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Damals, am Fenster
Melchior blickte aus dem Fenster. Noch zwei Stationen, dann muss ich aussteigen. Er blätterte weiter im neuen Buch «Je reviens de chercher» von Musso. Dem sechsten Kapitel war ein Zitat von Marcel Proust vorangestellt: «Schicksal ist, was uns passiert, wenn wir es nicht erwarten.» Einen Moment sinnierte er darüber, bis heftiges Rucken der Strassenbahn ihn veranlasste, sich festzuhalten. Unwillkürlich sah er die Frau ihm gegenüber an, die auch aufblickte. Sie senkte ein wenig die Tageszeitung, die ihm zugewandte Seite enthielt Todesanzeigen. Einander anlächelnd, verständigten sie sich ohne Worte, dass solche Fahrten nicht immer angenehm waren.
Sein Blick fiel auf den Namen einer Todesanzeige, «Cleofa Malatesta», er kam ihm vertraut vor, doch konnte er ihn nicht zuordnen. … Dann kam die Erkenntnis. Es ist der amtliche Name von Cléophé! In seiner Erinnerung zeichnete sich ein anmutiges Bild von ihr ab. Ich dachte, sie sei nach Italien zurückgekehrt, dabei lebte sie wahrscheinlich all die Jahre hier in der Stadt. Er überflog die zweisprachige Anzeige, «… nach kurzer schwerer Krankheit dahingeschieden ...» Das Begräbnis ist in drei Tagen. Er überlegte. Achtundzwanzig Jahre ist es her ...
Die Frau ihm gegenüber war aufmerksam geworden, da er sich zum Lesen vorneigte. Irritiert kehrte sie die Zeitung um und sah die Todesanzeigen. «Möchten Sie die Seite haben?», fragte sie freundlich. Er bat um Entschuldigung, «eine alte Bekannte» erklärte er und machte von dem Angebot dankbar Gebrauch. Seit etlichen Jahren hatte er nie mehr an Cléophé gedacht. Eben verliess die Strassenbahn die Haltestelle, an der er eigentlich aussteigen wollte.
Es war nur Nieselregen, dafür von Beständigkeit. Die Trauergäste umstanden mit aufgespannten Schirmen das offene Grab, vor dem ein katholischer Geistlicher das Zeremoniell durchführte.
Als ob der Himmel weint, ging Melchior durch den Kopf. Ach Blödsinn, eine sentimentale Regung. Er war etliche Grabreihen entfernt stehen geblieben, da er sich nicht dazugehörig fühlte. Seine Gedanken schweiften ab, sich erinnernd, damals, am Fenster, als er sie erblickte.
Nur zufällig schaute ich aus dem Wohnzimmerfenster, vor dem ein Sofa stand. Ich langweilte mich, es war Mittwochnachmittag und damit schulfrei. Am Haus gegenüber, auf gleicher Höhe, war das Giebeldach. Darunter, in der obersten Wohnetage, sass eine Frau mit einer Näharbeit beschäftigt auf einem Fenstersims. Sie genoss, wie ich vermutete, die wärmenden Sonnenstrahlen des frühen Nachmittags, einzig mit Unterrock bekleidet. In die Arbeit vertieft, führte sie die Nadel mit dem Faden. Nur sporadisch schaute sie auf die Strasse, wenn sich dort etwas bewegte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich eine dürftig bekleidete Frau erblickte. Lucia etwa, eine frühere Nachbarin, für die ich ab und zu Kommissionen erledigte, lief im Sommer oft nur in Unterwäsche in ihrer Wohnung herum. Für sie war ich noch ein Kind, vor dem sie sich unbefangen zeigen konnte. Ein Hauch von Scham erzeugte es mir schon, mehr regte sich da aber noch nicht. Doch jetzt war es anders. Gefühle erwachten in mir, die ich bisher nie so wahrnahm.
Obwohl es unsinnig war, mehr erkennen konnte ich deshalb nicht, öffnete ich das Fenster und kniete auf dem Sofa. Durch die Bewegung wurde die Frau auf mich aufmerksam, sie schaute direkt zu mir hoch. Einen Moment schreckte ich zurück, schamvoll ertappt, dann wagte ich es, mich wieder zu zeigen. Herausgelehnt sah ich umher. In dieser Seitenstrasse war nichts los, nur vereinzelt mal Fussgänger oder Autos, die daherkamen. Vorsichtig wandte ich mein Augenmerk wieder der Frau zu, streifte sie erst wie unabsichtlich im Blickwinkel, um dann wieder fixiert hinzusehen. Ich erschrak, als sie plötzlich den Kopf hob und mich ansah. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie hatte mich angelächelt! Ich musste errötet sein, der Gefühlswallung nach, die ich verspürte. Die Empfindung, welche ihre Reaktion bei mir auslöste, wechselte in eine lustvolle Erregung. Etwas in dieser Form vollkommen Neues, dem ich mich nicht entziehen konnte. Hin und wieder sah sie zu mir hoch, als ob sie sich überzeugte, dass mein anhaltendes Interesse wirklich ihr galt.
Ein Impuls erfasste mich, ihr möglichst gleich zu sein. Mit entkleidetem Oberkörper stellte ich mich ans Fenster. Sie musste es durchaus bemerkt haben, liess es sich aber nicht anmerken. Wie gleichgültig hob sie hin und wieder den Kopf, schaute zu mir hoch, um sich dann wieder in ihre Arbeit zu vertiefen.
Es musste etliche Zeit vergangen sein, als sie ihre Arbeit weglegte und sich erhob. Hinausgelehnt zog sie die Fensterläden beidseits zu. Enttäuschung stieg in mir auf. … Doch da, die Läden klappten wieder auf, nicht ganz, einen breiten Spalt blieben sie offen. Es erlaubte so nur von meinem Fenster her noch Einblick, begünstigt zudem durch die Sonnenstrahlung, die einen Streifen Helligkeit in den Raum warf. Die Frau entzog sich jedoch meiner Sicht.
Meine Gefühle kehrten sich in Missmut, bereits glaubte ich, es sei vorbei, als sie wieder in meinem Blickfeld erschien. Etwas vom Fenster entfernt, mir trotzdem gut erkennbar. Gänzlich unbekleidet wusch sie sich mit einem Lappen in der Hand erst unter den Achseln. Ihre Brüste bewegten sich dabei. Noch nie hatte ich eine Frau so wahrgenommen, nicht einfach nur nackte Haut, sondern mit einem starken Reiz verbunden. Ihrer Scham, die sich als schwarzes Dreieck zeigte, widmete sie sich ausführlich. Während des ganzen Vorgangs hatte sie nie direkt zu mir hochgesehen, doch wusste ich, sie zeigte sich so einzig für mich. Abrupt, wie sie aufgetreten war, entzog sie sich mir wieder. Nach einiger Zeit trat sie bekleidet ans Fenster, die Läden vollständig schliessend. Wenige Minuten später verliess sie das Haus, ging die Strasse entlang, ohne zu mir hochzusehen. Mein Herzklopfen dauerte noch an, als ich ihr nachblickte, bis sie um die Hausecke in die Querstrasse verschwand.
In den nächsten Tagen blieb ihr Fenster stets geschlossen. In der schulfreien Zeit war es mir nicht immer möglich hinüberzuschauen, da meine Tante, bei der ich wohnte, öfters zugegen war und ungestört im Wohnzimmer arbeiten wollte. Auch wenn ich von der Strasse hochblickte, regte sich an ihrem Fenster nichts, noch begegnete sie mir im Quartier. Die verstreichenden Tage versetzten mich in eine manische Unruhe.
Zwei Wochen waren vergangen, meine Gefühlsverwirrung klang nicht ab, vielmehr fantasierte ich, was geschehen sein könnte. Vielleicht war sie krank, lag im Bett und niemand sah nach ihr? Oder war sie immer bei der Arbeit? Doch auch abends war kein Lebenszeichen am Fenster erkennbar. Ich musste wissen, warum sie sich mir nicht mehr zeigte. Bereute sie es, sich auf unser Spiel eingelassen zu haben? War ich ihr gleichgültig?
Ich hatte Angst davor ihr direkt zu begegnen, aber alles war besser als diese Ungewissheit. So beschloss ich, sie aufzusuchen. Leise schlich ich das Treppenhaus hinauf, unter Befürchtung, einem andern Mieter zu begegnen, der mich fragen könnte, was ich hier suchte. Kinder und Jugendliche wohnten keine in diesem Haus.
In der obersten Etage waren keine Wohnungen, sondern nur Zimmer, wie ich anhand der Türen erkennen musste. Die Zweite von links muss es sein, der Anordnung des Fensters nach. Am Türschild las ich den Namen: «Cleofa Malatesta.» Auf mein Klopfen hin rührte sich nichts.
Die Zeit schien mir endlos, die ich schon auf dem Treppenabsatz sass. Vielleicht war sie verreist? Einmal hörte ich wie eine Türe geöffnet und geschlossen wurde. Es gab hier nichts, wo ich mich verstecken konnte. Erleichtert nahm ich wahr, die Schritte gingen abwärts. Jemand verliess das Haus. Ich wollte eben aufstehen und gehen, als ich hörte, dass jemand kam. Ich zählte die Etagen mit, die sich die Schritte näherten. Sie erreichten das untere Stockwerk, mit angehaltenem Atem horchte ich. Die Schritte nahmen die nächsten Stufen. Ich vergrub den Kopf in meinen Händen und schloss die Augen. Kindisch, allerdings hatte mich mein Mut plötzlich verlassen, eigentlich war ich mehr einem Zwang gefolgt. Die Schritte verharrten auf dem Absatz unter mir, ein Moment völlige Stille. Da, sie setzten sich wieder in Bewegung, ich spürte einen Luftzug, als sie an mir vorbeiging. Alsbald wurde eine Tür aufgeschlossen, dann zuklappend. War sie es gewesen, oder jemand anders? Es war dumm von mir herzukommen, ich gehe besser wieder.
Da hörte ich, wie sich hinter mir eine Tür öffnet. «Komm herein.» Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme vernahm, sie war mir fremd. Ich erhob mich, ihre Tür stand halb offen, die Frau war nicht zu sehen.
«Mach zu», sagte sie knapp, als ich eintrat. Sie stand mitten im Raum. Ein bescheidenes Zimmer, sehr klein, wenn ich die Fläche mit der Wohnung meiner Tante verglich. «Was willst du?»
Ich zuckte die Achseln, «Besuchen», brachte ich einzig hervor. Die Situation war mir peinlich und meine Unsicherheit wurde noch verstärkt. Sie war eine reife Frau. Diese Gewissheit hemmte mich, sie mir unbekleidet vorzustellen. Sie seufzte und ein Moment herrschte Stille.
«Setz dich», ihre Stimme klang nun etwas weicher.
Ich sah mich um. Auf den beiden Stühlen hatte sie Gepäck abgestellt, mit einem Schulterzucken trat ich zum Bett und setzte mich auf die Kante. Sie setzte sich mit Abstand neben mich.
«Ich hoffte, du würdest verstehen, dass dies nicht geht. … Miseria ladra, ich habe auch Gefühle. Was denkst du dir eigentlich, wie es mir dabei ergeht?»
Mit der Tirade hatte sich ihr italienischer Akzent verstärkt, der sonst nur schwach durchklang. Ich musste wie ein begossener Pudel dagesessen haben, denn sie strich mir, entgegen ihren Worten, sanft über die Haare.
«Wie heisst du?»
«Melchior.»
«Meine Güte, ein unmöglicher Name», sie lachte dazu. «Ich werde dich Angelo nennen. Du hast so wunderbar lockige Haare wie ein Engel. Ich bin Cléophé. Eigentlich ist mein Name Cleofa, aber so klingt es schöner.»
«Cléophé ist ein wunderschöner Name», getraute ich mich zu sagen, was sie zu einem Lächeln animierte. «Angelo und Cléophé», doppelte ich heiter nach.
«Du hast Charme, weisst du das?» Dabei spielte sie weiter in meinen Haaren, die ich schon länger nicht mehr schneiden liess. «Hattest du schon mal was mit einer Frau? … Ich meine so, wie es zwischen uns begonnen hatte?»
Ich überlegte, was hier wohl die richtige Antwort wäre. «Nein, … das heisst nicht direkt. Lucia, eine frühere Nachbarin, für die ich ab und zu etwas erledigte, sah ich oft nur mit dem Nötigsten bekleidet. Oder meine Tante, bei der ich wohne, sah ich einmal unbekleidet, als sie aus dem Bad gesprungen kam, da das Telefon klingelte.»
«Aber berührt hast du Lucia nie? Ich meine zärtlich angefasst.»
«Nein.»
«Hast du denn daran gedacht, wenn du sie so aufreizend gesehen hast?»
Erst wollte ich beschämt abwehren, gestand es dann Mut fassend abgeschwächt ein. «Ich kannte sie schon lange, sodass ihr Auftreten mir vertraut war und ich nicht darauf achtete. … Es gab schon Momente, in denen ich es mir vorstellte. So wenn sie dicht an mich herankam und mir einen Kuss gab, um sich für etwas zu bedanken. Aber es war anders als mit Ihnen.»
«Mit Dir», korrigierte sie mich.
«Magst du mich denn auch?», ich hatte allen Mut zusammengenommen, diese Frage zu stellen.
«Natürlich mag ich dich, carissimo Angelo.» Sie legte ihren Arm um mich und drückte mich an sich. «Aber es ist verrückt.»
Diesen Moment, den ich mir vorher nicht wirklich vorstellen konnte, brach mit einem Schwall an zärtlichen Gefühlen über mich herein. Zaghaft umarmte ich sie, ihren Körper sinnlich wahrnehmend.
Ihre Küsse, mit denen sie mein Gesicht bedeckte, befremdeten mich erst. Ich hatte es als Kind nicht gemocht, wenn Erwachsene meinten, sie müssten mich bei allen Gelegenheiten mit Küssen eindecken, nur weil sie mich herzig fanden. Doch jetzt erzeugte es mir eine andere Empfindung. Alsbald suchten ihre Lippen meinen Mund, mein erster richtiger Kuss, lang anhaltend. Ihre Hände waren dabei in Bewegung geblieben, hatten mein Hemd geöffnet und liebkosten meinen Körper. Da ich nicht so recht wusste, was zu tun war, ergriff sie meine Hand und führte sie in ihre Bluse. Ich spürte ihre Brust, die Wölbung, den Nippel der fest wurde, was mir ein lustvolles Gefühl gab. Mit der andern Hand knöpfte ich ihre Bluse auf, und streifte sie samt den Trägern ab.
Die Empfindung, als sie mir in die Hose griff, war mir im Moment unbeschreiblich. Ihr Spiel, das sie trieb, drohte meine Sinne explodieren zu lassen, sie schien es zu ahnen und hörte rechtzeitig damit auf.
«Komm Angelo, zieh mich ganz aus. Liebkose meinen ganzen Körper.» Natürlich war ich ungeschickt, doch sie verstand es, mich sachte anzuleiten und mir auf die Sprünge zu helfen. Es war ein ausgiebiges Liebesspiel, bis sie mich erstmals einführte. Mit verschiedenen Stellungen brachte mich ihre fordernde Begierde in nie geahnte Dimensionen. Ihre Schreie gedämpft, erschlossen mir luststeigernd ein neues Universum, sie liess mich spüren, wenn wir gemeinsam Höhenpunkte erreichten. Ab und zu lagen wir einfach umschlungen da, nur die Hände zärtlich über die Körper streichelnd. So intensiv hatte ich mir die körperliche Liebe nicht vorgestellt, und es war wohl Erschöpfung, die mich einschlafen liess. Ich erwachte, da sie mich zärtlich küsste.
«Es ist Zeit Angelo, du musst gehen.»
«Schon?», fragte ich. Das Verlangen war mir wieder stark gegenwärtig und übertrug sich auf sie, so gaben wir uns noch einmal einander hin.
«Jetzt ist aber höchste Zeit, ich muss zur Arbeit.»
Während wir uns anzogen, schien mir Cléophé plötzlich ernster. Ich hatte sie beobachtet, wollte an ihren Gefühlen teilhaben, weshalb mir ihre Veränderung auffiel. «Was ist?», fragte ich. «Habe ich etwas falsch gemacht?»
Cléophé lachte, aber es klang ernst. «Nein Angelo, du warst wundervoll. Doch, wie ich zu Beginn sagte, es ist unmöglich. Wir hatten heute ein paar Traumstunden zusammen, aber es darf nie wieder sein.»
«Warum? Du warst doch auch glücklich dabei?»
«Ja, unsagbar. Trotzdem, du weisst genau, warum es nicht geht.»
«Aber wenn es niemand weiss? Wir uns nur so sehen wie heute?»
«Nein, Angelo», diesmal klang ihre Stimme hart und bestimmt. «Bewahre uns so in Erinnerung, wie wir es miteinander verspürten, alles andere würde es kaputtmachen. Du wirst später einmal eine andere Frau kennenlernen, eine die in jeder Beziehung zu dir passen wird. Aber vergiss mich nie. Ich werde dich auch in meinem Herzen tragen, für immer.»
Mir war klar, sie meinte es ernst und würde um keinen Preis davon abweichen. Ich wusste, dass sie recht hat, aber trotzdem musste ich darum kämpfen, dass mir die Tränen nicht in die Augen traten. Ich war jetzt schliesslich ein Mann.
Zum Abschied küssten wir uns noch einmal. Ich spürte ihren Körper an den meinen gepresst, zu gern hätte ich sie nochmals zum Bett geschoben. Aber sie löste sich von mir. Sie wollte nicht mit mir gemeinsam das Haus verlassen, es sollte uns niemand zusammen sehen.
So sehr ich auch darauf achtete, sie begegnete mir nie mehr. Als ich mich nach Wochen nicht mehr beherrschen konnte, da die Sehnsucht nach ihrem Körper mich quälte, schlich ich zu ihrer Zimmertür. Dort war jedoch ein anderer Name angebracht. Irgendwann musste sie heimlich ausgezogen sein, ohne ein Zeichen oder Worte des Abschieds zu hinterlassen.
All dies war ihm jetzt gegenwärtig, Cléophé vor Augen, so wie sie damals war.
In die Trauergemeinde kam Bewegung, die Leute entfernten sich. Melchior wartete, bis alle ausser Sichtweite waren, und schritt dann zu dem frischen Grab. Friedhofsangestellte begannen, Erde einzufüllen. Knapp konnte er noch einen Blick auf den Sarg erhaschen und eine weisse Rose hinabwerfen, dann stand er drei Meter abseits davon. Sie ist mir fremd geworden, eine schöne Jugenderinnerung, aber nicht mehr.
Er wollte gehen, es machte keinen Sinn hier weiter zu verweilen, und drehte sich um. Unmittelbar vor ihm stand eine Frau, die ihn ungeniert mit offensichtlicher Neugierde betrachtete.
«Sind Sie Herr Kurz?», sprach sie ihn an.
«Ja, Melchior Kurz.»
Die junge Frau, sie mochte etwa Mitte zwanzig sein, wirkte irritiert. «Hier steht Angelo Kurz.» Sie hatte ihrer Handtasche ein Couvert entnommen, auf dem ein handgeschriebener Namenszug stand.
«So nannte mich Frau Malatesta, sie fand es zutreffender als Melchior.» Ein erinnerndes Lächeln unterstrich seine Worte.
«Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Angela Malatesta, die Tochter der Verstorbenen.»
«Oh, herzliches Beileid.» Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie musste erst das Couvert in die andere Hand nehmen, mit dem sie auch den Schirm hielt, dann kam es zum Händedruck.
«Danke. … Diesen Brief hat mir meine Mutter kurz vor ihrem Tod für Sie gegeben. Sie war überzeugt, Sie würden zu ihrer Beerdigung erscheinen.» Sie überreichte ihm das Couvert, dessen Erwähnung ihn schon verwundert hatte. Wie konnte Cléophé ahnen, dass ich zu ihrem Begräbnis komme? Es war ja nur Zufall, dass ich die Todesanzeige bemerkte.
«Eigentlich …», sie zögerte einen Moment, «hoffte ich, einen etwas älteren Herrn hier anzutreffen.»
Er sah sie verunsichert an, da er nicht wusste, wie diese Bemerkung zu verstehen war. Weiss sie von der Affäre zwischen ihrer Mutter und mir?
«Als Mama mir den Brief für sie gab, wirkte sie mir einen Augenblick verträumt. Sie wollte mir aber nicht verraten, in welcher Beziehung sie zu Ihnen steht.»
Nun war es an Melchior, irritiert zu sein. Wie soll ich ihr das erklären? Die Wahrheit? Nein, es würde auch das Ansehen von Cléophé erschüttern. «Wir waren damals Nachbarn und hatten uns gut verstanden. Mehr eigentlich nicht.»
«Schade, ich dachte, ich würde heute vielleicht meinen Vater kennenlernen. Mama sagte mir nie, wer er ist, obwohl wir uns bestens verstanden und sonst keine Geheimnisse voreinander hatten. In dieser Frage blieb sie unbeugsam, als wäre es ihr ein Tabu, das sie nun mit ins Grab nahm. Einmal dachte ich auch, es sei ihr Gewalt widerfahren, dies entsprach allerdings nicht ihrer Reaktion. Vielmehr gab es mir den Eindruck, es sei eine heftige Liebesbeziehung gewesen. Vielleicht mit einem verheirateten Mann?» Ein schmerzliches Lächeln, das sie dennoch charmant wirken liess, umspielte ihre Worte.
«Es tut mir leid, da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Sie war damals vor …», er tat so, als müsste er nachdenken, «achtundzwanzig Jahren weggezogen.»
«Ich bin siebenundzwanzig. Also musste es bald darauf gewesen sein. Hatte sie damals einen Freund?»
«Ich weiss es nicht, ich hatte sie seit dem Wegzug nie mehr gesehen. Erst als ich die Todesanzeige las, fiel mir ihr Name wieder ein.»
«Können wir uns vielleicht einmal treffen. Ich würde gern mehr über meine Mutter erfahren, wie sie damals war.»
Melchior zögerte. Gerne hätte er einfach gesagt, dass er sie eigentlich nicht näher kannte. Doch wie erkläre ich ihr dann mein Erscheinen hier … und da ist auch noch ihr Brief. «Ja, können wir», bemerkte er und sie tauschten ihre Telefonnummer aus. Mit einem etwas längeren Händedruck verabschiedeten sie sich.
Auf dem Heimweg kreisten seine Gedanken um Cléophé und ihre Tochter. Vielleicht hatte Cléophé damals doch einen Freund? Ihr Wegzug hätte dann auch einen anderen Sinn gehabt. Er schmunzelte bei dem Gedanken, dass sie ihre Tochter Angela taufen liess. Die Engel hatten es ihr damals wohl angetan. … Angela passt gut zu ihr, sie hat schön lockiges Haar.
Oder … Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt. Angelo, Angela, nein das ist absurd. Meine Fantasie der Erinnerung spielt mir einen Streich.
Er betrachtete das lindengrüne Couvert, von dem ein leichter Duft ausging. An die Nase haltend roch er das intensive Parfüm. Es riecht frisch und feminin. An den Duft ihrer Haut kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es war eine bestimmte Note. Vielleicht ist es ja diese? Ihre Handschrift ist fein und schwungvoll, direkt liebevoll, wie sie das Angelo anführte.
«Mein geliebter Angelo, ich habe Dich nie vergessen. In diesen Tagen wurde mir die Erinnerung an Dich jedoch direkt beherrschend, da es für mich eine Zeit des Abschiednehmens ist. Ich mochte damals nicht Auf Wiedersehen sagen, Du bliebst mir dennoch für immer gegenwärtig, was ich so nicht ahnte.
Ich möchte nur, dass Du dies weisst. Vielleicht erreicht Dich dieser Brief nie. Aber für mich ist es wichtig, dass ich diese Worte noch einmal an Dich richten konnte, es aussprechen durfte.
In liebevollen Gedanken an dich, Cléophé.»
Sie hat mich nie vergessen. Merkwürdig, und ich dachte, ich sei für sie nur ein Intermezzo gewesen, das kurze Spiel einer reifen Frau mit einem Lustknaben. Da muss ich mich getäuscht haben, ihr bedeutete es genauso viel wie mir damals.
Seine Gedanken überschlugen sich. Nein, dies darf nicht sein … Dann wäre Angela ja meine Tochter.