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Dagur
Das Publikum wusste, dass der Kampf bereits entschieden war, als Dagur zu den Klängen von Krummavísur in den Ring sprang. Er trommelte sich schreiend auf die Brust, zeigte dann auf seinen Gegner und führte die flache Hand an den Hals, an dem er sie langsam nickend vorbeizog. Die Leere seiner Augen wich einem Funkeln, das die Brauen anhob und die Pupillen schwärzte. Über die Hemmungslosigkeit, die ihm nun auch ins Gesicht geschrieben stand, hätte sich Dagur vor einigen Monaten noch selbst erschrocken. Der Kämpfer in der anderen Ecke des Ringes versuchte, seine Angst zu verbergen, verriet sich aber, als sie sich vor Beginn der ersten Runde gegenüber standen, da er Dagurs Blick nicht standhalten konnte.
Der Richter gab den Ring frei und Dagur hob gar nicht erst die Hände, um sein Gesicht zu schützen, sondern forderte Schläge seines Gegners ein. Statt auszuweichen, ließ er sich dreimal treffen. Fragend gestikulierte er, ob das schon alles gewesen wäre. Der irritierte Gegner holte von Neuem aus, doch Dagur ließ ihn ins Leere schlagen, indem er einen Schritt zurücksetzte und dann zu einem Tritt ausholte, der ihn an der Schläfe traf. Ein präziser Faustschlag an das Kinn besorgte den Rest.
Bei der Siegerehrung zeigte er keine Emotionen.
Dagur hasste den Trubel um seine Person, hasste, was er tat, und hasste sich selbst. Seit diesem einen Tag, an dem er versagt und Birkir verloren hatte. Dieser verfluchte Abend in den Gassen Keflaviks. Er konnte bis heute nicht verstehen, warum sie sich gerade für dieses Hotel entschieden hatten. Der von zwielichtigen Gestalten bewachte Betonklotz mit der brüchigen Fassade und dem ranzigen Eingangsflur hatte sie doch förmlich dazu gezwungen, anderswo unterzukommen.
Dagur machte bis heute das Casino dafür verantwortlich und nicht die Spielsucht Birkirs.
Jener verhängnisvollen Nacht war es geschuldet, dass Dagur in den Ring stieg, wann immer sich ein Anlass bot. Die Kämpfe fanden nicht nur in Kreisen, Vierecken oder Oktagonen statt, sondern auch auf der Straße. Mit einer erschreckenden Willkür, die Dagur längst nicht mehr beeinflussen konnte. Die Wut ließ ihm keine andere Wahl, als blindlings Streitereien zu provozieren, die ausnahmslos in Gewaltausbrüchen gipfelten. Er sah sich psychischen Qualen ausgesetzt, die auf die Leiber anderer projiziert werden mussten. Ihn, den einstigen Studenten der Philosophie, trieb ein unkontrollierbarer Zorn an, unter dem er selbst am meisten zu leiden hatte. Er verachtete sein Selbstmitleid und war stets um grausamere Bestrafungen bemüht.
Die halbstarken Kriminellen, die seinen Freund auf dem Gewissen hatten, sollten all das zu spüren bekommen, was er sich tagtäglich in seinen kühnsten Rachegelüsten zurecht legte und bisher nur verhalten auslebte. Beim Aufstehen dachte er an Birkir, dann an dessen Mörder und gleichwohl auch an sich, weil er gewissermaßen zu ihnen gehörte als der Feigling, der er gewesen war und nie mehr sein wollte. Er, der sich einst dem Grübeln und kritischem Hinterfragen verpflichtet hatte, schwor dem Stift ab, um seiner Trauer fortan über Fäuste, Ellenbogen, Knie und Füße Ausdruck zu verleihen. Sein Körper war eine geladene Waffe und der ausgeschaltete Kopf betätigte den Abzug.
Dagur hatte nichts zu feiern und folglich nichts in Nachtclubs verloren. Dennoch traf man ihn dort regelmäßig an. In Begleitung von Männern, die er vor Birkirs Tod noch gemieden hätte, trank er bis zur Besinnungslosigkeit. Niemand wagte es, ihn herauszufordern, und doch fand er meistens einen armen Teufel, den er für's Angaffen oder etwaige Vergehen bestrafen konnte.
Weil zu Hause nichts und niemand auf ihn wartete, zögerte er den Heimweg stets hinaus. Der Zigarettenqualm verewigte sich fortwährend an den Wänden und ließ darauf schließen, wo einst die Bilder hingen. Dagur hatte die Spuren seines früheren Lebens nahezu gänzlich verwischt. Die Bücher waren sinnlos geworden, da er nicht mehr nach Antworten suchte. Seine einstige Leidenschaft, das Schreiben, büßte an Reiz ein, weil er es leid war, Charaktere zu erschaffen, deren Existenzen zum Scheitern verurteilt waren. Er wollte ihnen das trostlose Dasein ersparen. Seinen eigenen Kampf brachte er nicht zu Papier, weil das eine gründliche Reflexion erfordert hätte, die Eulen nach Athen trug, da die Schuldfrage seiner Ansicht nach längst geklärt war und er nicht nach möglichen Schlupflöchern suchen wollte. Er konnte sich nicht verzeihen.
Außer einem Brief von Tjara besaß Dagur rein gar nichts, woran sein Herz hing. Nacht für Nacht ließ er den verschlossenen Umschlag durch seine Hände gleiten.
Eines Abends suchte er das Casino auf, um sich Birkir nahe zu fühlen. Nach etlichen Gläsern Brennivín war er der Überzeugung, für seinen Freund beim Blackjack gewinnen zu müssen. Er, dem es damals nicht gelungen war, verständlich zum Ausdruck zu bringen, warum er das Glücksspiel für den Teufel hielt, erinnerte sich, dass keine Miene verzogen werden durfte.
Dagur verlor alles, weil das Pokerface weder die Versagensangst noch seinen Selbsthass kaschieren konnte, und erinnerte sich an Birkirs letzten Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich hatte dieser schon um sein Schicksal gewusst, bevor die Kredithaie seinen Schädel gegen die Tischkante schlugen. Immer und immer wieder. Seine Fassungslosigkeit würde er nie vergessen können. Birkirs Augen, deren Ringe auf die nervös zuckenden Wangenknochen sanken und die Mundwinkel nach unten rissen, hingen wie ein Damoklesschwert über ihm, das fiel, weil er erneut versagt hatte. Birkirs Tod stand bereits auf seiner Fahne, nun hatte er auch noch leichtfertig die Ehre seines Freundes verspielt.
„Diese Schweine“, schrie er und warf einen Stuhl in Richtung der Automaten. Die Wachleute versuchten gar nicht erst, ihn festzuhalten. Dagur ging auf die beiden zu und brüllte, dass sie ihn stoppen sollten.
„Das ist eure verschissene Pflicht, ihr feigen Bastarde. Kommt und haltet, was die Uniform verspricht. Schützt die Gäste dieser Hölle. Wo wart ihr, als Birkir starb? Wo, verdammt nochmal?!“
Er spuckte auf den Boden, sprang auf den größeren Wachmann zu und verpasste ihm noch im Flug einen Hieb auf die Nase, die hörbar brach.
„Hilf deinem Kollegen!“, forderte Dagur, doch der kleinere Wachmann war ebenso perplex, wie er es damals gewesen war. Dagur erkannte sich in ihm wieder, was ihn nur noch wütender machte.
„Du sollst herkommen, du elender Nichtsnutz. Wenn du Birkir nicht hilfst, wird er sterben. Siehst du, wie ich seinen Kopf gegen die Tischkante schlage? Meinst du, er wird das noch lange durchhalten?“
„Sein Name ist nicht Birkir ...“
„Halt's Maul und unternimm etwas, oder willst du Schuld an seinem Tod sein? Er stirbt nur deinetwegen.“
Zwei Gäste eilten zur Hilfe, doch Dagur ließ das nicht gelten und bearbeitete beide mit seinen Beinen, ohne dabei aufzuhören, den Schädel des Wachmannes zu malträtieren. Immer und immer wieder.
„Hilf ihm“, brüllte er schluchzend, bis fünfzigtausend Volt seinen Körper durchströmten und er benommen zu Boden ging. Der andere Körper sackte leblos in sich zusammen und fiel auf Dagur.
Geliebter Dagur,
nie werde ich vergessen, wie du die Plane abgedeckt hast, unter der sich ein Herz aus Brotkrümeln verbarg. Entgegen deiner Befürchtungen kamen die Möwen sofort.
Ich erinnere mich daran, wie wir uns zum ersten Mal geliebt haben. In deinem Nest inmitten all der Regale. „Wofür brauche ich Rousseau und Thoreau? Was könnten sie mir zeigen, das ich nicht schon in dir gefunden hätte? Du bist die Natur, die niemals lügt, und ich baue meine Hütte in deinem Wald.“
Du hast mir eine Kurzgeschichtensammlung gewidmet und noch am gleichen Abend mit der Arbeit an einem neuen Werk begonnen. Alles, was du schreibst, sei entweder für oder über mich. So hart das Leben auch zu deinen Charakteren war, in deinen Zeilen klang stets die Überzeugung mit, dass unser Dasein nicht grundlos ist. Nur wer dem Leid den Kampf erklärte, konnte sich der Gnade deiner Feder sicher sein, und wer zum Selbstmitleid neigte, wurde über die eigene Vorstellungskraft hinaus bestraft. Du hast dem Leben eine grauenhafte Willkür zugeschrieben, hinter der ein Richter mit einem rigorosen Moralkodex stand.
Drum bitte ich dich, sei nicht zu streng zu dir.
Tjara