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Danke, 2016
Es war ein gewöhnlicher Dienstagnachmittag und ich hatte Zeit zum Totschlagen. Das kalte Wetter verleitete mich in ein Café zu gehen, um mir dort eine heiße Tasse zu gönnen. Im Café war es schon ziemlich voll, aber ich erspähte einen freien Platz gegenüber einer alleinsitzenden Person. Eigentlich wollte ich das Café sofort wieder verlassen, ich habe es nicht so mit Menschenmengen, aber der Geruch von Kaffee und Gebäck verlockte mich dann doch. Deswegen bestellte ich auch meine Tasse Kakao und einen Zimtstrudel.
„Äh…“, ich hasste es, wenn ich so nervös wurde. „Kann ich mich hierhin setzen?“
Die Person hob seinen Blick von der Zeitung und nickte mir zu. „Ja, kein Problem.“
„Danke…“, ich verstummte danach und setzte mich hin. Ich dachte daran, das Gespräch irgendwie auf dem Laufenden zu halten. Mein Blick wanderte zur Tageszeitung meines Gegenübers; die Schlagzeile, die da lautete: ‚LKW rast in Weihnachtsmarkt‘.
Ich sagte daraufhin: “Ich hatte gehofft, es hätte mit den Anschlägen in diesem Jahr aufgehört.“
„Es konnte ja niemand ahnen. Nicht so kurz vor Weihnachten“, erwiderte er.
„Vielleicht wurde man zu unvorsichtig“, überlegte ich. „Ich dachte, wir wären auf sowas vorbereitet gewesen…“
„Welchen Unterschied hätte es gemacht? Wenn es ein bewusster Terroranschlag war, wäre dem Täter jedes Mittel recht. Ich wünschte mir aber, dass es nie soweit kommen musste.“
„Ja, was können wir schon tun? Dieses Jahr ist das reinste Chaos“, fügte ich halbherzig hinzu. Mein Gesprächspartner zuckte bei dieser Anmerkung zusammen, als hätte ich ihn gerade beleidigt.
„Ich kann auch nichts dafür“, sagte er plötzlich in einem gereizten Ton. „Es ist schon schlimm genug, was in den USA passiert“, er faltete die Zeitung zusammen und ich erblickte einen weiteren Artikel: ‚Wahlmänner wählen Donald Trump zum Präsidenten‘.
„Er ist also offiziell der Präsident?“, fragte ich mit einem anschließenden Seufzen.
„Nicht meine Absicht“, kommentierte er trocken. „Wegen ihm wurde 2016 überhaupt als schlimmstes Jahr betitelt. Was habe ich denn falsch gemacht?“
Ich war von seiner Frage verwirrt. Warum sollte er etwas falsch gemacht haben?
„Was? Sie tragen doch keine Schuld daran. Warum sollten Sie das denken?“, wollte ich deshalb von ihm wissen.
Er lachte kurz, als hätte ich einen schlechten Witz erzählt. „Wir können uns ruhig duzen. Ich glaube, ich sollte ehrlich zu dir sein. Tut mir leid.“
„Wie meinen Sie – äh – wie meinst du das?“
„Ich weiß es klingt unglaublich, aber was war in diesem Jahr bisher nicht unglaublich? Also… ich bin 2016.“
Das war eine merkwürdige Aussage. Meine Gedanken versuchten einen Zusammenhang zu finden. Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Aber alles, was ich herausbringen konnte, war: „Hä?“
„Du verstehst es nicht? Naja, es gibt keinen Grund, warum du mir glauben solltest. Ich wollte es nur einmal erwähnt haben.“
Seine Antwort half nicht weiter.
„Wie soll das gehen? 2016 ist eine Jahreszahl, keine Personifikation“, stellte ich das offensichtlichste fest. Was war es, an das ich denken musste? Mentale Störung? War er so gestresst von allem, dass er diese Identität auf sich selbst projizierte?
Er schüttelte leicht den Kopf. „Mag sein, dein Glaube an das Übernatürliche ist geschwächelt. Das hat jedoch nichts mit Gott oder Spiritualität zu tun. Sieh es als Fehler im Universum, dass ich existieren muss“, seine eigenen Worte brachten ihn zum Schmunzeln. „Und dabei gibt es wohl genug Leute, die sich fehl am Platz fühlen, ohne meine Bürde zu tragen.“
Je mehr er darüber sprach, umso mehr wollte ich ihm Glauben schenken. Aber meine Skepsis hielt mich von diesem Leichtsinn ab.
„Vielleicht hast du auch nie an meiner Existenz gezweifelt“, sprach er weiterhin. „Jeder sucht etwas… oder jemanden, um ihn die Schuld in deren Schuhe zu schieben. Einem Jahr die Schuld für zu geben klingt doch ein wenig abstrakt, oder?“
Jetzt – wo er es erwähnte – schien es lächerlich, ein Jahr dafür zu verfluchen.
„Mir kann es egal sein, ob du nun wirklich 2016 repräsentierst oder nicht…“, sagte ich nach einer Weile. „Es bleibt ein Fakt, dass 2016 nicht gerade das beste Jahr war. Wir hatten Anschläge, die US-Wahl, Brexit und zahlreiche Berühmtheiten, die von uns gegangen sind.“
„Du musst mir nicht Dinge aufzählen, von denen ich schon längst weiß“, antwortete er kühl, aber sein Ausdruck wirkte betrübt. „Vor allem solltest du mir nicht die schlechten Dinge nennen. Ich höre das oft genug. Du musst bestimmt auch an die Ereignisse denken, die dich persönlich betroffen haben. Es hilft nicht viel, aber… mein Beileid.“
„Ist schon gut“, beruhigte ich ihn. „Die Zeit bringt solche Verluste eben mit sich. Vielleicht braucht man solche Erfahrungen, um das Leben wertschätzen zu können.“ Es war ein schlaff-philosophisch-formulierter Satz, aber im Grunde steckte viel Wahrheit darin.
„Sag mir“, setzte er erneut an. „Sag mir, dass du in diesem Jahr auch schöne Erlebnisse hattest.“ Seine Stimme hatte einen nahezu flehenden Ton, als würde eine Verneinung seine Stimmung zutiefst senken.
„Natürlich gab es schöne Erlebnisse. Ich habe neue Freunde kennengelernt, ich wüsste jetzt gar nicht, was ich ohne sie machen würde. Es gibt so viele neue Dinge, die ich lieben gelernt habe, dass es mich selbst schon überrascht. Da sind viele Orte, an die ich mich stets erinnern werde. Es gab Tage, die für mich unvergesslich schön waren. Nicht alles an diesem Jahr war schlecht“, fing ich an über diese Erinnerungen nachzudenken. Es erfüllte mich schon an Freude, zu wissen, was mir dieses Jahr eigentlich gebracht hatte.
„Es freut mich, das zu hören. Mal nicht nur an die schlechten Seiten zu denken, sich einfach mal Gedanken um das Gute zu machen. Und…“, er überlegte kurz. „Du feierst auch Weihnachten?“
„Ja, richtig“, antwortete ich. „Mal wieder eng mit der Familie an einem Tisch sitzen. Auch wenn ich bezweifel, dass ein politisches Thema ausgeschlossen ist.“
„Kann man nicht vermeiden“, erwiderte er. „Hast du schon alle Geschenke besorgt?“
„Nun… ich weiß es gar nicht. Ich selbst habe ja keinen Wunsch geäußert. Was soll ich den anderen im Gegenzug schenken…“
Er sah mich schweigend an, als erwartete er, dass ich weiterreden würde.
„Also…“, begann ich. „Ich weiß nicht, was ich einer Freundin schenken soll… Dabei klingt es so bescheuert. Wir sind schon so gut befreundet, dass ich weiß, was ihr gefallen würde, aber… ich tu mich gerade so schwer deswegen. Mir bleibt nicht einmal mehr so viel Zeit…“
„Sie wird dir auch etwas schenken? Willst du etwa versuchen für den Preis aufzukommen, ein Geschenk finden, was denselben Wert haben könnte?“, hakte er nach.
Ertappt. Ich nickte als einfache Antwort.
„Würdest du sagen, sie ist glücklich, mit dir befreundet zu sein?“
„J-ja?“
„Weißt du, was für mich bisher das schönste Geschenk ist?“, er wartete gar nicht auf meine Antwort. „Ich führe in diesem Moment das wohl angenehmste Gespräch in meinem ganzen Leben. Vorher hatte man mich kaum beachtet. Aber jetzt wird mir ganz warm ums Herz. Ich bin mir sicher, deine Freundin ist dir sehr dankbar. Dankbar dafür, dass du an ihrer Seite bist. Ihr zuhören kannst. Ihr beistehst, auch wenn euch gerade schwere Zeiten treffen. Deine Freundschaft ist ein Geschenk, das wertvoller ist, als alles andere. Du bist ihr doch auch dankbar, oder? Warum teilst du es ihr nicht einfach mit?“
Sein Vorschlag brachte ein Lächeln auf meine Lippen.
„Danke“, antwortete ich. „Das ist eine wunderschöne Idee.“
Meine Tasse war inzwischen ausgetrunken. Der Strudel war auch schon verputzt. Ich fühlte, wie das Gespräch sich dem Ende neigen würde.
„Eine Sache noch“, sagte ich. „Was passiert, wenn dieses Jahr zu Ende geht? Was geschieht dann mit dir?“
„Ich werde verschwinden. Ohne eine Spur zu hinterlassen, werde ich euch nicht mehr zur Last fallen. Und ihr werdet vergessen, dass ich jemals existiert habe.“
Dass er diese Antwort so gleichgültig aufsagen konnte, verwunderte mich.
„Wie kannst du sowas sagen? Meinst du wirklich, man könnte dich so schnell vergessen? Nur weil du stirbst, heißt es nicht, dass du aufhörst zu existieren. Solange man an dieses Jahr zurückdenkt, lebst du in den Gedanken anderer weiter. Jede kleinste Erinnerung aus diesem Jahr, und wenn es auch die schlechten Erinnerungen sein müssen… Vielleicht werden sich nicht alle dankbar zeigen, aber du solltest spätestens jetzt wissen, dass du denkwürdig bist.“
„Du hast ja recht. Auf eine gewisse Weise würde ich dann noch existieren. Ich sollte mich wohl auch bei dir bedanken. Das war eine sehr nette Unterhaltung“, wir standen beide zur selben Zeit auf und er streckte mir seine rechte Hand entgegen. Ich schüttelte sie.
„Man sagt sich sonst, dass man sich zweimal im Leben sieht, aber ich nehme an, dies war unsere einzige und letzte Begegnung?“
„Ich befürchte ja“, antwortete er.
Wir verließen noch gemeinsam das Café. Es ist mittlerweile recht spät geworden.
„Wenn es so ist, dann… danke nochmal. Du warst ein sehr bedeutsames Jahr für mich.“
„Ich wünsche dir noch ein frohes Rest-Jahr. Und auch alles Gute in der Zukunft.“
Mit diesen Worten verabschiedete er sich von mir.