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Dann war nichts mehr
Schon früher war sie ab und an mitten in der Nacht aufgewacht. Plötzlich, unvermittelt, mit pochendem Herzen. Doch heute Nacht hatte sie nicht damit gerechnet, zu sanft war der Schlaf gekommen. Vielleicht hatte sie ja geträumt? Konnte das sein? Träume konnten niederschmetternd sein, das wusste sie aus eigener, bitterer Erfahrung, und sie wünschte sich, auch dieses Mal schnell den Grund des Erwachens in langsam verblassenden Erinnerungen an grauenhafte Traumbilder zu finden. Sie suchte nach ihnen. Sie mussten da sein, diese Traumfetzen. Früher, als sie noch mit ihr zusammenlebte, ja damals hatte es auch andere Gründe gegeben. So war das eben, wenn man seine Wohnung mit einem anderen Menschen teilte. Doch nun lebte sie allein, die Beziehung hatte sich heimlich aufgelöst, wie das halt passierte mit der Liebe. Man passte nicht auf, und sie verging, verwandelte sich. Verlor sich irgendwo auf dem Weg, den man doch zusammen gehen wollte. Von dem der andere immer behauptet hatte, ihn gemeinsam gehen zu wollen. Ja, so war das eben. Aber sie hatte sich geschworen, mit diesen sinnlosen Gedanken an das, was hätte sein können, aufzuhören. Es brachte ja doch nichts. Alles, was zählte, war, dass sie nun allein lebte. Mit diesen Albträumen, die sie hochschrecken ließen, fast jede Nacht. So wie heute wieder, dachte sie. Und dieser Traum schien so schrecklich gewesen zu sein, dass ihr trauervernebeltes Hirn jede Erinnerung daran verweigerte. Selbstschutz, dachte sie.
Etwas setzte sich auf die Bettdecke.
Nun war es nicht so, dass sie etwas Vergleichbares noch nie erlebt hatte. Sie war Klarträumer gewesen, solange sie sich erinnern konnte. Und es war ihr schon immer schwer gefallen, diese irrationale Angst vor dem dunklen Grauen, die mit der Schlafstarre des Körpers kam, gezielt zu überwinden. Die Bücher, die sie sich zu dem Thema besorgt hatte, halfen auch nur dürftig. Kam der Schlaf und überwältigte den Körper vor dem Geist, dann verlor sie ihren Körper, war dem Unbeschreiblichen, was da kommen würde, hilflos ausgeliefert. Jede Nacht. Daran konnte auch halbesoterisches Geschreibsel nichts ändern, wie sie bald lernen musste. Manchmal fragte sie sich, ob diese „Experten“ überhaupt wussten, wovon sie da redeten. Klarträume begannen stets mit dem puren Grauen. Todesangst. Tonnenschwerer Körper. Ausgeliefertsein. So wie jetzt. Aber irgendetwas war anders…und dann begriff sie.
…das ist kein Traum! Sie war der Ohnmacht nahe. Panik und Schockstarre. Ihr Herz raste, ihre Angst wuchs mit jedem Atemzug, den sie zu unterdrücken versuchte. Es bewegte sich. Oh Gott, es bewegte sich und - kam näher. Berührte ihr Knie. Zu allem Überfluss gewöhnten sich ihre Augen nun langsam an die Dunkelheit. Bewegung. Abartige, surreale Bewegungen. Hatte es gerade ihren Oberschenkel berührt? Sie konnte nicht klar denken. Nicht viel. Außer Angst. Und einen kurzen, glasklaren Wunsch, der die metallene Angst in einer eisigen Explosion durchstieß. Bitte…bitte mach, dass es schnell vorbei ist!
Ohnmacht hatte sie immer geängstigt. Der normale Mensch war im Laufe seines Lebens vielleicht ein, zwei Male das, was man „der Ohnmacht nahe“ nannte; sie jedoch kannte das Gefühl nur zu gut. Die Angstattacken, die das plötzliche Alleingelassenwerden mit sich brachte, kulminierten jedes einzelne verdammte Mal in einem Fast-Abgleiten in Bewußtlosigkeit, ein Umstand, der ihre Hausärztin faszinierte, denn: sie selbst war es, die ihren Herzschlag quasi zum Stillstand atmen konnte. Herzfrequenzmodulation durch Atmung. So nannte das ihre Ärztin, und als diese es damals das erste Mal erwähnt hatte, da legte sich der Glanz der wissenschaftlichen Faszination auf ihre Augen. Diesen Ausdruck würde sie nie vergessen. Aber an all das dachte sie jetzt nicht, alles, was sie wollte, war: weg hier. Und sei es in die Ohnmacht.
Es atmete. War es Atmen? Was war das für ein Geräusch? War es vielleicht ihr Blut, das ihr Herz einer Pressluftpumpe gleich in den Kopf jagte? Nein…nein, das war etwas wie Atmen. Röcheln. Röchelndes Atmen. Oh mein Gott! Sie schloss die Augen; die zuckenden, surrealen Bewegungen verursachten ihr Übelkeit. So konnte sich doch niemand bewegen! Sie würde sich übergeben müssen. Sie wollte das nicht länger sehen. Sie wollte nicht noch mehr sehen. Sie wollte gar nichts mehr sehen. Wäre sie doch nur nicht alleine. Das würde doch alles nicht passieren, würde sie jetzt neben ihr liegen. Sie würde ihr vergeben. Alles. Wäre sie doch nur hier. Sie war immer wie ein Schutzengel gewesen; in den Jahren, die sie gemeinsam einschliefen, war die Starre nicht ein einziges Mal gekommen. Sie hatte dem Grauen ein Ende gesetzt. Wieso war ihr das vorher nie aufgefallen? Wieso hatte sie sie verstoßen?
Den unaussprechlichen Träumen - den dunklen Gedanken-, die sie auch am Tag beherrscht hatten, war vor drei Jahren ein jähes Endes gesetzt worden, in einer Form, die sie so nie erwartet, deren bloße Existenzmöglichkeit sie stets verlacht hatte. Wie viele Stunden hatte sie auf irgendwelchen Partys verbracht, die anderen Frauen beobachtend, wie sie an etwas hingen, das sie selbst stets müde belächelt hatte. Liebe des Lebens. Dass sie nicht lachte. So etwas gab es nicht, und jeder, der seine Zeit damit vergeudete, sich für einen anderen selbst zu beschneiden, dem war nicht mehr zu helfen. Punkt. - Und dann ging die Tür auf, und es kam eine Frau herein, die sie eines Besseren belehren sollte. Wie das halt ist im Leben, dachte sie. Die Erinnerung schmerzte. Erinnerung an plötzliches Licht und Glück und stilles Miteinandersein. Erinnerung an das laute Lachen, das sie manchmal überkam, diese Explosion der Lebensfreude, die sie jedes Mal wieder total umwarf, eine Freude, die sie schon bald mitnahm, wie ein wundervolles Segelboot, das plötzlich aufgetaucht war mitten im Ozean und sie gerettet hatte von ihrem Floß, auf dem sie getrieben war, so viele Jahre. Nun schwamm sie in diesem Erinnern. Sie schwamm, als sei es das letzte Mal. Es war so warm und schön. Und wie sehr sie sich wünschte, alles rückgängig machen zu können. Denn nun kamen die Bilder des Betrugs und Mißtrauens. Man hatte sie verletzt; der Mensch, der sie gerettet hatte aus dem Grauen, war schwach geworden, und plötzlich war sie wieder da gewesen, die Dunkelheit. So schwarz. Keine Hoffnung mehr. Damals war sie sich sicher: vergeben könnte sie es ihr nie, sie brauchte sie nicht mehr; zu tief saß der Schmerz.
Und nun lag sie hier in Todesangst und wünschte sich nichts mehr, als dieser Frau, der Frau ihres Lebens, sagen zu können, dass sie falsch gelegen hatte. Denn sie brauchte sie. Immer noch. Immer. Und sie wünschte sich, dass dieser Spuk bitte endlich! ein Ende hatte, und sie würde zum Telefon gehen, sie würde sie anrufen und ihr vergeben, ihr endlich sagen, dass sie sie liebte, sie würde die Worte endlich sagen können, denn sie waren wahr, sie waren es immer gewesen, sie war nur blind gewesen vor Selbstverliebtheit, zu groß ihre Angst, Verletzlichkeit zu zeigen. Die Gedanken beruhigten sie, und sie dachte, Ich werde nicht bis morgen warten, ich werde es jetzt tun, sie wartet doch, sie sagt mir immer, sie warte auf mich, und ich werde sie um Verzeihung bitten dafür, dass ich so blind war, ich muß es tun, jetzt, oh…Gott…was habe ich getan…-
„Es ist zu spät“, sagte die Stimme. Es war das letzte, was sie hörte.
Und dann war nichts mehr.
Zwei Tage vergingen. Der Mann, der nun in ihrem Schlafzimmer stand, arbeitete konzentriert, öffnete diese Schublade, dann jene. Der Stapel Fotos, der noch einige Stunden vorher über das ganze Bett verstreut gelegen hatte, war längst ordentlich gestapelt, verpackt und beschriftet. Er überprüfte noch einmal, ob man auch nichts übersehen hatte. Alles schien in Ordnung, auf seinem Platz. Nur mit den Flecken würde man noch seine Mühe haben. Oh Gott, die arme Mutter. Er schluckte.
Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein junger, blonder Mann warf einen stechend blauen Blick in den Raum, sein Blick wanderte, bis er seinen Kollegen fand, der nun am Fenster stand und etwas in seinen Notizblock schrieb. Dieser schien den Blick zu spüren und schaute auf.
„Und? Was war’s?“ fragte er, den Blick wieder auf sein Notizbuch senkend.
„Klassisch. Barbiturate und Alk. Keine Auffälligkeiten soweit“, erwiderte der junge Kollege. „Hast du noch was gefunden?“ Sein Blick fing wieder an zu wandern.
„Nein.“ Er unterbrach seine Notizen und atmete hörbar aus. „Kein Anruf, kein Brief, nichts. Sie hat es wirklich ernst gemeint.“ Ihre Blicke trafen sich. Er schluckte. Es war das erste Mal für ihn.
„Damals an der Uni kannte ich mal eine“, erzählte der junge Mann, der nun am Bett stand, „die hat das Gleiche gemacht, auch Schlaftabletten. Beziehungsstress. Vorher hat sie aber noch ihren Freund in Schönefelde angerufen. Den Wenger von der Bereitschaft, kennste doch. Alles noch rechtzeitig, Magen ausgepumpt und so. Ihre Schwester hat mir später erzählt, der Psychologe hätte gesagt, es wäre eine Art Hilferuf gewesen. Dass sie gefunden werden wollte. Dass sie gar nicht wirklich sterben wollte. Dann hat sie ‘ne Therapie gemacht, und es ging aufwärts. Haben sie letztens getroffen, bei der Weihnachtsfeier der K11. Ist alles noch mal gut ausgegangen.“
„Ja“, erwiderte der Mann am Fenster. Er erinnerte sich an die junge Frau, die die ganze Feier über nicht von Wenger gewichen war. Er folgte seinem Kollegen zur Tür. Mit einem letzten Blick in den Raum seufzte er: „Für manche Menschen gibt es wohl tatsächlich keine Hoffnung mehr.“