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Dann werde ich warten
Er blickte auf, wobei es für sie wirkte, als wären seine Gedanken bereits gar nicht mehr richtig hier. Er sah sie bloß an, fast schon durch sie hindurch, doch sie wusste, was seine Blicke sagen wollten.
„Nein.“, flüsterte sie tonlos und griff zitternd mit ihrer Hand nach der seinen.
Er lächelte, doch in seinen Augen glänzten Tränen. „Doch.“
Sie wollte nicht weinen, nicht jetzt, nicht wenn die Krankenschwester an der Tür stand und sie beobachtete. Also herrschte Stille, nur das Piepen des EKGs blieb monoton und gleichmäßig. Sie betete, dass es so bleiben würde.
„Du wusstest, dieser Moment würde kommen. Ich wusste es auch.“
Jedes seiner Worte verlangte unheimlich viel Kraft, doch er besaß sie.
„Ich will das nicht.“, sagte sie biss sich auf die Unterlippe.
„Wir haben uns damals dafür entschieden.“, meinte er sanft, sah sie ernst an und strich ihr mit dem Finger eine Haarsträhne vom Gesicht.
„Nein, haben wir nicht. Wir hatten keine Wahl.“, murmelte sie. Dann kamen ihr die Tränen. Sie kamen einfach, obwohl sie es gar nicht wollte, obwohl sie es nicht schlimmer machen wollte als es ohnehin schon für ihn war, und obwohl die Schwester immer noch an der Scheibe stand und gaffte.
„Ich war derjenige, der keine Wahl hatte, aber du hattest immer eine.“ Er sah sie lang an, zögerte kurz, bevor er seine Frage auszusprechen wagte. „Bereust du es?“
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein!“, rief sie, „Nein, ich bereue es nicht. Ich hatte eine Wahl, du hast Recht. Aber ich würde meine Entscheidung zu jeder Zeit genauso wieder treffen.“
„Ich will dir nicht wehtun. Ich wollte es nie.“
Sie nickte weinend. „Ich weiß das.“
Doch er tat ihr weh. Er tat ihr weh, indem er da lag, hilflos, schwach, ein letztes Mal. Über Schläuche war er an Geräte angeschlossen, er hatte Spritzen bekommen und Schmerzmittel. Das EKG piepte unaufhörlich weiter. Bald würde es einen langen, unendlichen Ton von sich geben. Das war es, was ihr weh tat, aber dafür konnte er nichts.
„Woher weißt du, dass es soweit ist? Woher wusstest du, dass ich kommen muss?“, wollte sie wissen. Und ein Hoffnungsschimmer ragte in ihr auf – dass er sich geirrt hatte. Dass es alles nur ein Albtraum war und sie jeden Moment in seinen Armen aufwachen würde.
„Vielleicht - “, setzte sie an, aber dann schloss sie den Mund.
„Hör auf, davonzulaufen.“, bat er sie. „Das macht es nur schwerer.“
Sie strich ihm die schwarzen Locken aus dem Gesicht, die durchnässt waren vom Schweiß auf seiner fiebrigen Stirn. „Ich lass dich aber nicht gehen. Nicht jetzt.“
„Wann dann?“ Er fasste ihre Hand ganz fest. „Wir hatten eine lange Zeit. Warum genügt sie dir nicht? Wieso willst du mehr haben als das?“
„Es soll mir genügen?“, wiederholte sie, dann schrie sie ihn entsetzt an, „Es soll mir genügen?!“
"Ja, das soll es.“, erwiderte er leise, „Lass mich gehen, bitte. Ich muss gehen. Ich muss gehen, damit ich dich wieder sehen kann. Und dann trennt uns keiner mehr, dann brauchen wir nicht mehr die Gedanken an eine Zukunft zu verdrängen. Weil es keine Zukunft mehr geben wird.“
Verzweifelt und mit geröteten Augen blickte sie ihn an und fragte: „Warum kann dieser Moment nicht jetzt sein?“
„Weil du noch nicht fertig bist mit deinem Leben.“
„Doch, das bin ich. Ich wäre bereit, zu gehen.“
„Hör auf, so zu reden. Du solltest dein Leben nicht wegwerfen. Nicht wegen mir. Du wirst Biologie studieren und nach Neuseeland gehen, wie du es immer wolltest. Du wirst zwei Kinder bekommen mit einem wundervollen Mann. Und mit dem wirst du letztendlich alt werden, nicht mit mir.“
Sie schniefte leise. „Warum sagst du das alles?!“
Er senkte den Blick, schaute sie nicht mehr an. „Weil ich dich hiermit freigebe. Frei von mir.“
„Hör auf!“, schrie sie, „Hör auf so etwas zu sagen, bitte!“
Verzweifelt schluchzte sie auf, krümmte sie sich auf dem Rand seines Bettes zusammen, und war nur noch ein kleines Häufchen Elend. Ihr zierlichern Körper zitterte, die Tränen tropfen auf die schneeweiße, sterile Krankenhausdecke und hinterließen kleine Flecken. Liebevoll streichelte er ihr über den Kopf und den Rücken, bis sie sich sammelte.
„Ich will nicht, dass du so etwas sagst.“, meinte sie dann mit fester Stimme. „Nie mehr.“
„Ich will dich nicht an mich fesseln! Ich will, dass du glücklich bist.“
„Ich werde nur mit dir glücklich sein.“
„Versuch es.“, meinte er flehend. Seine Stimme wurde immer schwächer, und sie merkte es, obwohl er versuchte, es zu vertuschen. Sie mussten schnell machen. „Versuche, ohne mich zu leben!“
„Ich werde niemals jemanden so lieben wie dich!“, entschied sie leise.
„Das meine ich nicht. Versprich mir nur, dass du ein eigenes Leben führen wirst, unabhängig von mir und unserer Vergangenheit. Sie war schön, aber du musst sie zurücklassen.“ Es fiel ihm schwer, diese Worte auszusprechen.
„Und wenn ich mich am Ende dennoch für dich entscheide?“, fragte sie nach einer Weile mit erstickter Stimme.
„Dann werde ich da sein und auf dich warten.“ Er sagte das so leise, dass sie es kaum verstehen konnte. Er lächelte unter Tränen. „Ich liebe dich.“, flüsterte er leise.
Dann geschah es. Seine blauen Augen verblassten, er sank zurück, kraftlos, ohne Widerstand. Nur das Lächeln wich ihm nicht vom Gesicht.
Alles, was nun noch zu hören war, war der gleichmäßige, schrille Ton des EKGs.