
Die Plastikverschlüsse auf den Flaschen heben sich. Ich muss sie kurz abstellen. Staub wirbelt auf, mein Gesicht wird weiß. Asche soll gut für die Haut sein, hab ich gehört. Sie ist warm. Dabei scheint die Sonne nicht mal, es ist bedeckt. Aber es ist trotzdem alles verbrannt. Im Getränkemarkt war die Kellertür intakt und verschlossen. Mehr Wasser für uns. Die anderen können es eh nicht mehr trinken.
"Mir ist heiß", jammert Darius.
Echt? Dir ist heiß?! Mir reicht's. Ich schreie ihn an. Dreh mich sogar zu ihm um, meine Beine bewegen sich von alleine auf ihn zu. Alles schreie ich ihm zu. Wie er mich ankotzt. Dass er mein Leben ruiniert hat. Dass er sich in meinem Zimmer breit gemacht hat und seine beschissenen Legosteine mir am Arsch vorbeigehen. Darius musste nicht leiden, ich musste. Darius hat nur Daumen hoch bekommen und seinen Psychiater gebissen. Darius, das Genie. Darius, Hawking 2.0. Die Reinkarnation Einsteins. Darius, der unglückliche Märtyrer, geplagt auf die Welt gekommen. Mir würden die Tränen kommen, aber Moment. Er guckt mich nur an mit seinem hohlen Blick. Dann fängt er an zu winseln. Meine Kopfhaut juckt vor Wut. Hinter mir platzt eine Wasserflasche und ich merke, wie meine kleinen Armhaare kürzer werden. Es stinkt widerlich. Aber Darius steht da, schwitzend und schwer atmend, Darius passiert wieder nichts. Darius ist sensibel, den darf man nicht verbrennen. Ich stapfe zurück. Nehme die geplatzte Flasche aus dem Korb und hebe den Rest an. Ist nicht mehr weit, vielleicht vierzig Meter. Dann trete ich die Flasche weg. Ganz sanft landet sie in einem Aschebett. Es ist windstill, als ob der Wind auch verbrannt ist. Eigentlich ist es schon fast ästhetisch. Zwei Finger schneeweiße Asche über allem. So viel kann doch gar nicht verbrannt sein.
Die Tür ist noch ganz. Ich muss einen Lappen nehmen, der mit im Korb liegt, die Klinke ist zu heiß. Verbrannt sind meine Hände trotzdem. Ich sitze auf meinem Bett, er auf meinem Stuhl und guckt auf meinen Bildschirm. Wie die Blonde aus Sucker Punch. Lobotomie hieß es, glaub ich. Manchmal frag ich mich, ob sie ihm nicht was aus seinem Hirn geschnitten haben.
Das Wasser ist widerlich warm. Schmeckt wie ungesalzene Suppe ohne Zutaten. Darius wollte wissen, ob es noch was anderes zu trinken gibt. Da wusste ich nicht mal, ob ich lachen sollte. Ich hab mir in den Daumen gebissen, um nicht zu schreien. Ich schwitze so sehr. Die Dusche funktioniert natürlich nicht. Meine Haut wird rot. Wasser draufkippen hilft nichts. Aber wenn mein Bett nass ist, verbrennt es wenigstens nicht. Hoffentlich. Meine Kehle. Ich wollte ihm irgendetwas zurufen, aber ich kann nicht mehr. Wieso gerade wir beide hier zusammenstecken, wollte ich ihn fragen. Wieso er nicht draußen bleiben kann, wieso er nicht einfach auch zu Asche zerfällt, so wie Mama. Hoffentlich.
"Du, sag mal", höre ich seine Stimme. Ich bin überrascht.
"Wie fühlst du dich?", fragt er mich.
Was soll die Frage. Ich gurgle mit ein wenig Wasser und spucke den Rest auf den Boden.
"Was soll die Frage?", antworte ich.
"Ich hab das Gefühl, du machst mich für das alles hier verantwortlich", entgegnet er stumpf.
Da wird mir schwindlig. Warum fragt er mich das? Wieso jetzt? Wenn ich jetzt umkippe, muss ich sein hässliches Gesicht nicht mehr sehen. Besser so. Er dreht sich wieder um und fängt an, einen angekokelten Rätselkalender zu bearbeiten. Vierundsiebzig von denen liegen links hinter der Wand. Säuberlich aufgereiht, nach Ausgabe geordnet. Von links unten nach rechts oben. Meine Hände sind heiß. Mein Gesicht auch. Darius brennt immer noch nicht. Ich aber gleich. Ich weiß es.
Ich starre auf seinen Hinterkopf. Vielleicht, wenn ich mich stark genug konzentriere, platzt sein Kopf. Aber dann müsste ich die Sauerei wegwischen. Und den Fettsack krieg ich nicht die Treppe hochgezogen. Vielleicht draußen. Wir müssen hier sowieso irgendwann wieder raus. Dann. Mama hat eh nichts mehr zu sagen.